KAPITEL 58

 

Zuerst erlangte Annabelle die Besinnung wieder. Während sich langsam ihre Sicht klärte, sah sie die beiden Männer mit irgendwelchen Arbeiten beschäftigt. Einer stand auf einer Leiter, der andere reichte ihm Gegenstände hinauf. An Händen und Füßen gefesselt, lag Annabelle auf einem kalten Betonboden. Ihr dicht gegenüber, das Gesicht ihr zugewandt, lag Stone; er hatte die Augen noch geschlossen. Wenig später blinzelte er mehrmals; dann blieben seine Lider offen. Als er Annabelle sah, machte sie ihn per Augenbewegungen auf die beiden Kerle aufmerksam. Zwar hatte man sie nicht geknebelt, aber sie hielt es für ratsam, den Halunken möglichst zu verheimlichen, dass sie beide das Bewusstsein wiedererlangt hatten.

Als Stone sich verstohlen in der Räumlichkeit umschaute, krampfte sich auf einmal sein Magen zusammen. Sie befanden sich in dem kleinen Lagerraum bei der Fire Control, Inc. Er kniff die Augen zusammen, um die Beschriftung des tonnenförmigen Tanks entziffern zu können, mit dem die Männer über ihren Köpfen irgendwelche Vorbereitungen trafen. Der Tank hing an einer Kette unter der Decke; das war der Grund, weshalb die Männer eine Leiter benutzten.

»Kohlendioxyd, 5000 PPM«, hauchte Stone fast tonlos, indem er hauptsächlich die Lippen bewegte. Annabelle sperrte Augen und Ohren auf, um ihn verstehen zu können.

Die Männer beabsichtigten, sie auf die gleiche Weise zu ermorden, wie Jonathan DeHaven den Tod gefunden hatte.

Rasch hielt Stone nach irgendetwas Ausschau, das ihnen dienlich sein könnte, um die Fesseln zu durchtrennen. Wenn die Männer gegangen waren, blieb voraussichtlich nur eine kurze Frist, bis das Gas aus dem Tank schoss und den Sauerstoff aus der Luft verdrängte, sodass er und Annabelle erstickten. Kaum hatte Stone einen geeigneten Gegenstand entdeckt, beendeten die Männer ihre Tätigkeit.

»So müsste es klappen«, sagte der Kerl auf der Leiter und stieg hinunter. Als der Mann ins schummrige Licht der Deckenbeleuchtung trat, erkannte Stone ihn: Er war der Vorarbeiter der Gruppe, die in der Kongressbibliothek die Tanks ausgetauscht hatte. Als die Männer herüberschauten, schloss Stone blitzartig die Lider. Annabelle sah es und tat es ihm gleich. »Okay, vergeuden wir keine Zeit«, fügte der Vorarbeiter hinzu. »Das Gas wird in drei Minuten freigesetzt. Anschließend lüften wir und schaffen die beiden fort.«

»Wo lassen wir sie verschwinden?«, fragte sein Kumpan.

»Irgendwo, wo der Hund begraben liegt. Aber es spielt sowieso keine Rolle, ob man sie findet. Die Bullen können nicht feststellen, woran sie krepiert sind. Das ist ja der Vorteil dieser Methode.«

Sie nahmen die Leiter an sich und gingen hinaus. In dem Moment, da die Männer die Tür schlossen und verriegelten, setzte Stone sich auf und rutschte auf dem Gesäß zur Werkbank. Er schob sich daran hoch, schnappte sich einen Profi-Cutter, ging in die Hocke und wälzte sich zurück an Annabelles Seite.

»Schnell, nehmen Sie das Messer, und schneiden Sie mir die Fesseln durch«, flüsterte er. »Beeilen Sie sich! Uns bleiben keine drei Minuten mehr.«

Sie lagen Rücken an Rücken, und Annabelle sägte mit dem Messer am Strick herum, so rasch es sich in dieser ungünstigen Position durchführen ließ. Einmal ritzte sie Stone in die Hand, und der Schmerz entlockte ihm einen Zischlaut. »Weiter, weiter, achten Sie nicht darauf!«, drängte er. »Schnell, schnell!« Sein Blick haftete auf dem aufgehängten Tank. Was Annabelle tat, konnte er nicht sehen; doch an dem Tank war eine Uhr befestigt, und die Zeit lief rasch ab.

Annabelle schnitt so eilig drauflos, wie sie nur konnte, obwohl sie das Gefühl hatte, ihr lösten sich die Arme von den Schultern. Von der Anstrengung rann ihr der Schweiß in die Augen.

