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»Verdammt.« Georg Stohrmann klappte das Buch zu und warf es auf den Schreibtisch, vor dem Matthiessen und Erdmann standen. »Wissen Sie schon Näheres über den Inhalt? Ist es so, wie Diederich sagte? Wie genau stimmen die Fakten mit denen im Buch überein, und wie geht es im Text weiter? Müssen wir davon ausgehen, dass der Täter sich auch weiterhin an das Buch hält?« Er sah Matthiessen dabei direkt in die Augen. Sie hielt seinem Blick stand. »Wie Sie wissen, haben wir die Bücher eben erst bekommen.«

»Ja, Sie haben natürlich recht. Aber es hätte ja sein können, dass Sie schon während der Fahrt hierher darin gelesen haben, weil uns die Zeit davonrennt. Da habe ich wohl zu viel vorausgesetzt.«

Wieder eine dieser Spitzen. Erdmann war sicher nicht Matthiessens größter Fan, aber die Art, wie Stohrmann sich ihr gegenüber verhielt, war nicht in Ordnung. Was auch immer zwischen den beiden vorgefallen war, es gehörte nicht hierher. Er nahm sich vor, sie darauf anzusprechen. Sie arbeiteten zwar erst seit ein paar Tagen zusammen, aber immerhin waren sie ein Team.

»Ich habe zwei Kollegen an den Kölner Fall gesetzt«, sagte Matthiessen nun ungerührt. »Sie besorgen die Unterlagen und lesen sich online in den Fall ein. Der Täter ist damals nicht gefasst worden, es wäre also möglich, dass er Jahn nach Hamburg gefolgt ist und nun hier die Verbrechen des nächsten Romans nachstellt.« Und nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Hoffentlich hat der Autor sich bei der Anzahl der Opfer zurückgehalten.«

»Zumindest einen Vorteil haben wir.« Sowohl Stohrmann als auch Matthiessen sahen Erdmann fragend an, und er deutete auf das Buch. »Na ja, wir haben die Anleitung, nach der er vorgeht. Das heißt, wenn er sich wirklich genau an die Vorlage hält, wissen wir bald, was er als Nächstes tun wird.«

Matthiessen zog kurz die Mundwinkel nach unten. »Das hat den Kollegen in Köln damals offensichtlich nicht viel genützt.«

»Wissen Sie schon, wann genau das war?« Stohrmann sah Matthiessen dabei wieder an, und Erdmann hatte das Gefühl, Stohrmann hoffte, nein, er wollte, dass sie die Frage verneinte. »Wir sind am Ball«, antwortete er deshalb schnell. »Ich denke, die Kollegen müssten die Infos schon haben.« Stohrmann zögerte einen Moment, dann nickte er. »Also gut, bleiben Sie dran, wie Sie wissen, zählt jede Minute.«

Als sie nebeneinander den Flur entlang zum Treppenhaus gingen, sprach Erdmann das Thema an, obwohl er wusste, dass der Zeitpunkt alles andere als günstig war. »Was ist eigentlich mit Stohrmann los? Was hat er gegen Sie?«

»Wie kommen Sie darauf, dass er was gegen mich hat?« Es klang lange nicht so bissig, wie er es erwartet hatte, eher niedergeschlagen. Sie hatten das Treppenhaus erreicht, und er blieb stehen. »Ach kommen Sie, das ist ja wohl offensichtlich.« Matthiessen hielt an und wandte sich ihm zu. Eine gefühlte Ewigkeit sahen sie sich an, und sie schien darüber nachzudenken, was sie ihm anvertrauen konnte. Schließlich schlug sie die Augen nieder und betrachtete ihre Schuhe. »Das ist nicht mit ein paar Worten erzählt. Vielleicht ein anderes Mal.« Er hatte also richtig gelegen mit seiner Vermutung.

Als sie den Einsatzraum zwei Stockwerke tiefer erreicht hatten, empfing sie fieberhafte Geschäftigkeit. Die meisten Kolleginnen und Kollegen sammelten Infos zu Christoph Jahn und dem alten Kölner Fall, teils in der Datenbank, teils in Zeitungsberichten von damals. Drei weitere, unter ihnen auch Diederich, analysierten Das Skript, notierten alles, was für den Fall relevant erschien, lasen Online-Rezensionen und schrieben sich die Namen der Rezensenten auf.

