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Sie hatten bei dem dauergrinsenden Kellner noch etwas zu trinken bestellt. »Was denkst du, hat Dirk Schäfer uns das bewusst verschwiegen?« Erdmann sah Matthiessen erwartungsvoll an.

»Ich weiß es nicht. Die Frage ist, ob sie uns das verschwiegen haben. Mir ist heute Nachmittag aufgefallen, dass Nina Hartmann ihren Freund ganz seltsam angesehen hat, als ich fragte, ob sie jemanden kennt, der an einem Roman schreibt.«

»Ja, das habe ich auch bemerkt. Du meinst, sie hat daran gedacht, es aber nicht gesagt?«

»Vielleicht. Aber so, wie sich die Sache mittlerweile darstellt, kopiert ja jemand diese Verbrechen aus Jahns Roman. Das heißt, derjenige wird selbst wahrscheinlich überhaupt nichts mit dem Schreiben von Romanen zu tun haben.«

»Was Nina Hartmann aber nicht wissen konnte. Glaubst du, sie hat gedacht, ihr Freund hinge da irgendwie mit drin?«

Matthiessen zuckte mit der Schulter. »Wer weiß. Wir werden uns die beiden morgen noch mal vornehmen. Aber wie gesagt, ich bezweifle, dass diese Kurzgeschichten von Schäfer für uns wichtig sind.«

»Ich hoffe nur, der angehende Herr Rechtsanwalt ist nicht wieder dabei. Könnte sein, dass ich sonst böse werde, wenn der Vogel wieder ununterbrochen dazwischenquatscht.«

Sie lächelte. »Ja, dieser Zender ist ein recht merkwürdiger Zeitgenosse.«

Eine Weile schwiegen sie, bis Erdmann sagte: »Würde mich mal interessieren, wer die anonyme Anruferin war. Du sagtest, im Hintergrund war Musik zu hören?«

»Ja, so hat es der Kollege mir beschrieben.«

»Vielleicht wie auf einer Party?«

»Ich weiß nicht. Du denkst an Schäfers Geburtstagparty? Glaubst du, Nina Hartmann hat sich anonym gemeldet, um Ihren Freund zu verraten?« Erdmann legte das Besteck auf dem leeren Teller ab und wischte sich mit der Papierserviette über den Mund. »Na ja, sie geht ja noch davon aus, dass wahrscheinlich jemand was mit der Sache zu tun hat, der schreibt. Welche Frau außer ihr glaubt sonst, dass wir einen angehenden Romanautor suchen? Wer außer ihr könnte zudem wissen, dass Schäfer diese Geschichten ins Netz gestellt hat? Du hast ihren Blick heute Nachmittag ja auch bemerkt.«

»Ja, aber ich kann mir trotzdem nicht vorstellen, dass sie das war, das ergibt keinen Sinn. Aber wir werden es rausfinden.«

»Wie wär’s, wenn wir für heute Schluss machen?«, schlug Erdmann vor.

Matthiessen dachte kurz nach. »Gut, aber lass uns vorher noch am Präsidium vorbeifahren. Ich möchte mir die Unterlagen von dem Kölner Fall mitnehmen und zu Hause ansehen.«

»Die interessieren mich auch. Dann tue ich es meiner Chefin doch gleich und nehme mir diese Unterlagen ebenfalls mit nach Hause. Vielleicht lobt sie mich dann ja.«

Matthiessen zog die Augenbrauen hoch. »Du hast offenbar noch immer ein Problem damit, dass ich eine Frau bin.«

»Nein, nicht damit, dass du eine Frau bist. Damit, dass du die stellvertretende Leitung der BAO bekommen hast, und nicht ich.« Er sah ihr an, dass sie nicht wusste, ob er das ernst gemeint hatte. Erst als er den Mund zu einem breiten Grinsen verzog, lächelte auch sie kopfschüttelnd.

»Also gut, Herr Macho, aber ich möchte keine Zeit verlieren. Wenn du dir den Kölner Fall ansiehst, nehme ich mir ein Exemplar von Das Skript mit und gehe es durch.«

Als sie fast eine Stunde später vor Matthiessens Haus aus dem Auto stiegen, dachte Erdmann darüber nach, ob sie ihn wohl fragen würde, ob er noch auf ein Glas mit hineinkommt. Bevor er sich aber näher mit dem Gedanken beschäftigen konnte, wandte sie sich ihm zu. »Acht Uhr morgen früh? Kommst du hierher?«

Also nicht. »Ja klar, kein Problem. Sonntagmorgen zu Hause ist sowieso ziemlich langweilig.«

»Gut. Ich hoffe, wir kommen morgen weiter. Schönen Abend noch.«

»Dir auch – Andrea?« Sie blieb stehen und sah ihn fragend an. »Du bist zwar kompliziert, aber … du hast dich geirrt.«

»Was? Was meinst du?«

»Als du dachtest, ich mag dich überhaupt nicht, hast du dich geirrt.«

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, und Erdmann glaubte sogar, einen roten Schimmer auf ihren Wangen zu sehen. »Danke. Bis morgen.« Sie wandte sich ab.

