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Sie saßen Nina Hartmann an einem runden Esstisch gegenüber.
Um sie herum herrschte ein heilloses Durcheinander. Überall in dem großen, modern eingerichteten Wohnzimmer waren Teppiche zusammengerollt und Möbel zusammengeschoben worden. Auf einem Tisch an der Längswand stand eine Armee von Gläsern, daneben leere Schüsseln in verschiedenen Größen. Die Vorbereitungen für die Party waren augenscheinlich in vollem Gange.
Rechts und links von Nina Hartmann hatten Dirk Schäfer, dem die sicher sündhaft teure Wohnung gehörte, und dessen Freund Christian Zender Platz genommen und blickten ihnen erwartungsvoll entgegen. Nina Hartmann hatte die beiden vorgestellt, als Matthiessen und er angekommen waren. Schäfer wirkte mit seinen bis über die Ohren reichenden hellblonden Haaren und der markanten Kinnpartie auf Erdmann wie ein Sunnyboy aus Kalifornien. Er war über eins achtzig groß und schlank. Christian Zender war das genaue Gegenteil. Ein gutes Stück kleiner und hager, das längliche Gesicht dominiert von einer randlosen, eckigen Brille mit extrem dicken Gläsern. Wie zwei kleine Glasbausteine, die durch einen Draht in der Mitte verbunden waren, ließen sie seine Augen übernatürlich groß wirken, was ihm ein latent irres Aussehen verlieh.
Die beiden jungen Männer hatten Bierflaschen vor sich stehen, und Erdmann hatte das Gefühl, dass es nicht die ersten an diesem Nachmittag waren. Ninas Freund hatte ihnen etwas angeboten, aber sowohl Matthiessen als auch er hatten dankend abgelehnt.
Erdmann betrachtete die Studentin, die nervös auf ihrem Stuhl hin und her rutschte und sich immer wieder Haarsträhnen aus dem Gesicht strich. Sie war eine attraktive junge Frau, wie er fand, mit einem nicht puppenhaft hübschen, aber doch interessanten Gesicht. Er war gespannt, wie Matthiessen vorgehen würde, und überlegte sich, dass er mit den jungen Leuten wahrscheinlich erst ein wenig locker plaudern würde, um Nina Hartmann die Nervosität und vielleicht auch die Angst zu nehmen, plötzlich in etwas hineingezogen zu werden.
»Frau Hartmann, Sie wissen, es geht um das Päckchen, das Sie heute Morgen bekommen haben.« Matthiessen wirkte ruhig und sachlich, fast schon kühl, so, wie er es auch von ihr erwartet hatte. »Wir müssen als Erstes versuchen herauszufinden, warum dieses Päckchen ausgerechnet an Sie gegangen ist.« Sie tippte mit dem Zeigefinger auf den Bericht, den sie mitgebracht und vor sich auf den Tisch gelegt hatte. »In dem Bericht der Kollegen von heute Morgen steht, Sie haben keine Idee, wer Ihnen das geschickt haben könnte?«
»Haben Sie schon geklärt, um was es sich bei diesem … Ding überhaupt handelt?«, fragte Schäfer, bevor seine Freundin antworten konnte. »Haben Sie vielleicht Fotos dabei? Ich würde dieses Ding gern mal sehen.«
»Das Ding ist im Moment bei den Biologen im Labor«, sagte Erdmann knapp. »Fotos haben wir keine hier.« Er wandte sich demonstrativ wieder Nina Hartmann zu. »Kennen Sie eine Frau namens Heike Kleenkamp?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir leid. Wer ist das?«
Erdmann sah Matthiessen an, die zu einer Erklärung ansetzte. »Heike Kleenkamp ist wahrscheinlich am Dienstagabend entführt worden. Sie ist die Tochter …«
»… von Dieter Kleenkamp«, fiel Zender ihr ins Wort. »Mister Tageszeitung himself, der Typ ist steinreich. Also, wenn ich jemanden entführen wollte, würde ich mir auch die kleine Kleenkamp aussuchen. Reich und ziemlich lecker. Pecunia non olet – Geld stinkt nicht.« Beifallheischend grinste er Schäfer an, der aber keine Reaktion zeigte, wofür seine Freundin ihm einen dankbaren Blick schenkte.
»Die Kleine ist 21 Jahre alt.« Matthiessens Stimme ließ keinen Zweifel daran aufkommen, was sie von Zenders Erklärungen hielt. »Wenn sie entführt wurde, ist ihr Leben in Gefahr, und sie steht im Moment wahrscheinlich Todesängste aus. Ich bezweifle, dass sie Verständnis für Ihre Art von Humor hätte. Ich jedenfalls habe es nicht. Was mich aber interessieren würde: Woher kennen Sie Heike Kleenkamp?«
»Ich? Ach, ich kenne sie eigentlich gar nicht, ich hab sie mal auf der einen oder anderen Party gesehen und mitbekommen, wer sie ist. Ich glaube, sie hat gerade mit dem Studium angefangen, BWL oder so. Ich habe in der HAT gelesen, dass sie vermisst wird.«
»Und Sie, Herr Schäfer, kennen Sie Heike Kleenkamp?«, wandte sie sich an Ninas Freund.