Diederich berichtete, dass sie bisher erschreckende Parallelen, aber auch einen gravierenden Unterschied festgestellt hatten: Anders als im realen Fall schickte der Täter in Jahns Krimi das erste Päckchen mit dem makabren Inhalt nicht an eine Studentin, sondern an eine Tageszeitung. »Und auch alle weiteren Päckchen landen in der Redaktion«, fügte Diederich hinzu.

»Alle weiteren Päckchen?« Erdmann sah ihn fassungslos an.

»Ja, der Täter hält gleichzeitig mehrere Frauen gefangen, um immer an genügend Haut zu kommen. Es ist ekelhaft!«

»Das bedeutet, er hat nicht nur Heike Kleenkamp und zuvor die Tote, die wir heute Morgen gefunden haben, in seiner Gewalt, sondern wahrscheinlich noch weitere Frauen?«

»Ja, es sieht danach aus. Leider.« Diederich stockte. »Die Zahlen auf der Stirn des Opfers, eins bis zwei, bedeuten übrigens, dass auf der Haut der Frau die Kapitel eins und zwei geschrieben werden«, fuhr er dann fort.

»Und wie ist das bei Heike Kleenkamp?«, fragte Matthiessen.

»Wie es aussieht, ist sie für den Titel und die Kapitelnummern vorgesehen.«

»Kapitelnummern?«

»Ja. Eine Eins, eine Zwei und so weiter. Jede Kapitelnummer steht auf einer eigenen Seite

»Mein Gott, wer denkt sich so was aus. Wie ist das im Buch, lebt das Pendant zu Heike Kleenkamp da zu diesem Zeitpunkt noch?«

»Ich bin nicht sicher, wir sind noch nicht so weit, aber laut Roman tötet er diese Frau nicht sofort, sondern entfernt ihr immer nur dann ein Stück Haut vom Rücken, wenn er bald ein neues Kapitel beginnt.«

»Er … er häutet sie bei lebendigem Leib?« Matthiessen sah Diederich ungläubig an, doch der nickte mit betroffener Miene. »Mein Gott … Wir müssen diesen Irren stoppen. Schnellstmöglich.« Sie ließ sich Adresse und Telefonnummer des Schriftstellers geben und bat darum, sofort angerufen zu werden, falls es wichtige neue Erkenntnisse gab. Dann verließ sie zusammen mit Erdmann das Gebäude, um sich auf den Weg zu Christoph Jahn zu machen. Erst hatte sie vorher bei ihm anrufen wollen, um sicherzugehen, dass er zu Hause war, aber Erdmann hatte sie davon überzeugt, dass es von Vorteil sein konnte, Jahn nicht auf ihren Besuch vorzubereiten. So würden sie seine spontane Reaktion sehen können, wenn er erfuhr, dass Jahre nach dem ersten Fall nun wahrscheinlich ein weiterer seiner Romane als Vorlage für ein Verbrechen diente.

 

Volksdorf, das aufgrund seines Baumreichtums auch als eines der Walddörfer bezeichnet wurde, war knappe 15 Kilometer vom Hamburger Polizeipräsidium entfernt. Nach einer guten halben Stunde im Stadtverkehr, während der sie nicht viel sprachen, waren sie vor dem gepflegten, weiß verputzten Einfamilienhaus, das etwas zurückgesetzt in einer ruhigen Straße stand und von einer hohen Kirschlorbeerhecke umgeben war, angekommen. Erdmann parkte den Wagen am Straßenrand, dann betraten sie das Grundstück durch ein breites, schmiedeeisernes Tor, dessen beide Flügel einladend offen standen. Von dem gepflasterten Weg, der zu der Garage rechts neben dem Haus führte, zweigte etwa in der Mitte ein schmalerer Pfad in Richtung Haustür ab, der Rasen zu beiden Seiten leuchtete in einem für die Jahreszeit außergewöhnlich saftigem Grün. Kreisrunde Inseln erstrahlten im kräftigen Gelb der blühenden Osterglocken, die sich um Rhododendren gruppiert dem Himmel entgegenreckten. Erdmann drückte auf den mit einer runden Messingscheibe eingefassten Klingelknopf rechts neben der massiven Holztür. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis geöffnet wurde. Die Frau mochte Ende vierzig sein. Sie hatte dunkles, leicht gewelltes Haar, das ihr bis auf die Schultern reichte und von silbrigen Strähnen durchzogen war. Sie trug eine strahlend weiße Schürze mit Spitzen an den Rändern über einem dunklen Kleid, ihr rundliches Gesicht war kaum geschminkt. Erdmann dachte, dass eine Haushälterin genau so aussehen musste. Mit einer Mischung aus Freundlichkeit und Neugier sah sie sie an. »Ja, bitte?« Matthiessen stellte sich und Erdmann vor und fragte, ob Christoph Jahn zu sprechen war. »Ja, er ist zu Hause.« Sie trat zur Seite und gab den Eingang frei. »Bitte, kommen Sie doch herein. Sind Sie hier, um mit ihm über seinen neuen Roman zu sprechen?«