Endlich spürte Stone, dass der Strick sich lockerte. Ihnen blieb noch eine Minute. Er zerrte die Hände auseinander, um Annabelle ein besseres Schneiden zu ermöglichen. Sie zertrennte noch etliche Fasern, und die Fesseln fielen ab. Stone setzte sich hin, entfernte die Fußfesseln und sprang auf. Er verzichtete auf jeden Versuch, den Tank zu erreichen. Die Tonne hing viel zu hoch; selbst wenn er herangekommen wäre und die Zeituhr hätte stoppen können, wären die Männer sofort aufmerksam geworden, wenn sie das Gas nicht ausströmen hörten. Stattdessen griff er sich den Sauerstoffbehälter und die Atemmaske, die er bei seinem vorherigen Aufenthalt gesehen hatte, und hastete zurück zu Annabelle. Sie hatten noch dreißig Sekunden Zeit.

Er packte Annabelle am Kragen und schleifte sie in die hinterste Ecke, duckte sich mit ihr hinter einen Stapel Ausrüstungsgegenstände und zog eine Plane über sie beide. Dann drückte er das Gesicht an Annabelles Wange, gurtete die große Atemmaske vor seinen und ihren Kopf und drehte die Sauerstoffflasche auf; leises Zischen und schwacher Luftzug zeigten an, dass die Flasche voll war und funktionierte.

Einen Augenblick später hörten sie eine gedämpfte Explosion, der sich etwas anschloss, das dem Rauschen eines Wasserfalls ähnelte. Das Geräusch hielt zehn Sekunden an. Das C02 drang so schnell und heftig aus dem Tank, dass das Gas im Handumdrehen den gesamten Raum füllte. Der Gefriereffekt ließ die Temperatur schlagartig sinken. Stone und Annabelle verfielen in haltloses Zittern. Gierig saugten sie den lebensspendenden Sauerstoff ein. Im Umkreis der 02-Blase spürte Stone eine Atmosphäre, die den Verhältnissen auf dem Mond weit eher glich als denen auf der Erde. Das Kohlendioxyd strömte auf sie ein, doch Stone drückte Annabelle und sich die Atemmaske fest aufs Gesicht, während Annabelle sich mit der Kraft der Panik an ihn klammerte.

Trotz der Sauerstoffzufuhr trübte sich Stones Denkvermögen. Ihm war, als würde er in einem Düsenjäger immer höher rasen, als presse der G-Andruck ihm das Gesicht nach hinten und über die Schädeldecke und drohe ihm den Kopf abzureißen. Nur ansatzweise konnte Stone sich das Grauen vorstellen, das Jonathan DeHaven, der sich mit keinem Sauerstoff hatte behelfen können, in den letzten Augenblicken seines Lebens durchlitten hatte.

Endlich endete das Brausen so plötzlich, wie es angefangen hatte. Annabelle machte Anstalten, die Atemmaske fortzuschieben, doch Stone hinderte sie daran. »Der Sauerstoffgehalt der Luft ist noch zu gering«, sagte er im Flüsterton. »Wir müssen abwarten.«

Dann hörte er etwas, das nach einem Ventilator klang. Zeit verstrich. Stone behielt den Eingang im Auge. Schließlich nahm er die Maske ab, beließ sie jedoch auf Annabelles Gesicht. Vorsichtig atmete er einmal, dann ein zweites Mal ein. Er streifte die Plane beiseite, hob Annabelle auf, warf sie sich über die Schulter und bettete sie an der Stelle wieder auf den Boden, wo sie beide vorhin gelegen hatten. So leise wie möglich nahm Stone die fast leere Sauerstoffflasche an sich und versteckte sich hinter der Tür des Lagerraums.

Er musste nicht lange warten. Eine Minute später wurde die Tür geöffnet, und ein Mann trat ein. Stone geduldete sich. Als der zweite Mann hereinkam, schwang Stone die Flasche und hieb sie ihm mitten auf den Schädel, dass man Knochen brechen hörte. Der Getroffene kippte der Länge nach auf den Betonboden.

Der andere Kerl wirbelte herum. Seine Hand zuckte zu der Pistole an seinem Gürtel. Die Sauerstoffflasche traf ihn frontal ins Gesicht, sodass er rücklings gegen die Werkbank und das harte Metall der daran angebrachten Schraubzwinge taumelte. Er schrie vor Schmerz auf und griff wild nach seinem verletzten Rücken, während ihm Blut übers Gesicht sickerte. Stone schwang die Sauerstoffflasche noch einmal und knallte sie dem Mann gegen die Schläfe. Als er zu Boden sackte, ließ Stone die Flasche fallen, sprang zu Annabelle und befreite sie von den Fesseln. Sie erhob sich auf zitternden Beinen und betrachtete die beiden hingestreckten Kerle mit bleichem Gesicht.

»Erinnern Sie mich daran, Sie nie zu verärgern«, sagte sie heiser.

»Hauen wir ab, ehe noch jemand sich blicken lässt.«

Sie rannten zur Tür hinaus, kletterten über den Grundstückszaun und liefen eilends die Straße entlang. Drei Minuten später mussten sie anhalten und Atem schöpfen. Rinnsale aus Schweiß durchzogen die Schmutzflecken auf ihrer Haut. Sie füllten die Lungen mit kühler, köstlicher Nachtluft; dann legten sie weitere fünfhundert Meter im Laufschritt zurück, bis ihre Beine sich wie Blei anfühlten. Rücklings lehnten sie sich an die Ziegelmauer eines Gebäudes, das wie eine Lagerhalle aussah.

