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Sie konnten mit dem Auto bis direkt an die Brücke heranfahren und kamen fast gleichzeitig mit dem Arzt an. Es war wieder der junge Mann, den sie auch schon zwei Tage zuvor im Stadtpark getroffen hatten. Er begrüßte sie mit einem kurzen Kopfnicken. Es regnete noch immer, und der Bereich vor der kleinen Brücke sah bis auf den schmalen Schotterweg, über den sie gekommen waren, sehr matschig aus. Matthiessen hatte neben ihrer Jacke und einem Schirm auch ein paar Gummistiefel hinter dem Beifahrersitz des Golfs deponiert, bevor sie losgefahren waren.

Sie öffnete die Beifahrertür, zerrte die Stiefel heraus und zog sie an. Die meisten der Männer und Frauen, die dort draußen herumliefen, waren ebenso gegen den Matsch gewappnet. Erdmann dachte an seine teuren Santoni-Schuhe und stieß einen Fluch aus. Matthiessen wandte sich im Sitzen zu ihm um, fragte nach seiner Schuhgröße und stieg aus, nachdem sie auch den Regenschirm hinter dem Sitz hervorgezogen hatte. Keine zwei Minuten später klopfte sie an die Fahrertür und hielt ihm ein paar weiße Stiefel entgegen, als er öffnete. »Hier, die Kollegen der Spurensicherung haben immer genügend Stiefel dabei. Sie sind zwar eine Nummer kleiner, als du wolltest, aber das muss jetzt mal gehen.«

Die Stiefel waren eng, aber Erdmann bekam sie an. Er stieg aus, stellte sich zu Matthiessen unter den Schirm und schlug den Kragen seiner Lederjacke hoch. Als er einige Meter neben dem Fundort Georg Stohrmann entdeckte, der einen riesigen Regenschirm hielt und mit einem Mann sprach, den Erdmann nicht erkannte, raunte er Matthiessen zu: »Herzlichen Glückwunsch, du hast einen kostenlosen Anschiss an einem Leichenfundort gewonnen.«

Die tote Frau war schräg unter einer kleinen Fußgängerbrücke am Ufer des Eppendorfer Mühlenteichs abgelegt worden. Ihre Unterschenkel und Füße ragten so aus dem Geäst eines Buschs heraus, dass man sie sehen konnte, wenn man von der Brücke aus über das Holzgeländer hinweg nach unten blickte. Der Täter wollte offensichtlich, dass sie gefunden wurde, aber es hatte wohl länger gedauert, als er dachte. Nach der Buchvorlage hätte sie schon am Vortag gefunden werden müssen.

Kurz bevor sie die Stelle erreicht hatten, drehte sich Stohrmann zu ihnen um. Die tief heruntergezogenen Mundwinkel und die zusammengekniffenen Augen sprachen Bände.

»Na, zu Ende gefrühstückt?«

»Danke, ja, wie steht’s mit Ihnen?«, entgegnete Erdmann, und er spürte, dass er an diesem Morgen nicht bereit war, einer Konfrontation mit Stohrmann aus dem Weg zu gehen. Der sah irritiert von ihm zu Matthiessen und zeigte dann auf die Tote. »Na, dann werfen Sie mal einen Blick hierauf. Aber achten Sie auf Ihr Frühstück, wär ja schade drum.« Stohrmann lächelte ironisch. »Anschließend möchte ich Sie sprechen. Ach, und bevor ich es vergesse: Ich habe heute Morgen den DNA-Abgleich aus Buchenfeld bekommen. Das Hautstück von gestern stammt von der Toten aus dem Stadtpark. Identifiziert ist sie aber immer noch nicht. Wird wohl noch eine Weile dauern, wenn keine Vermisstenmeldung vorliegt, die zu ihr passt.« Er wandte sich wieder dem Mann neben sich zu, den Erdmann nun aus der Nähe als den Leiter der Spurensicherung erkannte.

»Gibt es schon eine Nachricht zu dem nächsten Päckchen?«, sagte Matthiessen stoisch zu Stohrmanns Rücken, woraufhin der sich ihr missmutig zuwandte. »Laut Roman müsste heute Morgen die Fortsetzung kommen«, fügte Matthiessen erklärend hinzu.

»Ich werde Sie informieren, wenn ich etwas erfahre, Frau Hauptkommissarin. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.«

Idiot, dachte Erdmann und ging hinter Matthiessen her zu dem Gebüsch, in dem die tote Frau lag.

