1 Eva
Eva erwachte in vollkommener Dunkelheit.
Ihr träges Bewusstsein tastete sich in eine noch nebulöse Realität zurück und versuchte, sich zu orientieren. Sie konnte nicht einordnen, was diese Schwärze zu bedeuten hatte. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie vielleicht die Augen noch gar nicht geöffnet hatte, und blinzelte zwei-, dreimal, doch die schwarze Wand blieb undurchdringbar.
In ihrem Schlafzimmer gab es einige Stellen, an denen sich ihr Blick festhalten konnte, wenn sie nachts erwachte. Das grün schimmernde Display des Radioweckers oder der schwache Lichtschimmer, der sich durch das Fenster drückte wie durch ein engmaschiges Sieb, um sich dann als leicht phosphoreszierender Staub auf die Konturen ihrer Kommode zu legen. Sie waren wichtig, diese Punkte. Sie waren beruhigend. Sie fehlten.
Oder waren sie etwa da, und sie konnte sie nicht sehen, weil etwas mit ihren Augen nicht stimmte? Ihr Atem beschleunigte sich, in kurzen, schnaufenden Zügen sog sie die Luft durch den geöffneten Mund ein. Stickige Luft. Warme, verbrauchte Luft?
Mit einem Ruck wollte sie sich aufrichten, doch die Bewegung wurde jäh gestoppt, als ihre Stirn mit einem dumpfen Knall aufschlug und ihr Kopf ins Kissen zurückfiel. Benommen registrierte sie den Schmerz, doch nur für einen Augenblick, dann erfasste sie Panik und fegte alle anderen Empfindungen beiseite.
Mit hektischen Bewegungen wollte sie die Arme anheben, zur Seite drücken – sie stieß gegen Wände. Sie versuchte die Knie anzuziehen, aber es gelang ihr nicht. Sie strampelte mit den Füßen, doch nach wenigen Zentimetern wurden die Bewegungen mit einem dumpfen Ton jäh gestoppt. Sie war eingeschlossen. Immer hektischer wand sich ihr Körper in dem engen Gefängnis, immer panischer wurde sie in dem Drang, sich bewegen zu müssen, sich aus der schwarzen Enge unbedingt zu befreien. Sie begann zu schreien, zu weinen, sie trommelte mit den Fäusten gegen die Decke, immer und immer wieder. Und lag schließlich still.
Ihr Brustkorb hob und senkte sich im Sekundentakt, jedes Ausatmen wurde von einem wimmernden Geräusch begleitet. Sie hörte sich selbst zu, während ihr Verstand auf der Suche nach einer Erklärung in der Leere herumstocherte, die in ihrem Kopf herrschte. Minutenlang, bis sich schließlich eine Schleuse öffnete und ihr Bewusstsein mit einem ganzen Schwall Gedanken flutete. Sie musste es schaffen, diese Gedanken aufzugreifen, die Panik zu unterdrücken. Sie hatte eine so unfassbare Angst, dass ihr Körper von zittrigen Schüben geschüttelt wurde. Sie musste nachdenken. Gott, sie war eingeschlossen. Angst. Nachdenken. Jetzt.
Um sie herum war nach allen Seiten nur wenige Zentimeter Platz. Die Luft roch verbraucht, schmeckte alt. Ihre Schläge gegen die Wände und die Decke ihres Gefängnisses waren durch etwas abgedämpft worden, vielleicht durch Decken oder dünnen Schaumstoff. Ihr Kopf lag auf einem weichen, dickeren Untergrund, wahrscheinlich einem Kissen.
Diese Schwärze machte sie wahnsinnig.
Vorsichtig hob sie eine Hand, ließ die Fingerspitzen tastend über das Material der Wand gleiten, drückte dabei immer wieder ungewollt fest dagegen, weil ihr Körper ihr nicht gehorchen wollte, sich schüttelte und zuckte. Das Material fühlte sich glatt an, wie Satin. Oder Seide. Auch die Decke über ihr war mit dem gleichen Material ausgekleidet. Wie … wie … Ihr Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb, immer schneller. Sie hielt den Atem an. Wie in einem Sarg.
Sie atmete nicht, dachte nicht, rührte sich nicht. Stille. Grabesstille.
»Nein«, flüsterte sie. »O Gott, bitte nicht. Nicht das. Bitte.« Ein Sarg. Sie lag in einem Sarg.
»NEIIIN!«, schrie sie, so laut sie konnte. Es tat ihr in den Ohren weh. Sie musste husten, ihr Körper krampfte sich derart zusammen, dass ihr Kopf wieder gegen den Deckel knallte. Sie wand sich, versuchte sich umzudrehen, noch immer hustend, schaffte es nicht. Sie verschluckte sich, drohte zu ersticken. Einem epileptischen Anfall gleich zuckten ihre Gliedmaßen unkontrolliert, knallten in einem unregelmäßigem Stakkato gegen die Wände und den Deckel. Sie verlor in ihrer panischen Raserei komplett die Orientierung, wand sich und schlug mit aller Kraft nach allen Seiten.
