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Sie saßen müde und verschwitzt in Stohrmanns Büro und warteten. Erdmann hoffte, dass es nicht mehr allzu lange dauern würde, denn er fühlte sich so ausgelaugt und fertig wie schon lange nicht mehr. Auch Matthiessen sah so aus, als ob es ihr ähnlich ginge.
Stohrmann war auf dem Rückweg vom Krankenhaus und würde gleich vor einer ganzen Gruppe hochrangiger Polizeibeamter und Politiker Bericht erstatten müssen, denn der Fall war von großem öffentlichem Interesse. Zuvor wollte er aber ihren Bericht hören. Als er endlich zur Tür hereinkam, sagte er, noch bevor er seinen Schreibtisch erreicht hatte: »Ich möchte jetzt von Ihnen genau wissen, was da abgelaufen ist.«
»Wie geht es Frau Kleenkamp?«, ignorierte Matthiessen seine Frage.
Stohrmann setzte sich. »Sie wird einige hässliche Narben zurückbehalten, aber sie wird es überleben. Wie es seelisch aussieht, kann man noch nicht beurteilen. Sie ist kaum ansprechbar, und es wird auf jeden Fall eine sehr lange Zeit dauern, bis sie sich von dem Ganzen erholt hat. Und niemand kann mit Bestimmtheit sagen, was zurückbleiben wird. Dieter Kleenkamp aber ist erst mal überglücklich, dass seine Tochter noch lebt. Nina Hartmann ist weitestgehend unverletzt, aber sie steht unter Schock.«
»Und was ist mit Helga Jäger?«, hakte Matthiessen weiter nach.
Stohrmann zuckte mit den Schultern. »Kann sein, dass sie ihren rechten Arm nicht mehr wird bewegen können, Ihre Kugel hat ihr das Schultergelenk zertrümmert. Aber jetzt möchte ich von Ihnen hören, was sich in den letzten Stunden genau ereignet hat.«
Erdmann sah Matthiessen an. Sie nickte. Sie würde das übernehmen. »Bis vorgestern Abend war Helga Jäger ein fanatischer Fan von Christoph Jahn. Sie hat ihn verehrt, vielleicht sogar geliebt. Sie ist ihm von Köln nach Hamburg gefolgt und hat ihre Taten unglaublich präzise vorbereitet. Anders als in Köln wollte sie dieses Mal wohl sichergehen, dass Jahns Buch für lange Zeit auf der Bestsellerliste bleibt. Wir denken, sie wollte die gesamte Handlung nachspielen. Das hätte sich über Wochen hingezogen und viele Frauen das Leben gekostet. Auf Helga Jäger als Täterin sind wir gekommen, weil sie in der Teilnehmerliste von Nina Hartmanns Spanischkurs auftauchte. Das konnte kein Zufall sein. Sie hatte sich dort angemeldet, um Frau Hartmann kennenzulernen. Ihr Plan war es, Nina Hartmann anzurufen und unter einem Vorwand an einen bestimmten Ort zu bestellen, um sie zu betäuben und zu entführen. Und so ist es ja auch eingetreten.«
»Unfassbar«, sagte Stohrmann und schüttelte den Kopf. »Weiter.«
»Erst dachten wir, sie ist nur ein Handlanger für Jahn, aber dann ist dem Kollegen Erdmann etwas aufgefallen.« Sie nickte Erdmann zu. Er sollte Stohrmann selbst von seiner Entdeckung berichten.