Jemand hatte die dünnen Äste schon so weit zurückgeschnitten, dass man einen freien Blick auf die Leiche hatte. Der Arzt stand neben ihr und gab einem Beamten mit einer Fotokamera Instruktionen, aus welcher Position heraus er weitere Fotos machen solle.

Die Frau lag auf dem Bauch, der Kopf ruhte auf der rechten Wange im Schlamm. Einzelne nasse Strähnen ihrer schmutzverklebten, hellen Haare lagen über ihrem Gesicht. Ihr Rücken sah fürchterlich aus, er ähnelte dem der Toten vom Samstag. Auch hier waren die freiliegenden Muskeln und das rohe Fleisch gespickt mit Schmutz, Blättern und Moos, aber durch den nassen Glanz wirkte der Anblick noch abscheulicher. Offenbar hatte der Täter sie achtlos auf den Rücken geworfen, als er sie ablud. Erdmann machte einen Schritt zur Seite und ging neben ihrem Kopf in die Hocke. Dass er dabei nass wurde, störte ihn nicht. Die wulstigen, in ihre Stirn geritzten Zahlen waren ebenso wenig zu übersehen wie die dunkle, blutverkrustete Wunde, die wie ein Ring um ihren Hals verlief. Erdmann betrachtete beides eine Weile und richtete sich wieder auf. »Sie ist für die Kapitel drei und vier gedacht.« Matthiessen begutachtete den morastigen Boden in unmittelbarer Nähe der Leiche. »Ja, genau so ist es auch im Buch. Mensch, Stephan –«

»Was?«

»Was glaubst du, wie viele Seiten lassen sich aus dem Hautstück machen, das da fehlt?«

Er betrachtete die riesige, glänzende Wunde. »Hm … ich weiß nicht, vielleicht zehn?«

»Nehmen wir mal an, es sind zehn. Das Skript hat an die 360 Seiten.«

»Ja, ich weiß.«

»Wir müssen diesen Irren stoppen, und zwar –«

Erdmann war dieses Stocken mitten im Satz und die Art, wie Matthiessens Körper sich dabei versteifte, mittlerweile schon vertraut. Ihr Telefon vibrierte. Mit einem Griff hatte sie es in der Hand. Das Gespräch dauerte nur eine Minute, in der Erdmann vergeblich versuchte, aus den einzelnen Satzfetzen zu schließen, um was es ging. »Komm mit«, sagte sie knapp, als sie aufgelegt hatte, und stapfte zu Stohrmann hinüber. Erdmann fiel auf, dass ihr Gesicht einen seltsam starren, fast verbissenen Ausdruck angenommen hatte. Er folgte ihr zu Stohrmann, der sie mit einem Blick bedachte, als sei sie ein lästiges Insekt.

»Einer der Kollegen in Nina Hartmanns Wohnung hat sich gerade gemeldet. Jemand hat eben die Wohnung betreten, und zwar mit einem Schlüssel. Sie haben gewartet, bis er in der Wohnung war, und ihn dann überwältigt. Es ist Christian Zender.«

»Zender?«, blaffte Stohrmann. »Ist das nicht dieser Jurastudent? Ein Freund von ihr?«

»Ja. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihm einen Schlüssel ihrer Wohnung gegeben hat. Jedenfalls nicht freiwillig.«

»Aha. Und was schließen Sie daraus?«

»Das weiß ich noch nicht.«

»Ja, das dachte ich mir.«

Erdmann holte tief Luft und wollte Stohrmann eine passende Antwort geben, doch Matthiessen legte ihm die Hand auf den Unterarm und drückte leicht zu. »Ich lasse ihn ins Präsidium bringen. Dort werden wir uns mit ihm unterhalten.«

Stohrmann machte eine fahrige Handbewegung: »Ja, fahren Sie. Ich bleibe dann hier im Dreck und kümmere mich um alles. Ich möchte sofort erfahren, was die Befragung des Kerls ergeben hat, verstanden?«

Ohne weiteren Kommentar gingen sie zum Wagen, und nachdem sie es geschafft hatten, die matschigen Stiefel auszuziehen und hinter den Sitzen zu verstauen, machten sie sich auf den Weg.