Matthiessen tauschte einen schnellen Blick mit Erdmann und sagte: »Nein, es geht um was Dienstliches.«

Die Frau führte sie durch eine kleine Diele in ein etwa 50 Quadratmeter großes Wohnzimmer, dessen Hinterseite fast komplett aus Glas bestand und einen wunderbaren Blick auf die Holzterrasse und den großen, sehr gepflegt wirkenden Garten erlaubte. Die überwiegend dunklen Schränke und Vitrinen wirkten massiv, in der schweren braunen Ledergarnitur erkannte Erdmann ein englisches Chesterfield-Möbelstück.

»Bitte, nehmen Sie doch Platz, ich werde Herrn Jahn sagen, dass Sie hier auf ihn warten. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?« Beide verneinten, und die Haushälterin verließ noch immer lächelnd den Raum.

»Hat diese Buchhändlerin nicht gesagt, er hätte schon vor Jahren mit dem Schreiben aufgehört?« Erdmann setzte sich auf einen der Sessel, die gegenüber der Couch an einem hellen Marmortisch standen. Matthiessen ging um den Tisch herum und ließ sich auf der Couch nieder. »Offensichtlich hat er sich entschlossen, doch wieder anzufangen. Wir können ihn ja gleich danach fragen.«

Sie mussten nicht lange warten, bis Christoph Jahn ins Wohnzimmer trat. Er war groß und schlank, sein kurzgestutztes Haar war komplett grau. Erdmann war kein Fan von Bärten, aber er stellte fest, dass der kurze, ebenfalls graue Vollbart dem Schriftsteller gut stand und sein Gesicht sehr interessant aussehen ließ. Als er nun auf Matthiessen zuging und ihr die Hand reichte, erinnerte er Erdmann stark an den Schauspieler Sean Connery.

»Guten Tag, ich bin Christoph Jahn. Helga sagte mir, sie sind von der Polizei und in einer dienstlichen Angelegenheit hier?«

Matthiessen erhob sich. »Ja, ich bin Hauptkommissarin Matthiessen, das ist mein Kollege, Oberkommissar Erdmann.« Er begrüßte auch Erdmann, setze sich dann auf den freien Sessel und sah Matthiessen wieder an. »Was kann ich für Sie tun?«

»Vor ein paar Jahren hat in Köln jemand einen Mord aus Ihrem Roman Der Nachtmaler nachgestellt. Der Täter ist damals nicht gefasst worden, und nun sieht es so aus, als würde hier in Hamburg das Gleiche wieder passieren, dieses Mal aus dem Roman Das Skript

Jahns Augen weiteten sich. »O nein.« Er strich sich mit der Hand über die Stirn. »Was ist geschehen?«

Matthiessen nickte Erdmann zu, und er erzählte dem Schriftsteller von der Entführung, dem Päckchen, das die Studentin erhalten hatte, und dem Mord. Jahns Gesicht wurde immer blasser, und als Erdmann die Zahlen auf der Stirn der Toten erwähnte, schlug er sich die Hand vor den Mund und sagte: »Allmächtiger.« Erdmann hätte nicht sagen können, warum, aber es wirkte auf ihn ein wenig gekünstelt.