»Es war mehr oder weniger Zufall. Ich habe mir die Fotos dieses nachgebauten Kellers angesehen, und dabei ist mir aufgefallen, dass der Täter mit dem Kopieren sogar so weit gegangen ist, ein Rohr einzubauen, an dem die Kollegin Matthiessen sich in Jahns Keller den Kopf gestoßen hat. Das hätte grundsätzlich zu Jahns Detailverliebtheit gepasst. Dann habe ich aber die entsprechende Stelle im Buch noch einmal gelesen. Dort ist der Keller bis in alle Einzelheiten so beschrieben, wie wir ihn in dem alten Gebäude vorgefunden haben. Der Heizbrenner, die Gegenstände, die in einem Regal liegen, einfach alles. Bis auf dieses Rohr.«
»Ich verstehe nicht … Hat Jahn das in der Buchbeschreibung vergessen?«
»Nein, so etwas würde Christoph Jahn nicht passieren. Dieses Rohr taucht in dem Buch nicht auf, weil es einfach noch nicht da war, als Jahn Das Skript geschrieben hat.« Stohrmann sah ihn noch immer verständnislos an. »Als die Kollegin sich in Jahns Keller den Kopf an dem Rohr stieß, hat er uns erklärt, dass es erst im Zuge einer Erweiterung der Heizungsanlage eingebaut worden war«, fuhr Erdmann fort. »Diese hat er aber erst machen lassen, als er schon eine Zeitlang in dem Haus wohnte, doch noch bevor Helga Jäger bei ihm anfing. Hätte Jahn selbst diesen Raum nachgebaut, hätte er sich streng an den Roman gehalten. Helga Jäger aber ist nicht nach der Beschreibung im Roman vorgegangen, sondern hat den Keller aus dem Gedächtnis nachgebaut. Denn sie wusste ja, wie der Keller im Original aussieht. Aber sie kannte ihn eben nur mit dem tiefhängenden Rohr der neuen Heizungsanlage.«
Stohrmann dachte eine Weile nach, dann schürzte er die Unterlippe. »Alle Achtung, Herr Erdmann, das war hervorragende kriminalistische Arbeit. Aber wenn sie das alles doch nur für Jahn getan hat, warum nennt sie ihn dann jetzt einen Betrüger?«
»Deshalb sagte ich eingangs, sie hat Jahn bis vorgestern Abend verehrt«, übernahm Matthiessen wieder. »Da nämlich hat sie erfahren, dass in Wahrheit Werner Lorth große Teile der Bücher, wie sie sie kennt, geschrieben hat.«
»Von wem hat sie das erfahren? Von Ihnen?«
»Nein, wir haben es Miriam Hansen erzählt, die Jahn daraufhin zur Rede stellen wollte, weil sie sich von ihm betrogen fühlte. Als sie bei ihm zu Hause ankam, war er allerdings nicht da, und da sie so enttäuscht war, hat sie seiner Haushälterin erzählt, warum sie ihn sprechen wollte. Für Helga Jäger brach eine Welt zusammen. Der große Autor Christoph Jahn ein Betrüger! Sie muss außer sich gewesen sein vor Enttäuschung und vor Wut. Alles hatte sie nur für ihn getan, und er hatte sie die ganze Zeit über belogen. Sie beschloss, ihm zur Strafe für das, was er ihr angetan hat, diese Morde unterzuschieben. Zuvor wollte sie aber sichergehen, dass das, was sie von Miriam Hansen erfahren hatte, auch stimmte. Also rief sie bei jemandem an, der es wissen musste: Werner Lorth. Und gab sich dabei als Miriam Hansen aus.