 

Christian Zender saß, von zwei Beamten bewacht, in einem leeren Büro in unmittelbarer Nähe des Einsatzraumes, das kurzerhand zum Verhörzimmer umfunktioniert worden war. Anders als bei ihren letzten Treffen aber hielt er sich mit provokanten Kommentaren zurück, als er sie sah. Allerdings konnte er sich trotz seiner Situation den Anflug eines Grinsens nicht verkneifen, als Matthiessen sich schräg vor ihn setzte und ihn ernst ansah. »Was haben Sie in Nina Hartmanns Wohnung gesucht, Herr Zender? Und woher haben Sie den Schlüssel?«

»Guten Morgen, Frau Hauptkommissarin. Na ja, wir waren zwar die halbe Nacht unterwegs und haben überall nach Nini gesucht, aber ich bin trotzdem ziemlich früh aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen. Ich mache mir ziemliche Sorgen um sie, und da dachte ich mir, ich schaue mal nach, ob ich vielleicht in ihrer Wohnung was finden kann, das uns weiterhilft. Frei nach dem Motto: Carpe diem. Jedenfalls schien mir das eine bessere Idee zu sein, als hellwach auf der Couch zu liegen und meinem Freund nebenan beim Schnarchen zuzuhören.«

»Sie haben also einen Schlüssel zu Frau Hartmanns Wohnung.«

»Ähm … ja, den hat Nini mir mal gegeben. Das war im Januar, glaube ich. Da war sie eine Woche weg, bei ihren Eltern. Und ihre Nachbarin und Dirk waren irgendwie auch nicht da oder hatten keine Zeit. Jedenfalls hat Nini mich gefragt, ob ich ihre Pflanzen gießen könnte in der Woche, und mir dafür den Schlüssel gegeben.«

»Die Pflanzen gießen?«, sagte Erdmann, woraufhin der Kopf des Studenten zu ihm herumflog. »Ja.«

Erdmann wandte sich einem der beiden Beamten zu. »Rufen Sie doch bitte bei Dirk Schäfer an und sagen Sie ihm, sein Kumpel Christian sitzt hier bei uns, weil er eben mit dem Schlüssel in Nina Hartmanns Wohnung eingedrungen ist, den sie ihm zum Pflanzengießen gegeben hat. Mal sehen, was der dazu sagt.«

»Muss das unbedingt sein? Dirk ist dann bestimmt sauer. Kann sein, dass er gar nichts von dem Schlüssel weiß. Ich möchte nicht, dass Nini Ärger bekommt deswegen.«

Erdmann nickte dem Beamten zu, und der verließ den Raum. »So, Sie möchten nicht, dass sie Ärger bekommt?«, fuhr er daraufhin Zender so harsch an, dass der zusammenzuckte. »Wie selbstlos von Ihnen. Ich glaube nicht, dass diese Art Ärger im Moment Frau Hartmanns Hauptproblem ist. Aber ich kann Ihnen versichern, dass Sie eine ganze Menge Ärger bekommen, wenn Sie mir nicht sagen, was Sie in der Wohnung wollten, Herr Zender. Sie wollten sehen, ob Sie was finden? Wie haben Sie sich dieses Finden denn gedacht? Sie gehen in Frau Hartmanns Wohnung, werfen einen Blick auf den Boden, und – hoppla, da liegt ja was, das uns weiterhilft, oder wie?«

»Nein, ich wollte –«

»Etwa in ihren Sachen wühlen? Ohne, dass Ihnen das irgendwer erlaubt hat? Ich sage Ihnen jetzt mal was, Sie angehender Jurist, das ist Einbruch. Damit haben Sie schon mal eine Menge Probleme am Hals, aber da ist noch was anderes, und das könnte weitaus schlimmer für Sie werden: Mir kommt langsam der Gedanke, Sie könnten vielleicht etwas mit dem Verschwinden von Frau Hartmann zu tun haben.«

»Was? Sind Sie … Ich meine, das ist doch absurd.«

Erdmann warf Matthiessen einen schnellen Blick zu, und sie nickte kaum merklich. »Absurd?«, blaffte er Zender an. »Ich denke da an Ihren lockeren Spruch, als Sie von der Entführung von Heike Kleenkamp erfuhren. Wenn ich jemanden entführen wollte, würde ich mir auch die kleine Kleenkamp aussuchen. Reich und ziemlich lecker. Das deutet nicht gerade darauf hin, dass eine Entführung für Sie nicht in Frage käme. Und dann Ihr Benehmen während unserer Gespräche. Nini hier und Nini da.«