»Ist es richtig, dass in Ihrem Roman eine der entführten Frauen nicht gleich getötet wird? Die Frau, auf deren Haut der Romantitel und die Kapitelnummern geschrieben werden?«

Jahn nickte. »Ja, das stimmt. Der Täter nimmt immer nur ein Stück ihrer Haut, gerade so viel, dass es für eine Seite ausreicht, auf die er dann die Kapitelnummer schreibt.«

Matthiessen beugte sich ein Stück nach vorne. »Wir denken, dass Heike Kleenkamp diese Frau ist. Sie wurde am Mittwoch entführt, der Titel des Romans kam am Samstagmorgen bei der Studentin an. Haben Sie eine Idee, warum der Täter an dieser Stelle von Ihrem Roman abweicht? Und … was glauben Sie, wie lange haben wir noch die Chance, Frau Kleenkamp lebend zu finden?« Jahn saß da und starrte vor sich hin. »Herr Jahn?«

»Ja, ich … also … bin wirklich geschockt, wie Sie sich vielleicht vorstellen können. Im Roman schickt der Täter jeden Tag zwei Seiten an eine Tageszeitung. Die Kapitel sind kurz, sechs, acht Seiten. Er braucht also jeden dritten oder vierten Tag eine neue Kapitelnummer.« Er machte eine Pause, schien für Sekunden abwesend zu sein, fing sich wieder, und auch dieses Mal hatte Erdmann dabei ein seltsames Gefühl. »Es wird also nicht sehr lange dauern, bis … na ja, sie wissen schon.« Eine erneute Pause. »Ich weiß nicht, warum das Päckchen an diese Studentin geschickt wurde. In meinem Buch geht es dem Täter ja darum, Aufmerksamkeit für seinen Roman zu erlangen. Mein Gott, die Vorstellung, dass … wie grauenvoll.«

»Erzählen Sie uns bitte von der Täterfigur aus ihrem Buch. Was ist der Täter für ein Mensch, und vor allem, was ist sein Motiv für die Taten?«

Jahns Haushälterin öffnete die Wohnzimmertür und blieb im Türrahmen stehen. »Kann ich Ihnen vielleicht jetzt etwas anbieten? Ein Wasser vielleicht, oder Kaffee?«

Erdmann und Matthiessen lehnten dankend ab, und Jahn sagte: »Danke, Helga, ich möchte im Moment auch nichts«, woraufhin sie leise die Tür hinter sich schloss. Jahn sah Matthiessen an. »Wo waren wir gerade?«

»Bei dem Täter aus Ihrem Roman.«

»Ach ja, stimmt. Entschuldigen Sie bitte, diese Sache hat mich vollkommen aus der Fassung gebracht. Hm … Er ist ein erfolgloser Schriftsteller. Sein erster Roman ist von allen Verlagen abgelehnt worden, selbst von den kleinen. Er ist wütend, er fühlt sich verkannt und möchte die Aufmerksamkeit für sein Buch, die es seiner Meinung nach verdient hat. Ihm geht es vordergründig gar nicht darum, diese jungen Frauen zu töten. Sie sind ihm egal, er benutzt sie, also ihre Haut, nur dazu, sein Machwerk auf spektakuläre Weise in die Presse zu bekommen. Er möchte der Welt zeigen, wie sträflich man ihn und seine Kunst verkannt hat.«

»Halten Sie es für möglich, dass der gleiche Täter, der dieses Verbrechen aus Ihrem Roman Der Nachtmaler vor vier Jahren in Köln begangen hat, Ihnen nach Hamburg gefolgt ist?«, wollte Erdmann wissen.

»Ich weiß es nicht. Möglich ist natürlich alles, aber … es gab keine Briefe.«

»Briefe? Was für Briefe?«, fragte Matthiessen.

»Die Fanbriefe. Wissen Sie davon etwa nicht? Das muss doch in den Akten stehen. In meinen Romanen hätten die ermittelnden Beamten das sicherlich in den Akten gelesen.«

»Wir sind noch nicht dazu gekommen, uns die Unterlagen aus Köln anzusehen«, erklärte Erdmann, mittlerweile leicht verstimmt. »Außerdem ist es manchmal nützlich, Informationen aus erster Hand zu bekommen. Sie als erfahrener Krimiautor wissen doch, dass es neben den vordergründigen Informationen auch immer Dinge gibt, die nicht in den Akten stehen. Was also hat es mit diesen Briefen auf sich?«

