14
»Was haben Sie?«, fragte Erdmann, obwohl er die junge Frau sehr gut verstanden hatte. »Sie haben also diese Rezension geschrieben? Warum sagen Sie uns das erst jetzt?«
»Diese Rezension? Was heißt das?«, fragte sie, offensichtlich verwirrt. »Ich … ich wusste doch bis eben nichts davon, dass dieses furchtbare Ding etwas mit dem Jahn-Krimi zu tun hat.« Sie sah aus, als kämen ihr jeden Moment die Tränen.
»Sie haben ja recht, entschuldigen Sie.« Erdmann bemühte sich, seiner Stimme einen besänftigenden Klang zu verleihen.
»Wir haben gehört, Sie haben Christoph Jahns Roman ziemlich verrissen?«, sagte Matthiessen. »Was genau fanden Sie daran so schlecht?«
Nina Hartmann verdrehte die Augen. »Wo soll ich da anfangen? Das ist kein Krimi, das ist fast Splatter. Jahn beschreibt diese furchtbaren Morde an den Frauen so detailliert, als ergötze er sich an den Gräueltaten, die er sich selbst ausgedacht hat. Er lässt sie sich sogar gegenseitig dabei beobachten, wie sie stranguliert werden. Diese Szenen scheint er auszukosten. Viele andere Dinge, die wirklich wichtig wären, erwähnt er dagegen nur in einem Nebensatz. Es ist alles so unausgewogen, die Handlung ist dünn, seine Protagonisten bleiben flach und charakterlos. Die Handlungsorte hingegen beschreibt er geradezu akribisch und so ausführlich, dass man nach vier Seiten, auf denen ein Raum bis zum letzten Fitzelchen dargestellt wird, nach vorne blättert bis zu der Stelle, wo endlich wieder was passiert.«
»Da werden Frauen umgebracht? Scheint ein Buch für mich zu sein.« Christian Zender grinste wieder beifallheischend in die Runde, doch bevor Erdmann seinem erneuten Ärger über den Jurastudenten Luft machen konnte, wandte Zender sich an Nina Hartmann: »Mensch, Nini, warum hast du mir nie was davon erzählt?«
»Doch, das hab ich. Ich hab’s euch beiden erzählt, ich weiß es genau.«
»Kennen Sie eine Frau namens Miriam Hansen?«, fragte Matthiessen die junge Frau schnell und lenkte damit Erdmanns Aufmerksamkeit von Christian Zender weg. »Sie ist Buchhändlerin.«
»Miriam Hansen … eine Buchhändlerin …. Nein, die kenne ich nicht. Hat sie was mit dieser furchtbaren Sache zu tun?«
»Sie ist ein großer Fan von Christoph Jahn und fand Ihre Rezension nicht so toll.«
Die Studentin zuckte mit den Schultern. »Die Geschmäcker sind eben verschieden, und eine Rezension ist eine subjektive Sache. Für mich ist es unvorstellbar, dass jemand ein Fan dieses Autors sein kann. Aber am besten lesen Sie mal ein Buch von Jahn und machen sich selbst ein Bild.«
»Wir sind im Moment beruflich zum Lesen seines Buches verpflichtet. Ich muss allerdings gestehen, dass ich dieser Art von Literatur ebenfalls nichts abgewinnen kann.«
»Aiunt multum esse, non multa.«
Erdmann hielt es nicht länger aus. »Mir gehen Ihre lateinischen Sprüche langsam gehörig auf die Nerven. Also los, zeigen Sie uns schon, wie schlau Sie sind, und sagen uns, was das wieder hieß.«
Zender grinste nur. »Das heißt: Man sagt, man müsse vieles lesen, nicht vielerlei, Herr Kommissar.«
»Ich bin Oberkommissar.«