»Also zumindest, was das Überhaupt betrifft«, fügte er grinsend hinzu und ging zu seinem Auto.

Eine halbe Stunde später schloss er die Tür seiner modernen 3-Zimmer-Wohnung im ersten Stock eines Mehrfamilienhauses in Eimsbüttel auf und warf den Schlüsselbund in die Glasschale, die auf der kleinen Vitrine im Flur stand. Er hängte sein Sakko auf einen Bügel an die Garderobe und ging in die Küche, wo er sich die Mappe mit seiner Kopie der Köln-Unterlagen vorne in den Hosenbund steckte und sich ein Bier aus dem Kühlschrank und ein Glas aus dem Hängeschrank über der Spüle nahm. Es hatte nach seiner Auffassung etwas mit Stil zu tun, Getränke nicht direkt aus der Flasche, sondern aus Gläsern zu trinken. So bewaffnet, machte er es sich auf der Ledercouch im Wohnzimmer bequem. Er legte die Unterlagen auf dem niedrigen Tisch ab, öffnete die Flasche und goss das Glas voll. Nach einem großen, köstlichen Schluck sah er zum Fernseher hinüber. Er spürte große Lust, das Gerät einzuschalten und sich einfach berieseln zu lassen, etwas, das er eigentlich hasste. Seine Gedanken wanderten zu Julia, und wie so oft in den letzten Monaten fiel ihm auf, dass er immer an sie dachte, wenn es um Dinge ging, über die sie sich häufig gestritten hatten. Der Fernseher, der praktisch immer lief, wenn sie zu Hause gewesen war. Ihr ausgeprägter Hang, Dinge zu kaufen, die sie nie brauchte und auch nie benutzte, Dinge, die sofort nach dem Kauf auf Nimmerwiedersehen in irgendwelchen Schubladen oder Schränken verschwanden. Kaufen, um des Kaufens willen.

Er nahm noch einen Schluck. Wo immer er mit Julia aufgetaucht war, hatte er die neidvollen, musternden Blicke der anderen Frauen ebenso beobachtet wie das Schmachten in den Augen ihrer Männer. Julia war sieben Jahre jünger als er. Als sie sich kennengelernt hatten, war sie gerade zweiundzwanzig, und er war mächtig stolz gewesen, dass diese Frau, die alle mit ihrer Schönheit und ihrem strahlenden Lächeln verzaubert hatte, sich ausgerechnet in ihn verliebte. Er war damals gerade frisch zur Kripo gekommen, und als er dann auch noch mit dieser umwerfenden Frau zusammenkam, erschien ihm sein Leben wie ein in Erfüllung gegangener Traum. Die ersten Monate mit ihr waren ihm wie ein Rausch vorgekommen, und nach einem halben Jahr gab er seine kleine 2-Zimmer-Wohnung auf und zog mit ihr in ein 100 Quadratmeter großes Appartement in Eimsbüttel, nur zwei Straßen von seiner jetzigen Wohnung entfernt. Ihr erstes gemeinsames Jahr dort war bestimmt von sich aneinander abschleifen, wie Julia es immer genannt hatte, womit endlose Diskussionen gemeint waren. Meist waren es Dinge gewesen, die er an ihr kritisiert hatte, was aber daran lag, dass Julia zufrieden war, solange sie ihre Vorstellung eines gelungenen Tagesablaufs verwirklichen konnte. Die beinhaltete in der Regel einen Einkaufsbummel mit Freundinnen und den anschließenden, ausgiebigen Besuch eines In-Cafés an der Binnenalster, einen mindestens zweistündigen Aufenthalt im Fitnessstudio und nach Möglichkeit das abendliche Essen in einem guten Restaurant. Natürlich hätte sein Polizistengehalt dafür schon nach zwei Wochen nicht mehr ausgereicht, aber Julia Priegel war die Tochter des Besitzers und Chefarztes der Priegel-Privatklinik für kosmetische Chirurgie, und Professor Doktor Gerhard Priegel ließ es sich nicht nehmen, seinem einzigen Töchterchen jeden Wunsch zu erfüllen. Das tat er vordergründig mit einer bestimmten Summe, die er in regelmäßigen Abständen auf ihr Konto überwies und deren Höhe Erdmann nie hatte in Erfahrung bringen können.