»Aber ich …«

»Kann es sein, dass Sie heimlich in Frau Hartmann verliebt sind? Dass die Sie aber ignoriert, weil sie auf Beachboy-Ärzte steht und nicht auf Rechtsanwälte? Und dass Sie jetzt eine Gelegenheit gesehen haben, sich einfach zu nehmen, was Sie nicht freiwillig bekommen können, und die Tat diesem Irren in die Schuhe zu schieben?«

»Aber das ist doch vollkommener Blödsinn.«

»Was haben Sie in der Wohnung gesucht, Herr Zender?«

Christian Zender senkte den Kopf und sah auf seine Hände, die er auf dem Schoß liegen hatte. Er machte einen gelassenen Eindruck. »Das habe ich Ihnen doch gerade schon gesagt. Ich konnte nicht mehr schlafen, weil ich mir so viel Gedanken um Nini gemacht habe, und da fiel mir ein, dass ich ja noch den Schlüssel von ihr habe.« Er sah wieder auf, und Erdmann konnte in seinem Gesicht erkennen, dass ihm wieder etwas Schlaues eingefallen war. »Nini hat mir den Schlüssel freiwillig gegeben, also ist es auch kein Einbruch, wenn ich mit diesem Schlüssel ihre Wohnung betrete.«

»Das war zweckgebunden, wie Sie selbst sagten. Um während ihrer Abwesenheit ihre Pflanzen zu versorgen. Nur zu diesem Zweck hatten Sie den Schlüssel.«

Zender grinste. »Na ja, sie ist ja jetzt nicht da. Dann wollte ich eben ihre Blumen gießen.«

Erdmann schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte, was Zender zusammenzucken ließ. »Sie finden sich selbst wohl wahnsinnig originell und witzig, was? Und wahrscheinlich kommen Sie sich auch noch besonders schlau vor, wenn Sie hier sitzen und Ihre Späßchen reißen, während Sie Frau Hartmann wahrscheinlich irgendwo eingesperrt haben. Aber wir werden Sie hier festhalten, Herr Zender, wegen des dringenden Verdachts der Entführung und Freiheitsberaubung.«

»Das können Sie nicht«, Zender lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah Erdmann dabei selbstzufrieden an. »Contra legem, Herr Oberkommissar. Sie vergessen, dass Sie keinen ahnungslosen Teenager vor sich sitzen haben, der beim Klauen eines Marsriegels erwischt worden ist und dem Sie mit Ihrem Gerede Angst machen können, sondern einen angehenden Volljuristen, der sich mit der Gesetzeslage sehr gut auskennt. In vielerlei Beziehung wahrscheinlich sogar besser als Sie, Herr Oberkommissar.«

Der Beamte, den Erdmann gebeten hatte, Dirk Schäfer anzurufen, erschien in der Tür und gab Matthiessen ein Zeichen, woraufhin diese aufstand und den Raum verließ.

Christian Zender hob beide Hände. »Um mich hier festzuhalten, müssen Sie einen auf Beweise oder zumindest Indizien basierenden, also begründeten Verdacht gegen mich haben. Also, was genau werfen Sie mir vor, und welche Beweise haben Sie dafür?«

Erdmann konnte sich nur mit Mühe beherrschen, nicht einfach aufzustehen und diesen Schnösel am Kragen zu packen. Was ihm spontan in den Sinn kam, durfte er als Polizeibeamter leider nicht zu ihm sagen. Bevor er sich aber eine passende Antwort überlegen konnte, betrat Matthiessen wieder den Raum. Ihre Miene verhieß nichts Gutes, als sie vor Zender stehen blieb. »Ich habe gerade mit Dirk Schäfer gesprochen.« Ihre Stimme klang eisig. »Er hat bestätigt, dass Frau Hartmann Ihnen vor ein paar Wochen einen Ersatzschlüssel gegeben hat.« Zender sah zu Erdmann hinüber und hob unverschämt grinsend die Schultern, was wohl heißen sollte: Da sehen Sie es. »Er weiß das so genau, weil sie diesen Schlüssel ihm gegeben hat, nachdem sie ihn von Ihnen zurückbekam, Herr Zender.« Sie zog ihr Handy hervor und knallte es vor dem Studenten auf den Tisch. »Ich hoffe, Sie haben als angehender Volljurist gute Kontakte zu tatsächlichen Volljuristen. Rufen Sie Ihren Anwalt an. Sagen Sie ihm, Sie werden verdächtigt, eine Frau entführt zu haben.«