»Ja. Sie können das natürlich nicht wissen, aber mit Latein wird man während des Jurastudiums immer wieder konfrontiert, weil unser Rechtssystem historisch auf dem römischen Recht beruht. Das führt dazu, dass sehr viele Rechtsbegriffe ihren Ursprung im Lateinischen haben oder sogar komplett daraus übernommen sind. Ach, und die katholische Kirche wollen wir nicht vergessen, die durch ihren historischen Einfluss auch ihren lateinischen Teil zum juristischen Vokabular beigetragen hat. Das nur zur Erläuterung für meine Latein-Affinität. Und jetzt hab ich Durst.« Bevor Erdmann ihm noch etwas dazu sagen konnte, was er wusste und was nicht, stand Zender auf und ging in Richtung Flur.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Nina Hartmann, als der Jurastudent um die Ecke verschwunden war. »Möchten Sie vielleicht auch was zu trinken?«
Matthiessen schüttelte den Kopf, Erdmann betrachtete das Durcheinander an abgestandenen Getränkeresten auf dem Tisch vor sich und winkte ab. »Nein danke, nicht nötig. Sagen Sie, haben Sie diese Rezension vielleicht noch?«
Die junge Frau dachte einen Moment lang nach. »Ja, ich glaube schon. Aber natürlich nicht hier.«
»Kein Problem. Wann werden Sie voraussichtlich zu Hause sein?«
Sie sah zu ihrem Freund hinüber, der die Hände hob, als wolle er sagen: Das ist deine Entscheidung. Nach einem kurzen Blick über das Durcheinander sagte sie: »Wenn wir hier das Nötigste aufgeräumt haben, ich denke …«
»Du brauchst hier nicht aufzuräumen, das weißt du doch. Carlota wird bald hier sein, sie wird dafür bezahlt.«
»Hm … dann würde ich sagen, ich fahre in zehn Minuten los, dann bin ich etwa in einer halben Stunde zu Hause. Reicht Ihnen das?«
»Ja, das reicht.« Matthiessen erhob sich und stieß beim Zurückschieben ihres Stuhls ein Bierglas um, dessen restlicher Inhalt, eine gelbbraune Brühe, sich über den Parkettboden ergoss. »Oh, das tut mir leid«, sagte sie, doch Schäfer winkte ab: »Kein Problem. Was denken Sie, was letzte Nacht alles über dieses Parkett geflossen ist. Wie schon gesagt, Carlota wird gleich hier sein.«
»Trotzdem. Wir werden später entweder selbst bei Ihnen vorbeikommen, oder wir schicken Kollegen«, wandte sich Matthiessen an Nina Hartmann. »Ach, und sprechen Sie doch bitte mit ihrer Freundin, ob sie es war, die gestern Abend angerufen hat, ja?«
Als Matthiessen vor Erdmann das Chaos des Wohnzimmers verlassen wollte, wäre sie fast mit Christian Zender zusammengestoßen, der mit einer geöffneten Bierflasche in der Hand um die Ecke bog. Sie blieb so abrupt stehen, dass Erdmann fast gegen sie gelaufen wäre. Er betrachtete die Bierpulle und den wie immer grinsenden Studenten. »Ihnen scheint es ja schon wieder recht gutzugehen.«
Zender hob die Flasche an. »Ad fontes – zu den Quellen. Ein Feuer bekämpft man am besten mit einem Gegenfeuer, Herr Kommissar.«
»Ja, das mag sein. Abgesehen davon gebe ich Ihnen als Nichtlateiner und jemand, der über die historischen Hintergründe der Rechtsprechung nichts wissen kann, noch einen kleinen Tipp: Wenn Sie nicht lernen, sich so simple Dinge wie Dienstgrade zu merken, werden Sie sich in Ihrem späteren beruflichen Umfeld trotz Ihrer fulminanten Lateinkenntnisse nicht viele Freunde machen. Prost.« Zusammen mit Matthiessen verließ er die Wohnung, bevor dem Studenten wieder ein passender lateinischer Spruch einfiel.