So war aus dem Glückstaumel der ersten Monate mit der Zeit ein Nebeneinanderleben geworden, bei dem sich nach und nach jeder sein eignes soziales Umfeld aufbaute, mit dem der jeweils andere kaum etwas zu tun hatte. Einzig bei den wenigen gemeinsamen Unternehmungen oder Einladungen hatte sich nichts geändert. Die Frauen musterten Julia neidisch, die Männer schmachteten sie an.

Mit der Zeit wurde Erdmann immer bewusster, dass das nicht das Leben war, das er mit Julia führen wollte. Es war eine Art Leben, wie er es mit keiner Frau führen wollte. Er hatte es mit Gesprächen versucht, immer und immer wieder, aber er kam nicht an sie heran, letztendlich warf sie ihm sogar vor, er gönne ihr nicht, dass sie sich dank ihres Vaters ein schönes Leben leisten konnte. Im vergangenen Jahr dann, es war zehn Monate her, sah er sie morgens am Frühstückstisch an, während sie auf den Fernseher starrte, der auf der Arbeitsplatte neben dem Toaster stand, und sagte: »Ich möchte, dass wir uns trennen.«

Es dauerte eine Weile, bis sie ihre Augen vom Bildschirm löste, wo irgendeine Soap lief, und ihn lange ansah. So lange, dass in ihm die Hoffnung aufkeimte, sie würde zumindest versuchen, ihn davon abzuhalten, ihn zu überzeugen, dass es ging, wenn sie sich beide zusammenreißen und aufeinander zugehen würden. Aber irgendwann öffnete sich ihr rotgeschminkter Mund und sagte: »Aber ich bleibe in der Wohnung.«

Die Mappe auf dem Tisch sprang ihm ins Auge, und er zwang sich dazu, die Gedanken an Julia zur Seite zu schieben, so, wie er es fast immer tat.

Der Kölner Fall. Ungelöst. Vielleicht fand er etwas, das sie im aktuellen Fall weiterbrachte. Vielleicht sogar etwas, das Matthiessen nicht entdeckte. Matthiessen. Seit diesem Nachmittag hatte sich sein Bild von ihr etwas gewandelt. Das, was sie ihm erzählt hatte, machte ihr Verhalten zumindest erklärbar, auch wenn er nach wie vor der Meinung war, dass man alles, auch die Pedanterie bei der Befolgung der Dienstvorschriften, übertreiben konnte. Und auch, wenn er noch immer der Meinung war, dass er mindestens ebenso gut für die stellvertretende Leitung einer BAO qualifiziert war wie Andrea Matthiessen. Aber letztendlich hatte sie es sich nicht ausgesucht. Wahrscheinlich hätte sie liebend gerne mit ihm getauscht. Er dachte darüber nach, ob er sie nun sogar mochte, aber so weit wollte er doch noch nicht gehen. Nach einem weiteren Schluck zog er die Schuhe aus, griff sich die Mappe und lehnte sich bequem zurück.

Gleich zuoberst lagen mehrere Fotos des Opfers, die Erdmann mit einer Mischung aus Abscheu und Verwunderung betrachtete. Die Frau war nackt, aber von ihrer Haut war kein Zentimeter zu sehen. Ihr gesamter Körper war bunt bemalt, und so, wie es auf den Detailfotos aussah, war Ölfarbe benutzt worden. An manchen Stellen, zum Beispiel dort, wo die Brustwarzen der Frau sein mussten, war die Farbe so dick aufgetragen, dass von den eigentlichen Konturen nichts mehr zu sehen war. Realistische Motive waren auf dem Körper der Frau keine erkennbar, es handelte sich wohl um eine Art abstrakte Malerei, wirre, psychedelische Formen, miteinander verschlungen, ineinander verlaufend.

Erdmann legte die Fotos zur Seite und überflog den Tatortbericht. Das Opfer war in einer kleinen Seitengasse gefunden worden. Sie hatte auf dem Gehweg gelegen, die Arme und Beine weit vom Körper abgespreizt, wohl, damit die Farbe nicht verschmierte.

