KAPITEL 47
In Atlanta wartete Annabelle auf ihren Anschlussflug. Innerlich schäumte sie noch immer über Leos idiotisches Versagen, während sie sich ihre neue Reiseroute ansah. Wie hatte er so etwas anrichten können? Wäre es ihr wichtig gewesen, dass Freddy wusste, wer sie war, hätte sie es ihm selbst mitgeteilt.
Ihr Flug wurde aufgerufen, aber sie wartete, während die übrigen Passagiere sich in einer Schlange anstellten. Sie flog erster Klasse und hätte schon früher ins Flugzeug steigen dürfen, doch aus Gewohnheit interessierte sie sich dafür, wer außer ihr an Bord ging. Erst als die Schlange kurz geworden war, ergriff sie ihr Handgepäck. Den Großteil ihrer Bekleidung hatte sie im D. C. in den Müllcontainer geworfen. Wenn sie flog, gab sie nie Koffer auf; sie betrachtete sie als Einladung, in ihrem Gepäck zu schnüffeln. An ihrem Ziel konnte sie sich neue Kleider kaufen.
Während sie in der Restschlange mitschlenderte, fiel ihr Blick auf einen Flughafen-Fernseher, der eine CCN- Sendung empfing, und sie blieb ruckartig stehen. Der Bildschirm zeigte Reubens Gesicht. Sie eilte zu dem Fernseher und las die Laufschrift. Vietnamveteran Reuben Rhodes festgenommen. Rüstungsmagnat Cornelius Behan und eine Frau durch Schüsse aus dem Nachbarhaus ermordet. Rhodes als Hauptverdächtiger in Untersuchungshaft.
»Mein Gott«, sagte Annabelle leise.
»Letzter Aufruf für Flug 3457 nonstop nach Honolulu«, ertönte eine Stimme aus der Lautsprecheranlage. »Letzter Aufruf für Passagiere des Flugs 3457 nonstop nach Honolulu.«
Annabelle schaute hinüber zum Abflugsterminal ihrer Maschine. Man stand kurz davor, es zu schließen. Sie drehte sich um und heftete den Blick wieder auf den Fernsehschirm. Schüsse aus dem Nachbarhaus? Behan tot. Reuben verhaftet. Was war da los? Sie musste es herausfinden.
Doch unversehens schlug ihre Stimmung um. Das alles geht dich nichts an, Annabelle, sagte sie sich. Du musst verschwinden. Jerry Bagger hat es auf dich abgesehen. Diese alten Jungs kriegen die Sache hingebogen. Es ist unvorstellbar, dass Reuben diesen Behan ermordet hat, der Fall wird sich aufklären. Und wenn nicht, ist es nicht dein Problem.
Dennoch verharrte sie reglos auf der Stelle. Noch nie hatte sie sich so schwer entscheiden können.
»Letzter Aufruf für Flug 3457, Terminal wird geschlossen.«
»Los, Annabelle, verdammt noch mal, zieh Leine«, flüsterte sie verzweifelt vor sich hin. »Du musst dich da nicht einmischen. Es ist nicht dein Problem. Diesen Leuten bist du nichts schuldig. Du schuldest Jonathan nichts.«
Sie sah das Terminal zu dem Flug zufallen, der sie aus Jerry Baggers Reichweite hatte befördern sollen, und der Ticketkontrolleur entfernte sich zu einem anderen Terminal. Zehn Minuten später rollte die Boeing 777 zur Startbahn. Während sie pünktlich in den Himmel emporstieg, buchte Annabelle einen anderen Flug nach Norden, der sie geradewegs wieder in die Nachbarschaft Jerry Baggers und seines Holzschredders bringen musste. Und sie wusste nicht einmal, warum. Aber irgendwo in ihrer Seele verstand sie es vielleicht doch.
Albert Trent erledigte zu Hause in seinem Arbeitszimmer ein paar Arbeiten. Nach einem langen, arbeitsreichen Abend war er später als sonst aufgestanden, sodass er beschlossen hatte, dies und jenes noch vorzubereiten, ehe er zum Dienst fuhr. Alle Angelegenheiten hatten mit seinem Amt als Mitarbeiter des Geheimdienstausschusses zu tun. Über alle Aspekte geheimdienstlicher Tätigkeit war er – zumindest, soweit die Geheimdienste ihre Kongress-Aufpasser einweihten – gründlich informiert.