Auf dem Weg zum Auto sagte Erdmann: »Komisch, dass die Buchhändlerin sich nicht an den Namen erinnert hat, als wir sie nach Nina Hartmann fragten.«
»Ja, das habe ich mir eben auch gedacht. Wo sie sich doch so sehr über ihre Rezension aufgeregt hat.«
»Na ja, zumindest ist die Wahrscheinlichkeit recht hoch, dass wir nun wissen, warum ausgerechnet Nina Hartmann das erste Päckchen bekommen hat.«
»Das stimmt, und wir können wohl davon ausgehen, dass dem Täter das, was Nina Hartmann über das Buch geschrieben hat, ebenfalls nicht gefallen hat.«
Sie hatten den Golf erreicht und stiegen ein.
Vierzig Minuten später standen sie wieder vor dem Haus in Volksdorf. Wie am Vortag öffnete Jahns Haushälterin freundlich lächelnd die Tür. Die gestärkte, blütenweiße Schürze sah frisch aus. »Ah, guten Tag, Sie möchten wieder zu Herrn Jahn?«
Matthiessen nickte. »Guten Tag, Frau Jäger, ja, wir haben noch ein paar Fragen an ihn. Ist er zu Hause?«
Helga Jägers Gesichtsausdruck veränderte sich so übergangslos, als hätte man am Computer in einer Bildergalerie zum nächsten Foto geklickt. Sie sah nun aus, als müsse sie einem Kind sagen, dass es das ersehnte Weihnachtsgeschenk nicht bekommt. »Nein, tut mir leid, er ist im Moment leider nicht da.« Jetzt umspielte wieder das mütterliche Lächeln ihre Lippen. »Aber Sie können gerne bei einer Tasse Kaffee auf ihn warten. Er wollte nur kurz weg und müsste spätestens in einer Viertelstunde zurück sein.«
Erdmann tauschte mit Matthiessen einen kurzen Blick, dann gingen sie ins Haus.
Sie setzten sich in die wuchtigen englischen Ledersessel und nahmen das Kaffeeangebot dankend an. Als Helga Jäger nach verblüffend kurzer Zeit die dampfenden Tassen vor ihnen abstellte, sagte Matthiessen: »Setzen Sie sich doch bitte einen Moment zu uns.«
Die Haushälterin sah einen kurzen Moment irritiert aus, dann aber strich sie in einer verlegen wirkenden Geste die Schürze über ihren Hüften glatt. »Ich habe noch was im Ofen, das verbrennt gleich. Ich würde das gerne noch erledigen, wenn Sie erlauben, dann komme ich sofort zu Ihnen.«
»Natürlich, wir warten hier.«
Erdmann nutzte die Zeit und sah sich das prall gefüllte Bücherregal an, das fast eine komplette Wand des Wohnzimmers einnahm. Moderne Romane fehlten dort fast gänzlich, dafür war aber von Heinrich von Kleist über Friedrich Nietzsche und Theodor Storm bis hin zu Rainer Maria Rilke, Thomas Mann und Max Frisch alles vertreten, was in der deutschsprachigen Literatur einen Namen hatte. Obwohl er nicht viel las, war Erdmann von dieser Sammlung doch beeindruckt. Matthiessen tippte derweil konzentriert auf ihrem Handy herum, wie Erdmann mit einem Blick feststellte.
Nach einer Viertelstunde kam Helga Jäger zurück, entschuldigte sich dafür, dass es so lange gedauert hatte, und ließ sich auf dem Sofa nieder.
»Frau Jäger, seit wann führen Sie schon den Haushalt für Herrn Jahn?«, stellte Matthiessen ohne Umwege ihre erste Frage.