Im Obduktionsbericht stand, dass es eine Gewalteinwirkung mit einem stumpfen Gegenstand, einer kurzen Eisenstange, die in der Nähe der Leiche gefunden worden war, auf den Kopf gegeben hatte. Daran war das Opfer allerdings nicht gestorben. Sie war erwürgt worden. Hinweise auf einen sexuellen Hintergrund der Tat gab es nicht.

Auf einer weiteren Seite konnte er nachlesen, dass die Kölner Ermittler anhand der Blutspuren davon ausgegangen waren, dass die Frau am Fundort auch getötet worden war. Der Täter hatte ihr wahrscheinlich im Dunkeln aufgelauert, sie von hinten niedergeschlagen und dann erwürgt, als sie bewusstlos am Boden lag. Danach hatte er sie entkleidet und bemalt. Nach Schätzung von Experten musste er dafür mindestens eine halbe Stunde gebraucht haben. Erdmann fragte sich, wie man es fertigbrachte, eine Frau erst umzubringen und dann den nackten Körper noch eine halbe Stunde lang auf einer öffentlichen Straße zu bemalen.

Er legte das Blatt zur Seite und stutzte. Auf der nächsten, engbeschriebenen Seite war ein Großteil des Textes kursiv gedruckt. Es handelte sich um einen Auszug aus Christoph Jahns Roman Der Nachtmaler, die Stelle, an der der Mord beschrieben wurde:

Es war kurz nach Mitternacht, als der Maler sich auf den Weg machte. Den ganzen Tag hatte er die Inspiration gespürt wie ein körperloses Ziehen, das alle Gedanken noch ungedacht von ihm absaugte und seinen Geist so in einen wortlosen, reinen Zustand der Kreativität versetzte.

Alltägliche Dinge waren in den Hintergrund getreten. Er hatte nicht an Essen gedacht und nicht an Trinken, nur dagesessen und geduldig auf die Dunkelheit gewartet.

Er war bereit für ein neues Meisterwerk.

Der Maler arbeitete nur nachts.

Wenn die düstere Atmosphäre spärlich beleuchteter Gässchen sich auf ihn legte, war sie die Muse, die ihn mit blassen Lippen küsste.

Es war, als hülle die Dunkelheit seine Hand, die den feinen Pinsel führte, in ein samtenes Tuch. Es dämpfte den Druck, mit dem die Farbe aufgetragen wurde. Einzigartige Gemälde entstanden so. Wahre Kunstwerke.

Er war ein vielbeachteter Maler. Es gab kaum eine Zeitung, die nicht über seine Kunst berichtete.

Nach langen Jahren, in denen er mit seinen herkömmlichen Bildern vergeblich um Beachtung gebettelt hatte, in denen er nur belächelt worden war und verhöhnt, war die Welt endlich auf ihn aufmerksam geworden.

»Nachtmaler« nannten sie ihn. Ein Name, so einzigartig wie seine Kunst.

Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er am Ende einer Sackgasse den Holzkoffer mit seinen Utensilien abstellte.

Es war das Lächeln eines Wissenden, der im Begriff war, mit einer Geste der Großzügigkeit ein kleines Stück seiner Genialität zu offenbaren.

Prüfend sah er sich um, betrachtete das nur schemenhaft erkennbare, unbewohnte Gebäude hinter sich. Ein guter Platz.

Er arbeitete nie zweimal an der gleichen Stelle. Das würde seinen Werken die Einzigartigkeit nehmen.

Vorsichtig öffnete er den Deckel, nahm ein Tuch heraus und legte es auf die Straße. Mit größter Sorgfalt richtete er die Farbtuben am oberen Rand des Stoffes nebeneinander aus. Die Pinsel in verschiedenen Stärken legte er darunter.

Dann wartete er. Es konnte lange dauern.

Manchmal wartete er vergebens und ging im Morgengrauen unverrichteter Dinge wieder nach Hause. Aber so war es mit der Kunst. Sie ließ sich nicht erzwingen.

In dieser Nacht hatte er Erfolg.

Als ein gleichmäßiges Klack, Klack, Klack die Stille durchbrach, verließ er den Platz, der für diese Nacht sein Atelier sein sollte. Er folgte dem Geräusch, ließ sich von ihm leiten. Dann sah er ihre Gestalt vor sich, ein dunkler Scherenschnitt, der sich kaum von der Umgebung abhob, und sein Herz machte einen Sprung.

Das war sie. Der Maler hatte sein Objekt gefunden.

