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Gleich nachdem sie losgefahren waren, rief Matthiessen im Präsidium an und erkundigte sich nach dem aktuellen Stand. Dann meldete sie sich bei Stohrmann und berichtete ihm von ihrem Gespräch mit Jahn. Anschließend schwieg sie, sagte nur hin und wieder ein kurzes »Ja, verstanden.« Erdmann sah ihr an, dass sie das Gespräch mit ihrem Vorgesetzten alles andere als angenehm fand.
»Die Tote ist noch nicht identifiziert«, berichtete sie Erdmann, nachdem sie aufgelegt hatte. »Leider wird auch die DNA-Analyse des Hautstücks auf dem Rahmen noch dauern. Dieter Kleenkamp macht mächtigen Druck bei seinem Freund, dem Polizeipräsidenten. Der macht jetzt Stohrmann die Hölle heiß, und Stohrmann lädt seinen Frust bei mir ab. Wenn wir nur schon einen Schritt weiter wären! Warum zum Beispiel bekam ausgerechnet diese Studentin heute Morgen das Päckchen? Irgendeine Verbindung muss es doch geben. Auf jeden Fall werde ich dafür sorgen, dass ihre Wohnung überwacht wird. Jahn meinte, dass der Täter in seinem Roman jeden Tag zwei Seiten an die Zeitung schickt. Es ist also gut möglich, dass Frau Hartmann ab jetzt täglich Post bekommt.«
»Das dürfte morgen schwierig werden, sonntags gibt es keine Post, auch keine Päckchen von UPS.«
»Eben. Wenn der Täter an der Vorlage bleiben möchte, muss er sich für morgen was einfallen lassen. Und wir sollten überprüfen, ob es auch im Roman eine Zustellung am Sonntag gibt, und falls ja, auf welche Art.«
Erdmann dachte über Nina Hartmann nach und darüber, was sie gesagt hatte. »Na ja, eine Verbindung gibt es schon, wenn auch über mehrere Ecken. Sie sagte, sie schreibt hin und wieder einen Artikel für die HAT, und der Verleger der HAT ist der Vater des Entführungsopfers.«
»Ja, stimmt, aber das erklärt trotzdem nicht, warum jemand ausgerechnet ihr diesen abscheulichen Romananfang schickt, nachgestellt aus einem Buch von Christoph Jahn.«
Eine Weile sahen sie stumm auf die Straße, bis Erdmann fragte: »Hat sie eigentlich erwähnt, welche Art von Artikel sie für die HAT schreibt?«
»Nein, aber ich weiß auch nicht, welche Relevanz das haben sollte. Egal, ob sie politische Artikel schreibt oder über Wirtschaftsthemen, warum bekommt sie dieses Päckchen? Wäre sie mit einem Artikel jemandem derart auf die Füße getreten, dass der zu so drastischen Maßnahmen greift, dann hätte er doch wohl sie entführt und nicht die Tochter des Verlegers der Zeitung, in der der Artikel erschienen ist.«
Erdmann dachte darüber nach und kam nicht umhin, ihr recht zu geben. »Es würde mich aber trotzdem interessieren, was sie geschrieben hat. Was halten Sie davon, wenn wir sie anrufen?«
Er sah zu Matthiessen hinüber, die einen Blick auf die Uhr im Display des Armaturenbretts warf. »Gleich sieben. Kann sein, dass die Party ihres Freundes schon angefangen hat. Mal sehen.« Sie tippte an ihrem Handy herum. »Die Nummer habe ich ja noch von eben … ah, hier.«
Es dauerte einen Moment, dann sagte sie: »Ja, Frau Hartmann, hier ist noch mal Hauptkommissarin Matthiessen. Wie ich höre, hat die Party schon angefangen … nein, kein Problem, ich kann Sie verstehen. Sie haben in unserem Gespräch heute Nachmittag erwähnt, Sie haben einige Artikel für die Hamburger Allgemeine Tageszeitung geschrieben. Können Sie mir sagen, welcher Art diese Artikel waren und für welches Ressort?« Nach einer kurzen Pause dann: »Ah ja, verstehe. Gut, das war’s erst mal, vielen Dank, wir melden uns bei Ihnen.« Sie legte das Handy in der Mittelkonsole ab. »Sie schreibt Artikel für die Lifestyle-Seiten der HAT. Über Hamburgs Studentenszene, In-Kneipen, Modetrends und so weiter. Also bringt uns das auch nicht weiter.« Sie seufzte. »Wir haben noch nicht sehr viel, und die Zeit drängt. Stohrmann wird begeistert sein.«
Erdmann dachte an den Leiter der BAO Heike und das seltsame Verhältnis, das er zu Andrea Matthiessen zu haben schien. »Was halten Sie davon, wenn wir eine Kleinigkeit essen gehen? Ich hatte noch nichts zu Mittag, und mein Magen knurrt ziemlich.«
Sie schien einen Moment zu überlegen. »Einverstanden. Aber ich muss nachher noch einmal zurück zum Präsidium. Pizza?«
»Hervorragende Idee.«
Die Pizzeria »Da Toni« war nur mäßig gefüllt. Erdmann nahm an, dass der Andrang erst ein, zwei Stunden später einsetzen würde. Sie suchten sich einen Zweiertisch in einer durch einen Bambusparavent abgetrennten kleinen Nische aus. Ein Kellner kam strahlend auf sie zu, kaum dass sie saßen, reichte erst Matthiessen, dann Erdmann die Hand mit den Worten: »Willkommen in bella Italia«, und legte zwei in braunes Leder eingebundene Speisekarten auf den Tisch. Sie bestellten Mineralwasser, und der Mann, der tatsächlich Italiener sein konnte, rauschte lächelnd ab.