»Ich habe etwa ein Jahr nachdem er nach Hamburg gekommen ist, bei ihm angefangen. Er hatte eine Stellenanzeige in die Zeitung gesetzt.«
»Wohnen Sie auch hier im Haus?«
»Ja, ich habe eine kleine Wohnung, zwei Zimmer, auf der anderen Seite.«
»Ah. Und sind Sie zufrieden? Ist er ein angenehmer Chef?«
Wieder strich sie sich über die Schürze, nun aber, da sie saß, nicht mehr an den Hüften, sondern über ihrem Schoß. »Aber ja. Ich habe wirklich keinen Grund, mich zu beschweren. Sicher, manchmal ist er schon ein bisschen launisch«, sie schmunzelte, »aber so sind doch alle Männer ab einem gewissen Alter, nicht wahr?«
Erdmann fühlte sich mit Ende dreißig nicht angesprochen. »Hat er mit Ihnen jemals über diese Sache damals in Köln gesprochen?«
»Sie meinen dieses Verbrechen, das jemand aus seinem Buch nachgemacht hat? Nein, also, darüber gesprochen wäre zu viel gesagt. Ich habe von Anfang an gemerkt, dass ihn etwas quält. Kein einziges Mal habe ich ihn lachen sehen, und als ich dann ein paar Wochen bei ihm war, habe ich eines Abends all meinen Mut zusammengenommen und ihn gefragt, was um alles in der Welt ihn so furchtbar traurig macht. Das war gar nicht so einfach, immerhin hatte ich die Stellung doch gerade erst angenommen, und es hätte ja genauso gut sein können, dass er mich für neugierig hält und mich wieder wegschickt. Aber er hat mich nur traurig angesehen, und dann hat er mir erzählt, dass in Köln ein Verrückter diese Tat aus seinem Roman wirklich begangen hat. Es war schlimm für ihn, wissen Sie. Dass jemand dieses scheußliche Verbrechen verübt hat, genau so, wie er es in seinem Buch beschreibt. Es war so schlimm, dass er mit dem Schreiben aufgehört hat. Ich habe ihn danach nie wieder darauf angesprochen.«
»Nun schreibt er aber doch wieder an einem neuen Roman«, warf Erdmann ein. »Verkraftet er diese Sache mittlerweile besser? Immerhin sind seitdem ja ein paar Jahre vergangen.«
»Wenn ich ehrlich sein soll …«, sie redete nun leiser, als gäbe es jemanden im Haus, der sie vielleicht hören könnte. »Ich glaube, es ist, weil er Geld braucht. Bücher schreiben macht ihm keinen Spaß mehr. Früher hat es ihm großen Spaß gemacht, glaube ich. Jetzt nicht mehr. Aber bitte – verraten Sie ihm nicht, dass ich das gesagt habe.«
»Nein, keine Angst, wir werden es nicht erwähnen.« Matthiessen griff nach ihrer Tasse und nahm einen Schluck.
»Sagen Sie, kennen Sie Miriam Hansen?«, fragte Erdmann. Die Haushälterin nickte und machte dabei ein Gesicht, als müsse sie über etwas Unangenehmes reden. »Ja, die kenne ich. Herr Jahn hat sie irgendwann mal zum Kaffee eingeladen, ich glaube, weil sie ihm immer wieder Mails geschrieben hat. Sie kam dann öfter her. Und in der letzten Zeit immer häufiger.«
»Was halten Sie von ihr? Mögen Sie sie?«
Helga Jäger wiegte den Kopf hin und her und zog dabei die Mundwinkel nach unten. »Nein, ich mag sie nicht so sehr. Sie sieht Herrn Jahn immer so komisch an. Ich glaube, sie ist irgendwie … ich weiß nicht wie ich es sagen soll. Irgendwie total vernarrt in ihn.«
»Und das schließen Sie daraus, wie sie ihn ansieht?«
»Eine Frau sieht so was, Herr … entschuldigen Sie, ich habe vergessen, was Sie sind. Kommissar?«
»Oberkommissar, schon gut.«
»Ja, genau, Herr Oberkommissar, es ist ihr ganzes Verhalten. Sie versucht immer, ihn zu berühren, wenn sie neben ihm sitzt, mit dem Arm oder dem Bein, so dass es aussieht, als sei es zufällig. Aber ich bemerke das. Eine Frau sieht so was.«