»Die haben sich mein Handy gekrallt«, sagte Stone, nach Atem ringend. »Nebenbei erwähnt, ich bin eigentlich zu alt für solche Scheiße. Im Ernst.«

»Mein Handy ist … auch weg«, sagte Annabelle stockend, wobei sie zwischendurch nach Luft schnappte. »Oliver, ich … habe in dem Haus … Trent gesehen. In einem Spiegel.«

»Sind Sie sicher?«

Sie nickte. »Vollkommen sicher.«

Stone spähte in die Umgebung. »Wir müssen mit Caleb oder Milton Verbindung aufnehmen.«

»Glauben Sie, dass ihnen nichts zugestoßen ist? Nach dem, was wir gerade erlebt haben?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Stone. Mühsam straffte er sich, hielt Annabelle eine Hand hin und zog sie mit sich.

Als sie zügig ein Stück weit gegangen waren, verlangsamte sie plötzlich ihre Schritte. »Ist Jonathan auf diese Art und Weise gestorben?«, fragte sie leise.

Stone blieb stehen und wandte sich ihr zu. »Ja. Hit mir leid.«

Nichtssagend zuckte sie mit den Schultern; gleichzeitig aber wischte sie sich eine Träne aus dem Auge. »Mein Gott.« Ihre Stimme zitterte. »Wie schrecklich …«

»Ja, schrecklich«, pflichtete Stone ihr bei. »Hören Sie, Susan, ich hätte Sie niemals in diese Sache hineinziehen dürfen.«

»Erstens ist mein Name nicht Susan …«

»Nein?«

»Zweitens … Verraten Sie mir Ihren wirklichen Namen, und ich sage Ihnen meinen.«

Stone zögerte nur ein Sekunde. »Franklin. Aber meine Freunde nennen mich Frank. Und Sie?«

»Eleanor. Meine Freunde rufen mich Ellie.«

»Franklin und Eleanor?«, meinte Stone und blickte sie belustigt an.

»Sie haben damit angefangen.« Sie lächelte, obwohl ihr gleichzeitig Tränen in die Augen traten und sie heftig zu zittern begann. »Ach, Jonathan …« Stone hob die Arme und fasste sie an den Schultern, stützte sie. »Ich kann’s nicht glauben«, sagte sie. »Dabei habe ich den Mann seit einer Ewigkeit nicht gesehen.«

»Es ist verständlich, wenn Sie ihm noch nachtrauern.«

»Bis jetzt wusste ich es selbst nicht genau.«

»Es ist nicht verboten.«

»Mir geht’s gleich wieder besser. Glauben Sie mir, ich habe schon viel Schlimmeres durchgestanden.« Kaum hatte sie den Satz zu Ende gesprochen, musste sie hemmungslos schluchzen. Stone zog sie an sich, als ihre Beine versagten. Beide sanken sie zu Boden, kauerten sich auf den Beton des Gehwegs. Stone hielt sie in den Armen, während ihre Finger sich an ihn krallten, ihre Tränen ihm Hemd und Haut benetzten.

Fünf Minuten später seufzte sie noch einmal schwer; dann gewann sie die Fassung wieder, stemmte sich von Stone ab, rieb sich mit dem Ärmel die geschwollenen Augen und die triefende Nase. »Entschuldigen Sie«, bat sie Stone. »Sonst verliere ich nie, wirklich niemals die Beherrschung.«

»Es ist nicht ungewöhnlich, um einen geliebten Menschen zu weinen.«

»Nur ist es nicht … Ich meine … Sie haben nie …«

Stone legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Mein echter Name lautet John«, sagte er leise. »John Carr.«

Kurz verkrampfte sich Annabelle, dann lockerte sich ihre Haltung. »Ich bin Annabelle Conroy. Nett, Sie kennen zu lernen, John.« Gedehnt ließ sie den Atem entweichen. »Puh, so was tue ich ganz selten.«

»Ihren echten Namen benutzen? Dafür hab ich Verständnis. Die letzte Person, der ich meinen Namen genannt habe, wollte mich auf der Stelle umbringen.«

Er richtete sich auf und half ihr beim Aufstehen. Als er sich abwandte, hielt sie ihn an der Hand zurück. »Danke, John, für … für alles.« Ihre Dankbarkeit machte ihn sichtlich verlegen, doch Annabelle überbrückte den peinlichen Augenblick. »Am besten beeilen wir uns und finden heraus«, sagte sie, »ob wir Milton und Caleb aus irgendeiner Bredouille retten müssen. Einverstanden?«

Einen Moment später eilten sie wieder gemeinsam im Laufschritt die Straße hinunter.