Irgendwann hörte sie damit auf, sie hatte keine Kraft mehr. Im Bruchteil einer Sekunde erschlaffte sie, als hätte man einen Stecker gezogen, und lag mit verdrehten Gliedmaßen da, das Gesicht schräg nach unten. Sie atmete in das kühle, glatte Kissen, hörte dem Rauschen zu, mit dem das Blut durch ihre Adern schoss. Sie weinte.
Wie war sie nur hierhin gekommen? Hatte man sie für tot gehalten? Warum? War sie scheintot gewesen? Wann? Sie hatte darüber gelesen, dass immer wieder Gräber geöffnet wurden, in denen seltsam verkrümmte Skelette lagen. Särge, deren Deckel von innen mit bloßen Fingernägeln zerkratzt worden waren. Hatte man sie etwa … lebendig begraben? Lagen über ihr mehr als eineinhalb Meter Erde? Nein, nein, das konnte doch nicht … das … Sie musste hier raus, sofort. »Nein!« Sie kreischte förmlich. »NEIN!« Sie mobilisierte all ihre Kräfte, sie drehte sich auf den Rücken, begann mit beiden Fäusten in die Schwärze hinein wie besessen gegen den Deckel über sich zu hämmern. Sie schrie so laut, dass sie das Gefühl hatte, ihre Lungen müssten platzen. Es war ihr egal, nur raus, nur raus, weiter hämmern, schreien, schreien. Plötzlich kippte sie zur Seite weg, sie …
Sie öffnete die Augen und kniff sie sofort wieder zusammen. Die gleißende Helligkeit schmerzte, sie … Aber warum? Wo kam diese Helligkeit plötzlich her? Das dumpfe Gefühl der Angst hatte sie noch immer fest im Griff. Vorsichtig hob sie die Lider, ein kleines Stück nur. Die Kommode, der Schrank, das Fenster … diese Helligkeit … sie war so wundervoll. Aber wie war das möglich? Gerade noch … der Sarg … begraben … ein Traum.
Sie hatte einen fürchterlichen Traum gehabt. Nur einen Traum.
Eva war derart erleichtert, dass sie kurz auflachte. Sie lag in ihrem Bett, sie lag wirklich in ihrem Bett, und alles war gut. Mehr noch, alles war fantastisch. Sie kuschelte sich tief in ihre Bettdecke, zog die Knie an und drückte einen Bettzipfel gegen ihre Wange. Da lag sie nun, eine 37jährige Frau, Chefin der Rossbach Maschinenbaubetriebe, zusammengerollt wie ein Baby in ihrem Bett, und war überglücklich, dass sie sich nicht lebendig begraben in einem Sarg befand, sondern nach einem bösen Albtraum gerade zu Hause in ihrem Bett aufgewacht war. Dass es ihr gut ging. Und es ging ihr gut. Viel besser als sonst beim Aufwachen.
Ihr Blick fiel auf den Radiowecker. Zehn vor neun, so lange hatte sie ewig nicht mehr geschlafen. Sie würde jetzt aufstehen und sich einen Kaffee machen. Mit einem Ruck schlug sie die Bettdecke zurück und hielt im nächsten Moment inne. Ihr Arm schmerzte, und nicht nur der. Ihr ganzer Körper tat ihr weh, besonders die Hände. Wieso merkte sie das erst jetzt? War die Erleichterung gerade beim Erwachen so groß gewesen, dass sie alles andere überdeckt hatte? Aber … wo kamen diese Schmerzen her?
Vorsichtig richtete Eva sich auf und schob die Decke ganz zurück. Dabei fuhr ihr erneut ein stechender Schmerz in Handgelenk und Ellbogen. Sie drehte den rechten Arm und sah bläulich-dunkle Flecke, die sich über die Handkante bis hin zu den Fingerknochen zogen. Sie drehte den Arm ein Stück weiter. Auch der Ellbogen zeigte ein Hämatom. Der linke Arm sah nicht besser aus. Sie sah an sich herunter und entdeckte auch an den Knien frische Blutergüsse. Die Fußgelenke schmerzten, wenn sie sie bewegte, und sogar die Zehen taten weh.
Wie war das möglich? Wo hatte sie plötzlich diese Verletzungen her? Hatte sie die schon am Abend gehabt, als sie ins Bett gegangen war? Aber wann war sie überhaupt ins Bett gegangen? Und wie? Sie konnte sich nicht erinnern.
Ihr wurde flau im Magen. Sie dachte an Arme, Hände, Knie und Beine, die gegen Wände schlugen. Dünn gepolsterte Wände.
Sie dachte an den Sarg.