»Nun gut. Sie wissen, was gerade im Moment geschieht?«, fragte Matthiessen, und Helga Jäger nickte mit ernster Miene. »Ja, er hat es mir gestern erzählt, nachdem Sie gefahren sind. Mein Gott, ich habe in der Zeitung gelesen, dass die junge Frau vermisst wird, aber wer hätte so was ahnen können.«
»Herr Jahn war bestimmt ziemlich niedergeschlagen, als er Ihnen das gestern erzählt hat, oder?«, wollte Erdmann wissen. »Das hat ihn schon sehr getroffen, und …«, sie sah zur Tür, »ich glaube, Herr Jahn ist gerade nach Hause gekommen.«
Sie hatte recht, einen Augenblick später kam der Autor herein. Er trug eine dunkle Stoffhose, ein weißes Hemd, bei dem der oberste Knopf geöffnet war, und eine dunkelblaue Strickjacke darüber. Jahn sah nicht im mindesten überrascht aus, als er die beiden Beamten in seinem Wohnzimmer sitzen sah, was damit zu tun haben mochte, dass er den Golf auf der Straße vor seinem Haus gesehen und richtig zugeordnet hatte, überlegte Erdmann. »Guten Tag, ich hoffe Sie warten noch nicht lange auf mich?« Nach einem kurzen Blick zum Sofa, von dem seine Haushälterin sich in diesem Moment erhob, ging er zu Matthiessen und reichte ihr die Hand, dann begrüßte er Erdmann und setzte sich auf den Platz, auf dem gerade noch Helga Jäger gesessen hatte. Die Haushälterin verließ das Zimmer und schloss die Tür leise hinter sich.
Jahn sah ihr nach, bis die Tür geschlossen war, dann wandte er sich an Erdmann. »Sie haben ja offenbar schon ein wenig mit Helga geplaudert.« Seine Stimme klang lustlos. »Ich hoffe, sie haben sich gut unterhalten, sie ist wirklich eine treue Seele. Aber hergekommen sind Sie ja wahrscheinlich eher wegen mir. Was kann ich also für Sie tun?«
»Ja, das ist richtig«, sagte Matthiessen. »Herr Jahn, wie ist das mit Rezensionen über Ihre Bücher, lesen Sie die?«
»Ja, schon. Also, hauptsächlich in den ersten Wochen, nachdem ein Buch neu erschienen ist. Da möchte man als Autor natürlich wissen, wie es ankommt und was die Leser darüber denken.«
»Und danach?«
»Der Verlag …« Er wurde von seiner Haushälterin unterbrochen, die wieder hereingekommen war, um auch ihm eine Tasse Kaffee zu bringen. Er bedankte sich bei ihr, und sie verließ das Zimmer wieder. »Also der Verlag schickt mir in unregelmäßigen Abständen Kopien von Rezensionen aus Zeitungen und Zeitschriften. Davon lese ich auch noch einige.«
»Es gab im Dezember eine Rezension zu Das Skript in der Hamburger Allgemeinen Tageszeitung«, übernahm Erdmann. »Haben Sie die auch gelesen?«
»Natürlich, die kenne ich. Schließlich stand sie in einer Hamburger Zeitung.«
»Sie war nicht sehr schmeichelhaft für Ihr Buch. Kennen Sie die Rezensentin?«
»Nein, ich kenne sie nicht. Ich weiß nur noch, dass es kein bekannter Name aus der Hamburger Literaturszene war. Eine unbedeutende Schreiberin, vielleicht eine freie Mitarbeiterin der HAT. Ich gestehe, ich weiß nicht mal mehr ihren Namen.«
»Nina Hartmann heißt sie«, sagte Matthiessen. »Sagt Ihnen der Name etwas?«
Jahn dachte mit angestrengtem Gesichtsausdruck nach, schüttelte dann aber den Kopf. »Nein, tut mir leid. Ich habe das Gefühl, diesen Namen schon gelesen oder gehört zu haben, aber wirklich erinnern kann ich mich nicht an ihn. Wissen Sie, meine Bücher sind schon so oft in allen möglichen Medien besprochen worden, da kann man sich unmöglich alle Namen merken.«