Matthiessen suchte sich einen Salat aus, Erdmann entschied sich für eine Pizza Diavola. Nachdem der Kellner die Bestellung aufgenommen hatte, sagte Erdmann: »Wollen Sie mir jetzt erzählen, was zwischen Ihnen und Stohrmann los ist?«
Sie umschloss mit beiden Händen das Wasserglas und starrte es an wie eine Kristallkugel. »Warum interessiert Sie das so sehr? Sie haben mir schon mehr als einmal deutlich signalisiert, was Sie von mir halten und davon, dass ich in der BAO Ihre Vorgesetzte bin. Warum sollte ich ausgerechnet Ihnen private Dinge erzählen?«
»Weil wir Partner sind, und weil Stohrmann unser gemeinsamer Vorgesetzter ist. Weil ich merke, dass das, was da zwischen Ihnen läuft, unsere Arbeit beeinflusst. Weil ich denke, dass ich deshalb ein gewisses Recht darauf habe zu erfahren, was los ist und wie sehr sich das noch auf unseren Dienst auswirken kann. Verstehen Sie das?«
Sie wurden von dem Kellner unterbrochen, der den Salat und die dampfende Pizza brachte und vor ihnen abstellte. Als sie wieder alleine waren, sagte Matthiessen: »Ich verstehe schon, was Sie meinen, Herr Erdmann, aber …«
»Wie wäre es mit einer Anrede, wie sie unter Kollegen üblich ist?«
Sie hielt inne und sah ihn eine Weile an, mit diesem nüchternen, abschätzenden Blick, den er an ihr vom ersten Tag an nicht gemocht hatte, den er jetzt aber gelassen über sich ergehen ließ. »Ich wundere mich«, sagte sie schließlich, und dabei huschte tatsächlich der Anflug eines Lächelns über ihr Gesicht. »Ich dachte, Sie mögen mich überhaupt nicht.«
Erdmann grinste. »Wer sagt, dass Sie sich geirrt haben?« Dann hob er das Wasserglas. »Also, wie sieht es aus? Andrea?« Auch Matthiessen griff nach ihrem Glas und hielt es dicht vor seines. »Gut, Stephan …«
»Auf dass wir diesen Irren schnell zu fassen bekommen.« Sie tranken einen Schluck, als hätten sie gerade mit Sekt angestoßen, und widmeten sich dann ihrem Essen.
»Wie ist das nun mit dir und Stohrmann?«, fragte Erdmann, nachdem er seine Pizza in Achtel geschnitten hatte wie einen Kuchen. »Warum verhält er sich dir gegenüber so seltsam?«
Matthiessen atmete tief durch. »Also gut, in der Kurzfassung: Als ich vor rund zehn Jahren zur Kripo kam, wurde ich erst mal einem erfahrenen Beamten zugeteilt, du kennst das ja. Er war sehr nett und hat sich geradezu rührend um mich gekümmert. Ich habe in kurzer Zeit sehr viel von ihm gelernt, und es war ein beruhigendes Gefühl, ihn als Partner zu haben. Ich wusste, ich konnte mich zu jeder Zeit auf ihn verlassen. Als wir etwa vier Monate zusammenarbeiteten, gingen wir in einem Mordfall einem Tipp aus der Bevölkerung nach. Wir überprüften einen Mann aus Dulsberg, dessen Fahrzeug angeblich zur angenommenen Tatzeit in der Nähe des Tatortes gesehen worden war. Als der Mann uns die Tür öffnete und hörte, wer wir waren, war er sehr freundlich und bat uns hereinzukommen. Wir … wir haben ihn beide falsch eingeschätzt. Im Wohnzimmer war er plötzlich hinter mir und zog meine Waffe aus dem Gürtelholster. Er muss sich mit Waffen ausgekannt haben, denn bevor mein Partner reagieren konnte, hatte er sie entsichert und auf ihn geschossen. Ich weiß nicht, warum er sich damit begnügte, aber ich hatte das Glück, dass er mich nur niederschlug, bevor er flüchtete. Ein paar Tage später wurde er bei einer Straßenkontrolle in Bremen gefasst. Mein Partner war schwer verletzt. Er starb zwei Tage später an den Folgen der Schussverletzung.« Sie stieß ihre Gabel in die Salatblätter und streifte sie wieder ab. »Es gab natürlich eine Untersuchung. Ich wurde entlastet, nicht zuletzt durch die Aussagen meines Partners, die er noch vor seinem Tod gemacht hatte.« Wieder stocherte sie in ihrem Salat herum. »Das tut mir leid«, sagte Erdmann und ließ einen Moment verstreichen, bevor er fragte: »Und auf welche Weise hatte Stohrmann damit zu tun?«
