VIII
Zuvor
Sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wie viele Grausamkeiten ein menschlicher Geist verarbeiten konnte, bis der Verstand kapitulierte und irreversibel beschädigt war. In diesem Moment stellte sie sich die Frage, ob sie nun an diesem Punkt war. Nein, sie fragte sich nicht, sie war sich ziemlich sicher, dass das geschehen war. Denn sie ertappte sich bei Gedanken, die in ihrer Situation so verrückt waren, dass sie nur einem beschädigten Verstand entsprungen sein konnten. Gerade hatte sie dabei zugesehen, wie einem Menschen die Haut vom Körper abgezogen worden war. Anfangs, als das Monster die ersten Schnitte ausgeführt hatte, als die Hand mit dem Gummihandschuh einen Hautlappen packte und nach oben zog wie einen Pizzateig, hatte ihr Gehirn ohne ihr bewusstes Zutun dem Körper den Befehl gegeben, alles einzustellen. Das Denken, jegliche Bewegung, das Atmen. Sie hatte dagestanden, die Arme erhoben, die Beine leicht gespreizt, unbeweglich, erstarrt, wie tot. Ihre lidlosen, furchtbar schmerzenden Augen hatten mit angesehen, was das Monster tat, aber die Bilder waren in ihrem Gehirn angekommen wie eine fremde Sprache, die sie nicht verstand, von der sie nicht ein einziges Wort kannte.
Bis dieses Geräusch die Synapsen ihres Gehirns erreichte. Es hörte sich an, als zerreiße jemand ganz langsam ein Stück Stoff. Mit einem Mal war in ihrem Kopf die Verbindung da zwischen dem Bild des Skalpells, das sich unter dem Hautlappen hin und her bewegte, und diesem Geräusch. Da hatte ihr Gehirn den nächsten Befehl gegeben: Schrei! Und sie hatte geschrien, so, wie noch nie in ihrem Leben.
Wie lange mochte das nun her sein? Zehn Minuten? Zehn Stunden? Was spielte es für eine Rolle? Irgendwann hatte sie die Veränderung bemerkt, als sei sie nur eine Zuschauerin. Erst war aus ihren Schreien ein Krächzen geworden, dann war der Ton abgebrochen, nicht plötzlich, eher wie bei einem Wackelkontakt, bei dem die Töne erst nur noch bruchstückhaft und dann gar nicht mehr zu hören waren.
Das Monster hatte seine grausame Arbeit beendet, hatte ihr die Klebestreifen von den Augenlidern abgezogen und war gegangen. Eigentlich hätte sie etwas wie Erleichterung spüren müssen, aber das konnte sie nicht, und dafür gab es auch einen Grund: Vor ihr, direkt in ihrem Blickfeld, lag die gehäutete Frau.