»Ihr Gefühl täuscht Sie nicht, Sie haben diesen Namen schon mindestens einmal gehört, und zwar gestern, von uns. Nina Hartmann ist die Studentin, die das erste Päckchen bekommen hat.«
»Ja, natürlich, jetzt erinnere ich mich auch. Aber Moment … Sie sagen, diese Studentin hat den Verriss über mein Buch geschrieben, und jetzt bekommt sie die Päckchen, die in dem Buch vorkommen, das sie verrissen hat?«
»Ein Päckchen, um genau zu sein«, korrigierte Erdmann ihn. »Heute Vormittag erreichte eine weitere Sendung mit ähnlichem Inhalt die Redaktion einer Zeitung. Also ganz wie in ihrem Buch. Aber nun raten Sie mal, um welche Zeitung es sich handelt.«
»Die Hamburger Allgemeine Tageszeitung?«, kam es ohne Zögern. »So ist es.«
»Da sehen Sie es mal wieder, ein guter Kriminalschriftsteller wäre immer auch ein guter Polizist geworden. Es ist wie in meinem Roman. Dort gehen die Päckchen an die Verlage, die das Werk des Täters verschmäht haben, hier ist es die Zeitung, die den Verriss abgedruckt hat. Tja, das ist logisch.«
»Was wir nur noch nicht verstehen«, schaltete Matthiessen sich wieder ein, »warum weicht der Täter beim ersten Päckchen von der Romanvorlage ab, wenn er sich sonst so akribisch daran hält?«
Jahn zuckte resigniert mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, aber ich werde mir Gedanken darüber machen. Irgendeinen Grund muss es ja geben.«
»Wie denken Sie überhaupt über diese Rezension?« Erdmann rutschte auf dem Sessel ein Stück nach vorne. Die Sitzfläche war schon so durchgesessen, dass man unbequem tief einsank. »Sind Sie nicht wütend, wenn jemand Ihr Buch so niedermacht? Ich glaube, ich wäre stinksauer an Ihrer Stelle.«
»Ach wissen Sie, auch mit solchen Kritiken muss man leben, wenn man mit seinen Werken an die Öffentlichkeit geht. Die Geschmäcker sind verschieden, das Niveau der Leser auch.«
Die Antwort war Erdmann zu schwammig. »Können Sie denn nachvollziehen, was die Frau über Ihr Buch geschrieben hat?«
Der Autor wiegte den Kopf hin und her. »Nun ja, nachvollziehen … Wenn ich mich recht entsinne, fand sie die Figuren zu flach und die Handlung zu dünn. Das ist Ansichtssache, aber wenn sie es beim Lesen so empfunden hat, mache ich mir als gewissenhafter Autor natürlich Gedanken darüber, wie ich es hätte besser machen können. Ich glaube, sie schrieb auch von einem grundlegenden Missverhältnis in meinen Romanen. Ich sei zu detailverliebt, wenn es um Ortsbeschreibungen geht, dafür kämen aber Informationen, die für den Roman wirklich wichtig sind, viel zu kurz. Oder so ähnlich.« Er stockte, und Erdmann hatte das Gefühl, dass er nach Worten suchte und gut überlegte, was er sagen wollte. »Ich möchte niemand anderen für Dinge verantwortlich machen, die meine Bücher betreffen, aber … in diesem speziellen Fall trifft doch jemanden zumindest eine Teilschuld.«
Erdmann sah zu Matthiessen hinüber, die eine Braue hochzog. »Aha, und wer ist das ihrer Meinung nach?«