»Nein«, antwortete er ohne Zögern. »Ich hab schon mal von ihr gehört, aber ich kenne sie nicht.«
»Ich kenne Sie auch nicht, da bin ich sicher«, sagte Nina Hartmann und zog damit Matthiessens Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Ich studiere deutsche Sprache und Literatur und schreibe hier und da schon mal einen Artikel als freie Mitarbeiterin für die HAT. Nach dem Studium möchte ich dort ein Volontariat beginnen. Ich weiß zwar, dass der Verleger Kleenkamp heißt, aber dass er eine Tochter hat, wusste ich nicht. Ich verstehe auch nicht … was hat ihr Verschwinden mit dem Päckchen zu tun, das ich heute Morgen erhalten habe?«
»Tut mir leid, aber wir können zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht viel sagen. Wie mein Kollege schon erwähnte, befindet sich der Rahmen gerade im Labor. Wir müssen die Ergebnisse abwarten. Im Moment ziehen wir einfach alle Möglichkeiten in Betracht, auch, dass dieses Päckchen etwas mit dem Verschwinden der jungen Frau zu tun haben könnte. Aber wenn Sie Artikel für die Hamburger Aktuelle Tageszeitung schreiben, gibt es immerhin schon mal einen Berührungspunkt, auch wenn Sie der Meinung sind, Heike Kleenkamp nicht zu kennen.«
»Aber warum?« Es war wieder Ninas Freund, der die Frage gestellt hatte.
»Warum was?« Erdmann gingen die Zwischenfragen der beiden jungen Männer langsam auf die Nerven.
»Warum denken Sie, dass das Päckchen etwas mit dem Verschwinden zu tun haben könnte? Und warum ist dieses Ding im Labor? Wonach genau suchen Sie?«
»Fingerabdrücke zum Beispiel.«
»Fingerabdrücke? Bei den Biologen? Ich bin kein Kriminalist, aber ich dachte, Biologen beschäftigen sich eher mit Analysen? DNA und so was?«
»Da dachten Sie richtig. Wir lassen auch das Material analysieren, auf das dieser Romananfang geschrieben wurde.«
Dirk Schäfer stieß ein kurzes Lachen aus. »Ach ja, Nina glaubt ja tatsächlich, es könne sich um …«
»Dirk, bitte …« Nina sah ihren Freund fast flehend an, woraufhin er entschuldigend die Schultern hob und verstummte.
»Gab es neben diesem Päckchen etwas Außergewöhnliches in den letzten Tagen?«, wandte Matthiessen sich wieder an Nina. »Haben Sie jemanden kennengelernt, oder gab es vielleicht ungewöhnliche Anrufe?«
»Ungewöhnliche Anrufe? Was meinen Sie?«
»Die Frau Hauptkommissarin möchte wissen, ob der böse Mann dich angerufen hat, Nini«, meldete sich Zender wieder zu Wort. Mit einer übertriebenen Geste legte er die Handflächen auf die Wangen und riss die Augen auf. Nun sah er tatsächlich wie ein Irrer aus. »Der … Hautkrimischreiberverbrecher.«
Erdmann warf Matthiessen einen Blick zu und sah, dass sie über die Einlage Zenders ebenso irritiert war wie er. Er hoffte für den jungen Mann, dass sein seltsames Auftreten das Ergebnis des nachmittäglichen Bierkonsums war.
»Entschuldigen Sie«, sagte Zender, »aber ich finde es einfach nicht fair, dass Sie unserer Nini hier Fragen stellen, ohne ihr zu sagen, worum es überhaupt geht. Immerhin scheint es ja Gründe dafür zu geben, dass Sie denken, sie wäre vielleicht in diese Entführungsgeschichte verwickelt.«
»Wir haben Frau Hartmann gesagt, was wir sagen können, Herr Zender.« Matthiessens Stimme klang nun deutlich schärfer. »Wenn Sie sich allerdings weiterhin einmischen, werden wir unsere Unterhaltung mit ihr alleine im Präsidium fortsetzen.«
»Schon gut.« Er winkte ab und schüttelte in einer theatralischen Geste den Kopf. Im nächsten Moment überlegte er es sich jedoch offenbar anders, denn er beugte sich mit wichtiger Miene nach vorne und stützte die Unterarme auf der Tischplatte ab. »Manus manum lavat. Eine Hand wäscht die andere. Was halten Sie zur Abwechslung mal davon?« Er sah von Matthiessen zu Erdmann, dann zu Nina, die offensichtlich nicht wusste, was er meinte. Erdmann fragte sich, was dieser Schnösel da aufführte und vor allem, was er damit bezweckte. »Wenn Sie von Nini was wissen möchten, ist es ihr gutes Recht zu erfahren, worum es sich handelt. Sie müssen …«
»Chris«, unterbrach Nina Hartmann ihn nun selbst. Offenbar war ihr sein Auftritt peinlich. »Nun hör schon auf, ich kann für mich selbst sprechen.«