Matthiessen hob den Kopf und sah ihn aus feucht glänzenden Augen an. »Mein Partner damals, der Mann, der mit meiner Waffe erschossen wurde, hieß Dietmar Stohrmann. Er war Georg Stohrmanns älterer Bruder.«
»Shit«, entfuhr es Erdmann, und mit einem Mal konnte er nicht nur das Verhalten des BAO-Leiters einordnen, er glaubte nun auch den Grund für Matthiessens Pedanz zu kennen, wenn es um Dienstvorschriften ging, und ihren Ergeiz, alles zu einhundert Prozent richtig zu machen. »Aber wenn doch selbst dein Partner dich damals entlastete …«
»Georg Stohrmann warf mir trotzdem vor, dass ich schuld am Tod seines Bruders sei, und genaugenommen hatte er ja auch recht. Hätte ich besser aufgepasst …« Sie trank einen Schluck Wasser. »Ich ließ mich jedenfalls versetzen. Georg Stohrmann arbeitete in der gleichen Abteilung, und ich wollte es ihm wie mir ersparen, dass wir uns täglich sehen. Wir verloren uns aus den Augen, in den letzten zehn Jahren bin ich ihm recht selten begegnet, zwei-, dreimal bei Einsätzen, ein paarmal im Präsidium, und dabei konnte ich es immer so arrangieren, dass wir keine direkten Berührungspunkte hatten. Allerdings gab es immer mal wieder seltsame Zufälle, die dazu führten, dass ich miese Dienste bekam oder die unangenehmsten Fälle. Tja, und vor ein paar Tagen wurde ich dann in die BAO Heike als stellvertretende Leiterin abgestellt. Stohrmann hat mich explizit angefordert, und dafür kann es nur einen Grund geben: Er möchte mich bloßstellen, er möchte allen zeigen, dass ich unfähig bin und damals den Tod seines Bruders verschuldet habe.«
»Wenn er seine Privatfehde während der Dienstzeit auslebt und damit unsere Ermittlungsarbeit stört, zeigt er allerdings eher, dass er unfähig ist.«
Sie stieß ein kurzes Lachen aus. »Ja, das sehen … das siehst du so. Ich denke, er ist da ganz anderer Meinung.«
»Warum hast du den Posten als seine Stellvertreterin nicht abgelehnt?«
»Er hätte daraus abgeleitet, dass ich ein schlechtes Gewissen habe oder vielleicht sogar Angst vor ihm.«
»Hast du Angst vor ihm?«
Sie überlegte eine Weile, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, das habe ich nicht. Ich weiß, dass ich damals nicht geglänzt habe, aber das, was mir passiert ist, hatte nichts mit Unfähigkeit zu tun und hätte wahrscheinlich auch einem erfahrenen Kollegen passieren können. Damit konnte einfach niemand rechnen.«
»Gut, dass du das so siehst.«
Wieder stieß sie ihr kurzes, humorloses Lachen aus. »Das Resultat unendlicher Sitzungen beim Polizeipsychologen.«
Eine Weile aßen sie schweigend weiter, bis Matthiessens Handy klingelte. Das Gespräch dauerte etwa zwei Minuten, in denen Erdmann sich seiner Pizza widmete. Dann legte Matthiessen auf und sah wieder ihren Kollegen an. »Ein anonymer Anruf im Präsidium, eine Frau, im Hintergrund Musik. Sie hat eine Internetadresse durchgegeben und einen Usernamen – Doktor S. –, nach dem wir suchen sollen. Es handelt sich um eine Plattform, auf der man eigene Kurzgeschichten und Erzählungen veröffentlichen kann. Die Kollegen haben nachgeschaut und unter dem Namen zwei Kurzgeschichten gefunden.«
»Und? Was soll uns das helfen?«
»Es ist der User, der interessant ist. Über seine Mailadresse haben die Kollegen schnell seine Identität feststellen können.«
»Ja, und?«
»Die Texte stammen von Dirk Schäfer, Nina Hartmanns Freund.«