Wieder machte Jahn eine kurze Pause, in der er seine Hände betrachtete. »Mein Verlagslektor.« Nun sah er wieder auf. »Ich kann die Rezensentin zumindest in diesem Punkt verstehen und weiß genau, was sie meint. Dazu muss ich ein wenig ausholen.« Er sah von Erdmann zu Matthiessen, als warte er auf ihre Erlaubnis, woraufhin Matthiessen ihm mit einer Handbewegung andeutete fortzufahren. »Es stimmt, dass ich ein ausgesprochenes Faible für Beschreibungen habe. Mein Bestreben ist es stets, Dinge so genau zu beschreiben, dass die Leser sie bildlich vor Augen haben. Dabei ist es mir wichtig, dass vor den Augen aller Leser das gleiche Bild entsteht, verstehen Sie? Wenn Sie von zehn Leuten, die mein Buch gelesen haben, verlangen, sie sollen einen bestimmten Raum aus diesem Buch beschreiben, und alle zehn Beschreibungen sind identisch bis ins kleinste Detail, dann habe ich es richtig gemacht. Dabei hilft mir ein Trick: Ich beschreibe nur Örtlichkeiten, die real existieren. Ich setze mich zum Beispiel in eine Hotelhalle und schaue mir alles an, mache mir Notizen und viele Fotos. An meinem Schreibtisch dann nehme ich all das zur Hand und fange an, diese Halle zu beschreiben. Die Kunst dabei ist, bis ins kleinste Detail alles genau so aufzuschreiben, wie ich es auf den Fotos sehe, und dabei keinen noch so kleinen Gegenstand zu vergessen, der irgendwo herumsteht. Es sind nämlich diese kleinsten Details, die einen Raum nicht nur plastisch erscheinen lassen, sondern ihm Leben einhauchen. Wenn ich das richtig mache, werden Sie diese Hotelhalle sofort wiedererkennen, wenn Sie sie einmal betreten sollten, nachdem Sie meinen Roman gelesen haben.«
»Das klingt für mich bisher nach keiner schlechten Methode«, kommentierte Erdmann.
Jahn nickte. »Genau, das sage ich ja. Es ist die beste Methode, wenn nicht gar die einzige. Das ist ein richtiger Spleen von mir, und ich gestehe, ich bin auch stolz darauf, dass ein Handlungsort, den ich beschreiben möchte, am Ende eine absolute Eins-zu-eins-Kopie des Originals ist. Dafür muss man ein Auge haben. Alles muss absolut mit dem Original übereinstimmen, wenn es perfekt sein soll.« Kurze Pause. »Aber ich schweife ab. Worum es mir eigentlich geht: Genau so detailgenau habe ich auch die Handlungsstränge und meine Protagonisten beschrieben. Ich habe mir reale Personen vorgenommen und Kopien von ihnen in meinen Manuskripten angelegt. Bis zur letzten Haarsträhne, bis hin zum kleinsten Pickel auf der Stirn. Sie haben gelebt. Und an dieser Stelle kommt nun mein Lektor ins Spiel. Das hat ihm offensichtlich nicht gefallen, und so hat er meine Beschreibungen zusammengestrichen. Mit jedem Satz, den er herausnahm, wurden die Personen lebloser und blasser. Das ist so, als würde man in ein Wachsfigurenkabinett von Madame Tussauds gehen und die Figuren dort mit einem Föhn bearbeiten. Die Konturen würden verlaufen, bis man irgendwann nicht mehr erkennen könnte, wer dargestellt werden soll.«
»Und mit welcher Begründung hat Ihr Lektor das getan?«, wollte Matthiessen wissen.
Erdmann fand, dass der Grund auf der Hand lag: Der Lektor hatte Jahns Text geändert, weil er nicht gut war. Aber er war auf Jahns Antwort gespannt, und er war sicher, dass der Autor das anders darstellen würde.
»Ehrlich gesagt, es kam mir so vor, als ob der Lektor vor allem daran interessiert war, seinen Willen gegen mich durchzusetzen. Denn leider mochten wir uns vom ersten Tag an nicht, mein Lektor und ich.«
»Ich kenne mich im Verlagswesen und in der Buchbranche nicht aus. Haben Sie denn kein Mitspracherecht, was Änderungen an Ihrem eigenen Manuskript betrifft?«, fragte Matthiessen weiter.