»Ich weiß, aber lass mich das noch zu Ende bringen.« Wieder wandte er sich an Matthiessen. »Es muss doch etwas geben, das einen Zusammenhang zwischen der Entführung von Heike Kleenkamp und diesem Ding, das Nini bekommen hat, vermuten lässt. Sie haben ja sicher nicht heute Morgen diesen Rahmen gesehen und gedacht: Hey, der hat bestimmt was mit der Kleenkamp-Entführung zu tun, oder?«
Erdmann spürte, wie sein Ärger langsam wuchs. »Was wir gedacht und getan haben, tut nichts zur Sache, Herr Zender. Die Entführung geht Sie nichts an, und die Fragen, die wir Frau Hartmann stellen möchten – wenn wir mal dazu kämen, ihr Fragen zu stellen –, gehen Sie ebenfalls nichts an. Wir befragen sie als Zeugin, daher hat sie …«
» … kein Aussageverweigerungsrecht, weil sie keine Verdächtige ist, ich weiß, ich bin angehender Jurist. Aber vielleicht greift ja das Auskunftsverweigerungsrecht nach Paragraph 55 der Strafprozessordnung, weil Nini sich durch ihre Aussage der Gefahr der Strafverfolgung aussetzen würde. Das kann sie allerdings nicht wissen, weil sie ja nicht weiß, worum es eigentlich geht. Außerdem haben Sie es versäumt, Nini über ihr Auskunftsverweigerungsrecht zu belehren. Contra legem.«
Erdmann verdrehte die Augen. Ein angehender Jurist, das hatte ihm gerade noch gefehlt. Doch dann fiel ihm Heike Kleenkamps Tätowierung wieder ein, die Rose, und was es bedeuten würde, wenn sich tatsächlich herausstellen sollte, dass … »Diese junge Frau ist seit fast vier Tagen verschwunden, und vielleicht kann Frau Hartmann uns den entscheidenden Hinweis geben, der darüber entscheidet, ob Heike Kleenkamp stirbt oder am Leben bleibt, Herr Zender.«
Das Dauergrinsen verschwand aus Zenders Gesicht, und Erdmann sah ihm deutlich an, dass er sich nicht mehr so sicher fühlte wie noch eine Minute zuvor. »Ich möchte ja nur, dass Sie Nini sagen, in was sie da reingezogen wird.« Seine Stimme hatte den fordernden Ton verloren, und er war bedeutend ruhiger geworden. »Was ist denn mit diesem Rahmen? Nini sagte, das sah ganz seltsam aus, wie … Haut.«
Bevor Erdmann etwas erwidern konnte, antwortete Matthiessen: »Schweinehaut womöglich, wir wissen es noch nicht.« Sie sah Zender dabei fest in die Augen, der ihrem Blick allerdings nur Sekunden standhielt. Bürschchen, dachte Erdmann.
Matthiessen blätterte eine Seite des Berichts um und sah dann wieder zu Nina Hartmann hoch. »Also noch mal: Sie kennen Heike Kleenkamp nicht, und es kann auch nicht sein, dass sie früher vielleicht auf der gleichen Schule waren? Oder im gleichen Verein, bei einer Organisation? Nichts?«
»Aber wie soll ich das denn wissen? Ich weiß nur, dass ich sie nicht kenne.«
»Also gut. Und wie war das in den letzten Tagen, gab es irgendwelche außergewöhnlichen Begegnungen, Anrufe oder Ähnliches?«
»Nein, alles war wie immer.«
»Und Sie sind sicher, dass Sie niemanden kennen, der einen Roman geschrieben hat oder schreiben möchte? Einen Krimi? Jemanden, der vielleicht versucht hat, etwas zu veröffentlichen, und abgelehnt worden ist?«
Erdmann registrierte, dass die junge Frau kurz stockte. »Also … zumindest weiß ich nichts davon.« Sie richtete sich ein wenig auf und zog ihren Pullover zurecht. Täuschte er sich oder wirkte sie mit einem Mal unsicher?
»Denken Sie bitte noch mal genau nach«, sagte er. »Es kann enorm wichtig sein. Sind Sie ganz sicher?«
Sie warf ihrem Freund einen flüchtigen Blick zu, bevor sie nickte. »Ja, ganz sicher.«
Matthiessen setzte zu einer weiteren Frage an, wurde aber durch das Klingeln ihres Handys unterbrochen. Ruhig stand sie auf, zog das Telefon aus der Tasche und nahm das Gespräch an, während sie den Raum verließ. Als Erdmann die Befragung gerade fortführen wollte, war sie jedoch schon wieder zurück. »Kommen Sie, wir müssen los«, sagte sie zu ihm, und an Nina Hartmann gewandt: »Vielen Dank für Ihre Hilfe, wir melden uns wieder.«
Erdmann wartete, bis sie ein Stockwerk von Dirk Schäfers Wohnungstür entfernt waren, dann fragte er: »Wer war das, was ist los?«
»Der PvD. Im Stadtpark ist eine Leiche gefunden worden. Weiblich. Jemand hat ihr die Haut vom Rücken geschnitten.«