Schließlich kämmte er seine Haarsträhnen glatt, verzehrte den letzten dänischen Käse, trank den letzten Schluck Kaffee und klemmte sich die Aktentasche unter den Arm. Wenige Minuten später fuhr er in seinem zweitürigen Honda auf die Straße. In fünf Jahren wollte er ein viel repräsentativeres Auto fahren, vielleicht in Argentinien oder im Südpazifik, von dem er gehört hatte, dass dort ein wahres Paradies sein sollte.
Mittlerweile hatte er auf seinem Geheimkonto Millionen gebunkert. Im Laufe des nächsten halben Jahrzehnts müsste es möglich sein, den Kontostand zu verdoppeln. Für die Geheimnisse, die Roger Seagraves verkaufte, flossen höchste Beträge. Längst ging es nicht mehr so zu wie im Kalten Krieg, als man irgendwo ein Päckchen abgegeben und dafür läppische zwanzigtausend Mäuse eingestrichen hatte. Die Leute, mit denen Seagraves Geschäfte machte, zahlten siebenstellige Summen, verlangten allerdings auch eine Menge. Trent hatte Seagraves über seine Informationsquellen oder die Kreise, an die er die Informationen verkaufte, nie Fragen gestellt. Der Mann würde ihm allemal nichts anvertrauen, und eigentlich wollte Trent auch gar nichts wissen. Sein einziger, jedoch entscheidender Anteil an der Gleichung bestand darin, die Daten, die Seagraves ihm verschaffte, in die nächste Etappe der Übermittlung weiterzureichen. Die Methode, deren er sich bediente, war einzigartig und wahrscheinlich narrensicher. Auf jeden Fall war sie der Hauptgrund, warum die amerikanischen Geheimdienste sich in einer so verfahrenen, üblen Situation befanden.
Im Außendienst bemühten sich zahlreiche tüchtige und fähige Spionageabwehragenten um die Klärung der Frage, auf welche Weise Geheimnisse gestohlen und dem Gegner zugespielt wurden. Dank seiner dienstlichen Position hatte Trent Einblick in manche dieser Ermittlungen. Die Agenten, die mit ihm über die Probleme sprachen, sahen keinerlei Grund zu dem Verdacht, dieser bescheidene Innendienstangestellte, der einen acht Jahre alten Honda fuhr, in einem heruntergekommenen Haus wohnte und nach denselben Vorschriften und für ein ebenso begrenztes Einkommen arbeitete wie alle übrigen Staatsdiener, könne Mitglied einer Spionagezelle sein, die Amerikas nachrichtendienstliche Betätigungen nachhaltig untergrub.
Inzwischen musste den Behörden klar sein, dass die undichte Stelle sich mitten in ihrem gewaltigen Großbetrieb befinden musste, doch bei fünfzehn großen Geheimdienstorganisationen, die für 120000 Mitarbeiter jährlich einen Etat von 50 Milliarden Dollars verschlangen, war gewissermaßen der Heuhaufen turmhoch und die gesuchte Nadel mikroskopisch winzig. Und Roger Seagraves, so hatte Trent beobachtet, arbeitete mit eiskalter Effizienz und übersah nie irgendeine Einzelheit, wie klein und scheinbar belanglos sie auch sein mochte.
Am Anfang ihres Zusammenwirkens hatte Trent versucht, an Hintergrundinformationen über den Mann zu gelangen, doch die Ergebnisse waren gleich null geblieben. Für einen erfahrenen Geheimdienstfuchs wie Trent stand deshalb fest, dass Seagraves auf eine hundertprozentig verdeckte berufliche Vergangenheit zurückblickte. Folglich war er jemand, mit dem man lieber keine Probleme bekam. Und Trent hatte nicht die Absicht, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Er zog die Aussicht vor, fernab der Heimat alt und reich zu sterben.
Während er in seinem Honda des Weges fuhr, malte er sich aus, wie sein künftiges neues Leben aussehen könnte. Auf jeden Fall sollte es sich beträchtlich von seinem jetzigen Dasein unterscheiden. Allerdings hatte er noch keinen Gedanken daran verschwendet, wie viele Menschenleben seine Gier kostete. Verräter hatten selten solche Gewissensbisse.