»Ich habe damals, ein paar Wochen bevor diese schreckliche Sache geschah, eine ganze Reihe von Fanbriefen erhalten. Jeden Tag kam ein neuer bei mir an. Der Inhalt war immer der gleiche: Dass ich der beste Krimischriftsteller bin, dass die Leute dumm sind, weil sie das noch nicht erkannt haben, dass meine Bücher ganz oben auf die Bestsellerliste gehören und so weiter und so weiter. Unterschrieben waren alle Briefe mit: Ihr größter Fan. Erst dachte ich mir nichts dabei, doch mit der Zeit wurde es mir unheimlich, und ich informierte die Kölner Polizei. Die konnten allerdings nicht viel tun, solange ich nur Briefe bekam. Irgendwann, es muss etwa vier Wochen nach dem ersten Schreiben gewesen sein, hörte es plötzlich auf. Wir dachten schon, der Spinner hätte es aufgegeben, doch nach ein paar Tagen kam ein weiterer, letzter Brief bei mir an. Der Inhalt bestand aus einem einzigen Satz: Ich werde dafür sorgen, dass Ihre Bücher dahin kommen, wo sie hingehören. Auch er war unterschrieben mit: Ihr größter Fan. Zwei Tage später fand man die Leiche der Frau. Der Täter hatte sie erst niedergeschlagen, dann erdrosselt und anschließend ihren nackten Körper komplett mit Ölfarbe bemalt. Genau wie in meinem Nachtmaler

»Was genau war mit dem Inhalt dieses letzten Briefes gemeint?«

Jahn betrachtete seine Handflächen. »Diese fürchterliche Geschichte wurde natürlich in der Presse breitgetreten. In allen Zeitungen waren die Stellen aus Der Nachtmaler abgedruckt, die nachgestellt worden waren.« Er machte eine kurze Pause, und weder Erdmann noch Matthiessen drängten ihn. »Sie wissen doch, wie die Leute sind. Plötzlich interessierten sich alle für das Buch, und es wurde gekauft wie verrückt. Radio- und Fernsehmoderatoren riefen bei mir an, alle wollten ein Interview mit mir. Es wurde spekuliert und gemutmaßt. Zwei Wochen nach dem Mord stand es auf Platz acht der Spiegel-Bestsellerliste, eine Woche später auf Platz zwei. Und damit wohl in etwa dort, wo mein größter Fan es sehen wollte.«

Matthiessen sah den Schriftsteller ungläubig an. »Dieser Verrückte hat also einen Menschen ermordet, damit Ihr Buch auf die Bestsellerliste kommt?«

»So sieht es aus, ja. Wahrlich ein großer Fan.«

»Hm …«, machte Erdmann. »Wie war das mit ihren anderen Büchern? Wenn ich richtig informiert bin, gab es zu diesem Zeitpunkt auch schon andere Bücher von Ihnen. Die haben sich doch dann sicher auch alle gut verkauft.«

Wieder ein langer Blick auf die nach oben gekehrten Handflächen. »Nun ja, nicht so gut wie Der Nachtmaler. Offensichtlich treffe ich den breiten Geschmack weniger, als dieser Fan das dachte. Wie dem auch sei, Der Nachtmaler verkaufte sich nach diesem Verbrechen und dem ganzen Rummel, der um das Buch gemacht wurde, sehr gut, aber viele derer, die es gekauft hatten, wollten wohl kein weiteres Buch von mir lesen. Der Nachtmaler hielt sich einige Zeit auf der Beststellerliste, aber die Verkaufszahlen der anderen Bücher erhöhten sich nur ganz kurz ein wenig, dann war der Rummel vorbei.«

»Stimmt es, dass Sie danach mit dem Schreiben aufgehört haben?«, fragte Matthiessen.

»Nicht gleich, ich hatte gerade erst mit Das Skript begonnen und musste meinen Vertrag erfüllen. Aber als ich das Manuskript dazu fertig hatte, war Schluss. Sie können sich wahrscheinlich nicht vorstellen, was es bedeutet, wenn Dinge, die der eigenen Phantasie entsprungen sind, plötzlich auf so grausame Weise Realität werden. Einerseits zeigt es natürlich, dass diese Taten so interessant sind, dass sie sogar nachgeahmt werden, andererseits – diese Frau in Köln könnte heute noch leben, wenn ich nicht die Anleitung zu dem Mord an ihr geliefert hätte. Nein, ich wollte und konnte danach nicht mehr schreiben. Der Gedanke, es könne vielleicht wieder jemand auf die Idee kommen, eines meiner Bücher als Vorlage für ein Verbrechen herzunehmen, war einfach zu schrecklich.«

Erdmann sah ihn ernst an. »Und doch ist genau das offenbar gerade geschehen.«

Jahn fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die grauen Haare. »Gott, das ist einfach fürchterlich.«

»Sagt Ihnen der Name Peter Dorscher etwas?«

»Ja, natürlich. Diesen Namen setzt der Täter in Das Skript als Absender der Päckchen ein.«

