KAPITEL 28

 

»Oliver! Oliver!«

Langsam kam Stone zu sich und stemmte sich mühsam in eine sitzende Haltung hoch. Er hatte in voller Bekleidung auf dem Fußboden seines Friedhofsgärtnerhäuschens gelegen. Sein Haar war noch feucht.

»Oliver!« Jemand hämmerte gegen die Haustür. Stone rappelte sich taumelnd auf und öffnete. Mit belustigter Miene musterte Reuben ihn. »Was ist los? Hast du deine Schwäche für Tequila wiederentdeckt?« Doch auf den zweiten Blick gewahrte er, dass es Stone offenbar schlecht ging. »Oliver?«, fragte er besorgt. »Was ist denn?«

»Ich lebe noch. Das ist schon mal ganz erfreulich.«

Er winkte Reuben ins Haus und brachte die nächsten zehn Minuten damit zu, ihn in das Vorgefallene einzuweihen.

»Verdammt noch mal, und du hast keinen blassen Schimmer, wer die Kerle gewesen sein könnten?«

»Egal wer sie sind, sie kannten sich mit Foltermethoden gut aus«, antwortete Stone, indem er sich die Beule am Kopf rieb. »Ich glaube, ich kann Wasser künftig nicht mal mehr trinken.«

»Jetzt wissen sie also über die Verbindung zu Behan Bescheid?«

Stone nickte. »Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob es für sie eine sonderlich große Überraschung war. Aber was ich über Bradley und DeHaven gesagt habe, war ihnen meines Erachtens neu.«

»Da du gerade DeHaven erwähnst, er wird heute bestattet. Deshalb wollte ich mit dir reden. Caleb geht hin, natürlich auch ein Großteil der übrigen Mitarbeiter der Kongressbibliothek. Milton ebenso, und ich habe eben im Hafen das Hemd gewechselt, folglich könnte ich sie begleiten. Wir dachten uns, es ist vielleicht wichtig.« Unverzüglich stand Stone auf, geriet jedoch ins Wanken.

Reuben fasste ihn am Arm. »Oliver, womöglich ist es besser, du bleibst auf dem Allerwertesten sitzen.«

»Noch so ein Folterstündchen, und ihr könnt zu meiner allerwertesten Beerdigung kommen. Aber es stimmt, es kann wichtig sein. Und wenn nur, um zu sehen, wen die Beisetzung alles anlockt.«

 

Der Trauergottesdienst in der St. John’s Church am Lafayette Park wurde von zahlreichen Bibliotheksmitarbeitern und Regierungsfunktionären besucht. Auch Cornelius Behan mit seiner Gattin hatte sich eingefunden, einer hochgewachsenen, schlanken, sehr attraktiven Frau Anfang fünfzig mit fachkundig gefärbtem Blondhaar. Bei ihr vereinten sich auf faszinierende Weise ein hochmütigabgehobener Habitus mit einem Gebaren der Zerstreutheit und Hinfälligkeit. Cornelius Behan war in Washington ein bekannter Mann; deshalb wimmelten ständig Leute um ihn herum, um sich in den Vordergrund zu drängen und ihm das schöne Händchen zu reichen. Gutwillig nahm er alles hin, aber Stone beobachtete, dass er die Hand nie vom Arm seiner Frau ließ, als hätte er Sorge, sie könnte ohne diesen Halt schlechterdings niedersinken.

Auf Stones Beharren hatten sich die Mitglieder des Camel Clubs in der Kirche verteilt, damit jeder unterschiedliche Personengruppen beobachten konnte. Und obwohl seine Kidnapper wussten, dass sie zu seinem Umfeld zählten, mochte Stone sie heute – falls sie zugegen waren – ungern daran erinnern, dass er drei Freunde hatte, die sich vielleicht als lohnende Ziele eigneten.

Stone saß in einer der hintersten Bänke, und sein Blick schweifte mit geübter Regelmäßigkeit durch die rückwärtigen Sitzreihen, bis er auf einer Frau verharrte, die an der Seite Platz genommen hatte. Als sie den Kopf drehte, um sich Strähnen aus der Stirn zu werfen, schaute Stone aufmerksamer hinüber. Seine einstige Ausbildung hatte ihn dazu befähigt, sich Gesichter einzuprägen – und diese Person hatte er schon mal gesehen, obwohl sie jetzt älter war.

Nach dem Gottesdienst verließen die Camel-Club-Mitglieder die Kirche und schlossen sich auf dem Weg hinaus Behan und seiner Gattin an. Behan flüsterte seiner Frau etwas zu; dann drehte er sich um und wandte sich an Caleb.

»Traurig, nicht wahr?«, meinte Behan.