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann sagte Erdmann: »Sie spielte uns die besorgte Haushälterin vor, der aufgefallen war, dass ihr Chef sich in den letzten Tagen verändert hatte. Dann versteckte sie die Pinsel, die sie wie in der Buchvorlage aus dem Haar ihres Opfers in Köln gemacht hatte, in Jahns Öltank. Sie präparierte das Buch, wobei sie kleine, ausgedruckte Namensschildchen benutzte, damit wir nicht merken konnten, dass es nicht Jahns Handschrift war, mit der die Eintragungen gemacht wurden. Natürlich war ihr klar, dass wir auch ihre Wohnung durchsuchen würden. Sie muss diesen Mietvertrag und das Fotoalbum, in dem sie die Zeitungsartikel über ihre Tat in Köln gesammelt hat, irgendwo außerhalb versteckt und erst nach der Durchsuchung wieder zurückgebracht haben. Sie rechnete wohl fest damit, dass wir ihre Wohnung nur einmal durchsuchen würden. Gestern rief sie dann Jahn an und sagte ihm mit verstellter Flüsterstimme, er müsse zu dem Fabrikkeller kommen und würde dort die Frauen finden Dann sollte er die Polizei anrufen und würde schließlich als Held dastehen. Sollte er sich allerdings weigern, würden Heike Kleenkamp und Nina Hartmann sterben. Frau Jäger baute darauf, dass wir ihn verfolgen würden. Dass er bei der Flucht vor der Polizei von einem Lkw erfasst werden würde, konnte sie natürlich nicht ahnen. Aber es kam ihr sehr gelegen.«
Stohrmann nickte abermals und starrte dabei auf einen Punkt vor sich auf dem Schreibtisch. »Ja, gut, das sollte reichen. Die Herrschaften werden zufrieden sein. Wenn ich Ihnen die Fotos von dem anderen Kellerraum zeige, in dem diese Wahnsinnige die Hautstücke der Toten und ihre Gerbutensilien gelagert hat, werden sie sowieso bedient sein.«
»Können wir jetzt gehen?«, fragte Matthiessen.
»Nein, wir haben im Anschluss noch eine gemeinsame Pressekonferenz. Ruhm und Ehre.«
Matthiessen verdrehte die Augen und stand auf. »Wir trinken im Einsatzraum so lange Kaffee, um wach zu bleiben.« Und an Erdmann gewandt: »Kommst du?«
Er schüttelte den Kopf. »Geh schon mal, ich bin gleich da.«
Sie sah ihn einen Moment überrascht an, drehte sich dann aber um und verließ Stohrmanns Büro. Als sich die Tür hinter ihr schloss, wandte Erdmann sich an den BAO-Leiter. »Ganz kurz, Herr Stohrmann. Andrea Matthiessen ist die fähigste und zuverlässigste Kollegin, die ich bisher hatte. Sie war da unten in diesem Keller ein absoluter Profi und hat durch ihren entschlossenen Einsatz Heike Kleenkamps Leben gerettet. Sie hat weder am Tod Ihres Bruders Schuld noch an dem des jungen Kollegen. Wie Sie sich ihr gegenüber verhalten, ist nicht akzeptabel. Zumal, wenn man bedenkt, dass es in Ihrer Laufbahn auch schon das ein oder andere gab, das nicht ganz astrein war, um es mal vorsichtig auszudrücken. Ich habe einen Cousin an exponierter Stelle, der mir einiges über Sie erzählt hat. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten: Ich plaudere gleich bei der Pressekonferenz ein bisschen aus dem Nähkästchen, oder aber wir vereinbaren hier und jetzt, dass mit Ihrer unsinnigen und unfairen Jagd auf Andrea Matthiessen ein für alle Mal Schluss ist, und mein Wissen bleibt bei mir. Also?«
Stohrmanns Gesichtszüge hatten sich verhärtet. Er starrte Erdmann in die Augen. »Sie erpressen mich?«
»Nein, ich zeige Ihnen Optionen auf.«
Sekundenlanges Schweigen, dann nickte Stohrmann. »Also gut.«
»Schön. Aber sollten Sie Ihre Meinung ändern, wenn der Rummel hier vorbei ist – Herr Kleenkamp freut sich immer über eine interessante Story, das wissen Sie.«
Stohrmann nickte stumm, stand auf und verließ sein Büro.
Auch Erdmann erhob sich. Er wusste weder etwas aus Stohrmanns Vergangenheit, noch hatte er einen Cousin an einer wichtigen Stelle sitzen.
Wer wagt, gewinnt, dachte er und ging müde, aber zufrieden zu seiner neuen Lieblingskollegin.