Als er hinter ihr stand, den Arm zum Schlag erhoben, stockte sie, doch es war zu spät. Das knirschende Geräusch, mit dem ihre Schädeldecke unter der kurzen Eisenstange zertrümmert wurde, erzeugte einen heißen Strom in seinen Lenden. Als er auf ihr kniete, die Hände um ihren schlanken Hals gelegt, als er mit aller Kraft zudrückte, konnte er nicht anders, er musste laut aufstöhnen, vor Anstrengung und auch aus diesem unglaublichen Gefühl heraus, dem Bewusstsein seiner Macht. Mit dem letzten Zucken, mit dem sie mit weit hervorgetretenen Augen das Leben aus ihrem Körper presste, ergoss sich ein warmer Strahl aus seinem Unterleib.

Er lag keuchend auf ihr. Erst Minuten später konnte er sich von ihr herunterwälzen, konnte er sie aus ihren Kleidern, sein Medium aus der Verpackung schälen. Dann war er bereit für ein neues Meisterwerk.

 

Erdmann legte das Blatt angewidert beiseite. Er sah Christoph Jahn vor sich, den Mann Anfang 50, der aussah wie Sean Connery und sich solche Abscheulichkeiten ausgedacht hatte.

An einer anderen Stelle des Berichts fand er eine genaue Beschreibung darüber, mit welcher Akribie der Täter die Szene des Romans nachgestellt hatte. Selbst die Beine der Toten hatten genau so gelegen, wie es in Jahns Buch beschrieben war.

Außerdem hatte er der Frau büschelweise Haare abgeschnitten.

Die Kölner Beamten fanden den Hinweis darauf ebenfalls im Buch. Jahns wahnsinniger Killer fertigte aus den Haaren Pinsel in verschiedenen Stärken, mit denen er dann sein nächstes Opfer bemalen wollte.

Erdmann fragte sich, wie weit der reale Täter in seinem Nachahmungswahn wirklich gegangen war. Ob wirklich irgendwo bei ihm zu Hause ein Sortiment Pinsel lag, die er selbst hergestellt hatte. Aus den Haaren seines Opfers in Köln. Und ob sich auch ein warmer Strahl aus seinem Unterleib ergossen hatte in dem Moment, in dem die junge Frau in Köln gestorben war.

Angeekelt warf er die Mappe auf den Tisch, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Je mehr er darüber nachdachte, umso sicherer wurde er, dass es sich im aktuellen Fall um den gleichen Täter handelte. Die Frage war, welche Motivation hinter den Taten steckte. Handelte es sich einfach um einen Wahnsinnigen, der sich zufällig die Romane von Christoph Jahn als Vorlage für seine abscheulichen Verbrechen ausgesucht hatte? Oder war es dieser größte Fan des Autors, der Briefeschreiber, der vier Jahre zuvor angekündigt hatte, etwas zu tun, dass Jahns Roman auf die Bestsellerliste bringen würde, wo er seiner Meinung nach hingehörte? Warum sollte er ausgerechnet nun, nach vier Jahren, wieder ein Verbrechen nach einem Jahn-Roman nachstellen? Erdmann öffnete die Augen, griff sich erneut die Mappe und ging sie weiter durch.

Er musste nicht lange suchen, bis er auf Kopien der Briefe stieß, die Jahn vor der Tat erhalten hatte. Es waren zwölf Blätter, chronologisch geordnet, inhaltlich waren sie größtenteils identisch:

Lieber Christoph,

ich möchte Ihnen sagen, dass ich Ihre Bücher über alles liebe. Sie sollen wissen: Nicht alle Ihre Leser sind so dumm wie die, die nicht erkennen wollen, von welcher Qualität Ihre Bücher sind.

Ihr größter Fan

Lieber Christoph,

bitte schreiben Sie weiter so. Ihre Bücher sind einzigartig. Ich hasse alle, die zu dumm sind, das zu erkennen.

Ihr größter Fan

So ging es weiter bis zum letzten Brief, der, wie Jahn auch schon erwähnt hatte, nur aus einem Satz bestand:

Lieber Christoph,

ich werde nun dafür sorgen, dass Ihre Bücher endlich dorthin kommen, wo sie hingehören.

Ihr größter Fan

Erdmann legte das letzte Blatt zur Seite und dachte darüber nach, ob jemand wirklich zum Mörder werden konnte, nur um den Verkauf eines Buches anzukurbeln. Aber er wusste aus Erfahrung, dass Menschen aus allen denkbaren und nicht denkbaren Gründen töteten.

Er widmete seine Aufmerksamkeit wieder den Unterlagen und suchte den Teil, in dem etwas über den Mann stehen musste, der als Einziger einen Vorteil aus diesen Scheußlichkeiten zog.