»Ja, sehr traurig«, pflichtete Caleb ihm bei und heftete den Blick auf Mrs. Behan.

»Ach ja, das ist meine Frau Marilyn«, sagte Behan. »Das ist … äh …«

»Caleb Shaw. Ich war ein Kollege Jonathans in der Bibliothek.« Caleb stellte ihr die übrigen Clubmitglieder vor.

Behan schaute zur Kirche, wo die Totengräber soeben den Sarg heraustrugen. »Wer hätte mit so was gerechnet? Er machte einen kerngesunden Eindruck.«

»Das ist bei vielen Menschen so, kurz bevor sie sterben«, sagte Stone geistesabwesend. Er beobachtete die Frau, die ihm vorhin aufgefallen war: Sie trug ein langes schwarzes Kleid und Stiefel und hatte einen schwarzen Hut und eine Sonnenbrille aufgesetzt. Ihre hochgewachsene, sportliche Gestalt war ein echter Hingucker inmitten der Trauergesellschaft.

Behan musterte Stone und versuchte seiner Blickrichtung zu folgen, aber Stone wandte den Blick von der Frau ab, ehe es dem Industriellen gelang. »Ich nehme an, was seine Todesursache betrifft, den Sekundentod, besteht Gewissheit?«, fragte Behan. »Ich meine«, fügte er rasch hinzu, »bisweilen unterlaufen da Irrtümer.«

»Falls etwas nicht stimmt, erfahren wir es sicherlich irgendwann«, sagte Stone. »Die Medien kriegen heutzutage ja alles raus.«

»Da sagen Sie was«, äußerte Behan mit gelindem Widerwillen.

»Mein Mann versteht viel vom Sekundentod«, sagte unvermittelt Marilyn Behan. Alle starrten sie an. »Ich meine«, erklärte sie hastig, »natürlich nur dank seines Gewerbes.«

Behan lächelte Caleb und seinen Freunden zu. »Entschuldigen Sie uns«, bat er, ergriff seine Gattin fest am Arm und führte sie beiseite.

Hatte Stone eine Spur von Belustigung in den Augen der Frau entdeckt?

Reuben blickte dem Paar nach. »Den Burschen kann ich mir nur noch mit einem Nylonstrumpf vorstellen, der an seinem Kolben auf halbmast hängt. Während der Trauerfeier musste ich mir dauernd auf die Finger beißen, um nicht laut zu lachen.«

»Nett von ihm, dass er da war«, meinte Stone. »Schließlich waren sie keine engen Freunde.«

»Sein Gattin ist eine ganz ansehnliche Person«, bemerkte Caleb.

»Ich halte sie für intelligent genug, um über die Seitensprünge ihrer besseren Hälfte Bescheid zu wissen«, meinte Stone. »Ich kann nicht glauben, dass zwischen den beiden viel Liebe herrscht.«

»Trotzdem bleiben sie zusammen«, sagte Milton.

»Aus Liebe zum Geld, zur Macht und zum gesellschaftlichen Status«, entgegnete Caleb voller Abscheu.

»Also, ich hätte in der einen oder anderen meiner Ehen nichts gegen solche Vorteile einzuwenden gehabt«, gestand Reuben. »Liebe war da, wenigstens ein Weilchen, aber alles andere hat gefehlt.«

Stone hatte erneut die Dame in Schwarz im Augenmerk. »Die Frau da drüben, kommt sie euch bekannt vor?«

»Schwer zu sagen«, meinte Caleb. »Sie trägt Hut und Sonnenbrille.«

Stone holte ein Foto heraus. »Ich glaube, sie ist DeHavens Exfrau.« Die Clubmitglieder scharten sich um das Foto. Caleb und Milton sahen die Frau geradewegs an und wechselten sich beim Hinstarren ab. »Könnt ihr euch vielleicht noch auffälliger verhalten?«, fauchte Stone.

Die Trauergemeinde zog auf den Friedhof. Nachdem die am Grab üblichen Rituale beendet waren, kehrten die Teilnehmer zurück zu ihren Autos. Die Dame in Schwarz verweilte noch am aufgebockten Sarg, während nahebei zwei Friedhofsarbeiter warteten. Stone blickte umher und stellte fest, dass Behan und seine Ehefrau soeben ihre Limousine erreichten. Dann suchte er die Umgebung nach Personen ab, für die das Folterhandwerk, darunter die »Surfbrett«-Folter, zum Alltag gehören mochte. Wenn man wusste, worauf man zu achten hatte – und Stone wusste es –, ließen solche Leute sich erkennen. Doch er sah keine Verdächtigen.

Er winkte den Freunden, dass sie ihm folgen sollten, während er seine Schritte zur Dame in Schwarz lenkte. Sie hatte eine Hand auf den Rosenholzsarg gelegt und murmelte etwas, vielleicht ein Gebet.