»Nicht nur im Roman, auch in der Realität. Herr Jahn, wir brauchen dringend Ihre Hilfe.«

Jahns Kopf fuhr hoch. »Meine Hilfe? Ich bin Schriftsteller, kein Polizist. Und wie sollte diese Hilfe denn aussehen? Möchten Sie, dass ich Ihnen sage, was Sie als Nächstes tun sollen?«

»Nein, es würde uns schon genügen, wenn Sie Ihr Buch gedanklich Schritt für Schritt durchgehen und dabei überlegen, was uns helfen könnte, diesen Irren zu fassen. Wie gesagt – Sie wissen das wahrscheinlich am besten, Sie haben das Buch geschrieben.«

»Ja, leider, muss man in diesem speziellen Fall wohl sagen. Also gut, wenn Sie es möchten, dann helfe ich Ihnen.«

»Fangen wir doch damit an, dass Sie uns sagen, was der Täter in Ihrem Roman als Nächstes unternehmen wird. Tut er etwas, bei dem wir ihm zuvorkommen können?«

Jahn dachte angestrengt nach, dabei rieb er sich unentwegt mit der Hand über die Barthaare am Kinn. »Hm … Die Frauen, die in meinem Roman entführt und getötet werden, sind allesamt Mitte bis Ende zwanzig, und es fällt bei diesen Frauen meist nicht sofort auf, wenn sie verschwinden, weil sie allein leben.« Wieder strich er sich mit der Hand über die kurzen Barthaare. »Und weiter hinten im Buch stellt sich heraus, dass zu dem Zeitpunkt, als das erste Päckchen, also das mit dem Titel des Buches, bei der Zeitungsredaktion ankommt, schon drei Frauen entführt worden waren. Der Täter macht das, weil … na ja – Er legt sich einen Vorrat an, weil auch das oberflächliche Gerben der Haut mit Aufwand verbunden ist und einige Zeit in Anspruch nimmt, er aber jeden Tag zwei neue Romanseiten veröffentlichen möchte. Wenn sich der reale Täter also wirklich genau an mein Buch hält, dann hat er bereits jetzt mehrere Frauen in seiner Gewalt. Und er wird ab jetzt jeden Tag eine von ihnen töten, ihnen die Haut vom Rücken schneiden und so bearbeiten, dass er sie aufspannen und darauf schreiben kann.«

»Das bestätigt unseren Verdacht, dass der reale Täter bereits jetzt mehrere Frauen gefangen hält«, sagte Matthiessen an Erdmann gewandt. »Und bereits eine von ihnen getötet hat.«

»Das ist aber leider nicht alles«, fuhr Jahn zögernd fort. »Im Buch …« Er brach ab.

»Was meinen Sie?« Erdmann wurde immer ungeduldiger.

»Im Buch hat er auch die nächste Frau schon getötet, er wird sie am Tag nach ihrem Tod, also morgen, präsentieren. Und immer bevor er eine der Frauen umbringt, sagt er zu ihr: Jetzt wirst du sehen, weil aus seiner Sicht alle, die sein Manuskript abgelehnt haben, nicht sehen.«

»Wo wird er die Leiche ablegen?«, fragten Erdmann und Matthiessen fast gleichzeitig.

»Hm … Mitten durch Kirstheim, also der Stadt, die ich für meine Romane erfunden habe, schlängelt sich ein schmales Flüsschen, über das an zwei Stellen Brücken führen. Unter einer dieser Brücken legt er sie ab.«

»Na wunderbar«, sagte Erdmann resigniert. »Das passt ja prima in der brückenreichsten Stadt Europas.«

Jahn sah ihn verwundert an. »Sie sagen das so vorwurfsvoll, als sei ich schuld daran, dass der Verrückte sich ausgerechnet Hamburg ausgesucht hat.«

»Ich denke, das hilft uns schon mal weiter, Herr Jahn.« Matthiessen erhob sich, Erdmann tat es ihr gleich. »Danke für Ihre Hilfe. Wenn Sie so freundlich wären, in den nächsten Tagen für uns erreichbar zu sein? Haben Sie ein Handy?«