Stone war gerade von der Unterredung mit Marilyn Behan nach Hause zurückgekehrt, als jemand an die Tür seines Friedhofsgärtnerhäuschens klopfte.
»Hallo, Oliver«, grüßte Annabelle, als er den Kopf zur Tür hinausstreckte.
Stone zeigte sich über ihr Wiederauftauchen keineswegs überrascht, sondern winkte sie einfach herein. Vor dem Kamin setzten sie sich in zwei klapprige Lehnstühle.
»Wie war die Reise?«, erkundigte Stone sich in freundlichem Ton.
»Hören Sie auf. Ich bin nicht gereist.«
»Ach.«
»Haben Sie den anderen erzählt, ich wäre abgereist?«
»Nein.«
»Wieso nicht?«
»Weil ich wusste, dass Sie zurückkehren.«
»Also, das ist ja wohl das Letzte«, sagte Annabelle verärgert. »Sie kennen mich doch gar nicht.«
»Offensichtlich doch, denn Sie sind ja wieder da.«
Sie musterte ihn und schüttelte den Kopf. »Sie sind der ungewöhnlichste Friedhofsgärtner, dem ich je begegnet bin.«
»Sie haben schon viele gekannt, ja?«
»Ich habe erfahren, was Reuben zugestoßen ist.«
»Natürlich liegt die Polizei mit ihrem Verdacht völlig falsch, nur weiß sie es noch nicht.«
»Wir müssen ihn aus dem Knast holen.«
»Wir befassen uns damit, aber es geht Reuben gut. Ich glaube nicht, dass er dort Ärger kriegt. Ich habe erlebt, wie er bei einer Schlägerei in einer Bar fünf Mann bewusstlos geschlagen hat. Und über seine große Körperkraft hinaus ist er der rücksichtsloseste und schmutzigste Nahkämpfer, den ich je gesehen habe. So was bewundere ich sehr.«
»Aber in Jonathans Haus hat jemand ihn übertölpelt?«
»Ja, irgendjemand.«
»Aber weshalb? Warum wurde Behan umgebracht?«
»Weil er entdeckt hatte, wie Jonathan ermordet wurde. Das war Grund genug.« Stone gab seine Unterhaltung mit Marilyn Behan wieder.
»Also hat man Behan umgelegt und die Schuld Reuben zugeschoben, weil er sich gerade so bequem dafür anbot?«
»Wahrscheinlich hat man beobachtet, dass er mehrmals ins Haus ging und es verließ, sich gedacht, dass der Dachboden einen günstigen Schusswinkel ermöglichte, und den Plan dementsprechend durchgeführt. Vermutlich wusste man, dass Behan regelmäßig Frauen anschleppt und mit ihnen immer dasselbe Schlafzimmer benutzt.«
»Da haben wir’s aber mit ziemlich harten Kontrahenten zu tun. Was unternehmen wir als Nächstes?«
»Wir müssen uns die Überwachungsvideos der über dem Lesesaal liegenden Tresorräume anschauen.«
»Auf dem Rückweg hab ich mir schon überlegt, wie wir das erreichen können.«
»Daran hab ich nicht gezweifelt.« Stone schwieg kurz. »Ich glaube, ohne Sie könnten wir es nicht schaffen. Nein, ich bin mir sogar sicher.«
»Loben Sie mich nicht zu früh. Noch ist es nicht so weit.«
Einige Augenblicke lang saßen sie stumm beisammen. Annabelle sah zum Fenster hinaus. »Hier ist es sehr friedlich.«
»In der Gesellschaft Toter? Allmählich empfinde ich es als zutiefst deprimierend.«
Annabelle schmunzelte und stand auf. »Ich rufe Caleb an und bespreche meinen Einfall mit ihm.«
Auch Stone erhob sich und reckte seine hünenhafte Gestalt. »Leider komme ich inzwischen in das Alter, in dem sogar schon das Rasenmähen den Gelenken ernsthaft schadet.«
»Nehmen Sie Advil. Sobald ich wieder irgendwo einquartiert bin, melde ich mich telefonisch.«
»Ich bin froh, dass Sie zurück sind«, meinte Stone halblaut, während sie auf dem Weg zur Tür an ihm vorbeischritt.
Falls sie es hörte, ließ Annabelle sich nichts anmerken. Stone sah ihr nach, als sie ins Auto stieg und abfuhr.