Sie warteten, bis ihre Lippen sich nicht mehr bewegten. »Es ist traurig«, sagte Stone, als die Frau sich ihnen zuwandte. »Jonathan stand auf dem Höhepunkt seines Lebens.«

»Woher kennen Sie ihn?«, fragte die Unbekannte in Schwarz, ohne die Sonnenbrille abzunehmen.

»Ich habe in der Kongressbibliothek mit ihm zusammengearbeitet«, gab Caleb ihr Auskunft. »Er war mein Vorgesetzter. Man wird ihn sehr vermissen.«

Die Frau nickte. »Ja, wie wahr.«

»Und woher kannten Sie ihn?«, erkundigte sich Stone.

»Wir waren vor langer Zeit miteinander bekannt«, wich sie der Frage aus.

»Lange Freundschaften werden heute immer seltener.«

»Ja, allerdings. Bitte entschuldigen Sie mich.« Die Frau ging an ihnen vorbei und wollte sich entfernen.

»Merkwürdig, dass die Gerichtsmedizin keine konkrete Todesursache ermitteln konnte«, sagte Stone laut genug, dass die Frau es noch hören musste. Die Bemerkung hatte die gewünschte Wirkung. Die Unbekannte blieb stehen und drehte sich um.

»In der Zeitung stand«, sagte sie, »er sei an einem Herzanfall verstorben.«

Caleb schüttelte den Kopf. »Er ist gestorben, weil sein Herz stehen blieb, aber er hatte keinen Herzinfarkt. Da haben die Zeitungen danebengeraten.«

Die Frau kam ein paar Schritte näher. »Es tut mir leid, ich habe mir Ihre Namen nicht merken können.«

»Ich bin Caleb Shaw und arbeite im Lesesaal der Raritätenabteilung der Kongressbibliothek. Das ist mein Freund …«

Stone hob die Hand. »Sam Billings. Freut mich, Sie kennen zu lernen.« Er deutete auf die beiden anderen Camel-Club-Mitglieder. »Der Lange da ist Reuben, und das ist Milton. Und Sie sind?«

Sie missachtete die Frage und wandte sich an Caleb. »Wenn Sie in der Bibliothek arbeiten, müssen Sie genauso in Bücher vernarrt sein, wie Jonathan es war.«

Es beglückte Caleb sichtlich, dass das Gesprächsthema plötzlich seinem Fachgebiet galt. »Oh ja. Jonathan hat mich in seinem Testament sogar zu seinem literarischen Nachlassverwalter bestimmt. Ich habe die Aufgabe, seine Sammlung zu katalogisieren, schätzen zu lassen und zu verkaufen. Der Erlös fällt wohltätigen Zwecken zu …« Er verstummte, als er sah, dass Stone ihn mit einem Zeichen zum Schweigen aufforderte.

»Das klingt ganz nach Jonathan«, sagte die Frau. »Ich nehme an, sein Vater und seine Mutter sind inzwischen tot?«

»Sein Vater lebt schon lange nicht mehr. Seine Mutter ist vor zwei Jahren gestorben. Jonathan hatte das Haus geerbt.«

Stone hatte den Eindruck, dass es die Frau erhebliche Selbstbeherrschung kostete, nicht vor Genugtuung zu lächeln. Was hatte der Anwalt Caleb erzählt? Dass die Ehe geschieden wurde? Vielleicht gar nicht auf Wunsch der Frau, sondern auf Veranlassung des Ehemanns, und zwar auf Drängen seiner Eltern?

»Es wäre schön«, sagte die Unbekannte zu Caleb, »dürfte ich einen Blick ins Haus werfen. Und auf Jonathans Sammlung. Sicherlich ist sie inzwischen sehr umfangreich.«

»Sie wissen von seiner Sammlung?«, fragte Caleb.

»Jonathan und ich hatten viele Gemeinsamkeiten. Ich bleibe nicht lang in der Stadt. Wie wär’s mit heute Abend?«

»Zufällig sind wir heute Abend sowieso dort«, lautete Stones Antwort. »Wenn Sie in einem Hotel wohnen, können wir Sie abholen.«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Wir treffen uns in der Good Fellow Street.« Mit raschen Schritten hielt sie auf ein Taxi zu.

»Hältst du es für klug, diese Frau in Jonathans Haus zu lassen?«, fragte Milton. »Wir kennen sie doch gar nicht.«

Stone zückte nochmals das Foto und zeigte es vor. »Vielleicht kennen wir sie doch. Oder lernen sie bald kennen.« Seine Miene spiegelte Versonnenheit. »In der Good Fellow Street.«