Jahn nickte, dann stand er ebenfalls auf, ging zu einer Kommode aus dunklem, poliertem Holz und öffnete eine Schublade. Mit einer Visitenkarte kam er zurück zu der Sitzgruppe und gab sie Matthiessen. »Hier, unter dieser Nummer bin ich immer zu erreichen. Aber bitte – geben Sie die Nummer nicht weiter. Ich möchte nicht am Handy von Fans belästigt werden.«

Bevor Matthiessen darauf reagieren konnte, sagte Erdmann: »Ich weiß nicht, wie groß Ihr Erfahrungsschatz aufgrund Ihrer Recherchen ist, Herr Jahn, aber ich kann ihn an dieser Stelle um eine zusätzliche Information bereichern: Es gehört definitiv nicht zu den Gepflogenheiten von Polizeibeamten, Telefonnummern von Leuten weiterzugeben, mit denen sie während einer laufenden Ermittlung zu tun haben.«

»Oh, verstehe.« Jahn tat großzügig. »Da hab ich an der Ehre gekratzt, das tut mir natürlich leid.«

Matthiessen beendete das Gespräch, indem sie dem Autor ihre Karte hinhielt. »Hier, falls Ihnen etwas einfällt, was für uns wichtig sein könnte, rufen Sie mich bitte sofort an. Auf der Karte stehen sowohl meine Büro- als auch meine Handynummer. Auf jeden Fall melden wir uns aber wieder bei Ihnen.«

Sie nickte Erdmann zu und wandte sich zum Gehen. Erdmann blieb noch einen Moment stehen und hielt Jahn ebenfalls seine Karte hin: »Und wenn Sie meine Kollegin nicht erreichen, rufen Sie einfach mich an.« Er schielte zu Matthiessen hinüber, die nun auch stehen geblieben war und ihn grimmig ansah. »Eine letzte Frage hätte ich noch an Sie, Herr Jahn: Wovon leben Sie? Noch immer von Ihren Büchern?«

»Ähm … ja, schon.«

»Verdient man denn mit einem einzigen Buch, das auf der Bestsellerliste gestanden hat, dauerhaft so viel Geld, dass man damit seinen Lebensunterhalt bestreiten kann?«

»Nun, es ist ja nicht so, dass sich meine anderen Bücher gar nicht verkaufen würden. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Nein, von dem Geld, das ich mit Der Nachtmaler verdient habe, ist leider nicht mehr viel übrig.«

»Ihre Haushälterin sagte eben etwas davon, dass Sie an einem neuen Roman schreiben. Stimmt das?«

»Ja, ich schreibe seit ein paar Monaten an einem neuen Krimi. Ich muss zusehen, dass ich meinen Lebensunterhalt dauerhaft bestreiten kann.«

Matthiessen sah sich demonstrativ in dem Raum um. »Ich kann mir vorstellen, ein Haus in dieser Gegend ist nicht gerade günstig.«

»Das Haus habe ich geerbt, meine Tante hat es mir vermacht. Ich selbst hätte es mir wahrscheinlich nicht leisten können, und eigentlich wollte ich es verkaufen. Aber als diese Sache in Köln geschah, war das Haus eine Möglichkeit für mich, das alles hinter mir zu lassen und nach Hamburg zu ziehen.«

»Ah, verstehe … Tja, wie schon gesagt, wir werden uns bei Ihnen melden. Vielen Dank erst mal. Und bitte denken Sie darüber nach, ob uns etwas aus Ihrem Roman direkt helfen könnte, den Mörder zu schnappen. Als Kriminalschriftsteller haben Sie sicher ein gewisses Gespür dafür.«

Gefolgt von Christoph Jahn, verließen sie das Wohnzimmer. Als sie wieder im Auto saßen, sagte Erdmann kopfschüttelnd zu Matthiessen: »Mein Gott, wie kommt man auf solch kranke Ideen?«

»Wie kommt jemand auf die kranke Idee, die Phantasie eines Autors Realität werden zu lassen?«

Darauf wusste auch Erdmann keine Antwort. »Jetzt wirst du sehen. Was für ein Schwachsinn. Was denken Sie, wird mit Das Skript passieren, wenn die Presse erfährt, dass der Entführungsfall Heike Kleenkamp aus diesem Buch nachgestellt ist?«

»Ich weiß, was Sie meinen. Wahrscheinlich das Gleiche wie vor vier Jahren mit dem Nachtmaler. Die Leute werden es kaufen wie verrückt, es wird ein Bestseller werden, und Herr Jahn wird viel Geld verdienen.«

Erdmann nickte. »Genau.«