»Doch, ich hätte meine Zustimmung verweigern können. Mit dem Resultat, dass der Lektor auf den Streichungen bestanden hätte und das Buch letztendlich so nicht veröffentlicht worden wäre. Im schlimmsten Fall wäre der Vertrag geplatzt, und ich hätte dem Verlag die Vorauszahlung zurückerstatten müssen. Das konnte ich mir aber finanziell nicht erlauben.«
»Kurzum: Ihre Bücher sind also nicht mehr das, was Sie eigentlich geschrieben haben«, stellte Matthiessen fest. »Und die Schuld für Kritiken wie die von Frau Hartmann sehen Sie in erster Linie bei Ihrem Lektor?« Das war keine Feststellung, sondern eine Frage.
Jahn überlegte nur einen Moment. »Ja, leider ist das so, denn das meiste von dem, was kritisiert wurde, hat er zu verantworten.«
Matthiessen nickte. »Würden Sie uns noch den Namen Ihres Verlags und Ihres Lektors nennen? Wir werden uns eventuell auch mit ihm unterhalten müssen.«
Jahn verstand und machte die Angaben. Der Lektor hieß Werner Lorth, mit »te ha«, der Name des Verlages sagte weder Erdmann noch Matthiessen etwas. Als Jahn eine Hamburger Adresse nannte, fragte Erdmann überrascht: »Ist das Zufall? Ich meine, Ihr Umzug ausgerechnet dorthin, wo Ihr Verlag seinen Sitz hat.«
»Ja, das ist Zufall, wie ich schon erwähnte, habe ich das Haus geerbt. Ähm … ich habe noch eine Bitte. Falls Sie mit Werner Lorth reden, dann tun Sie mir einen Gefallen und erzählen ihm nicht, was ich gesagt habe. Ich hoffe, dass der Verlag mein neues Manuskript annimmt, was Werner aber zu verhindern wissen wird, wenn er hört, was ich Ihnen erzählt habe. Er ist ziemlich rechthaberisch und sitzt leider am längeren Hebel.«
»Gut.« Matthiessen stand auf, und auch Jahn erhob sich. »Wir melden uns wieder bei Ihnen. Und bitte – denken Sie noch mal über diese Sache mit dem ersten Päckchen nach. Vielleicht haben Sie ja doch noch eine Idee, warum der Täter gerade in diesem Punkt von Ihrem Roman abweicht. Falls Ihnen etwas einfällt, rufen Sie mich bitte sofort an.« Erdmann steckte seinen Notizblock weg und folgte seiner Kollegin nach draußen.
»Und?«, fragte Matthiessen, als sie über den Pflasterweg das Grundstück verließen.
»Hm … Er ist schwer einzuschätzen. Er scheint an einer ausgeprägten Form von Selbstüberschätzung zu leiden. Ich weiß nicht, ich habe das Gefühl, man kann ihn nicht richtig packen. Aber grundsätzlich – ich sagte es schon mal – ist er für mich ein Spitzenkandidat.«
»Wir müssen uns dringend mit diesem Lektor unterhalten. Ich möchte wissen, ob es stimmt, was Jahn über ihn und seine Methoden erzählt hat. Und wir brauchen unbedingt noch mehr Informationen über Jahn.«
»Einerseits traut man ihm so was nicht zu, aber … er hat den größten Nutzen, wenn mit Das Skript nun das Gleiche passiert wie vor vier Jahren mit dem anderen Buch. Und ich bin mir sicher, dass die Verkäufe in die Höhe schnellen werden.«
»In dem Punkt magst du recht haben. Aber nicht nur Jahn wird von den Buchverkäufen profitieren. Der Verlag verdient mindestens genauso gut daran, wenn nicht besser.«