11
24. April
Als ihn der durchdringende Piepton des Radioweckers aus einem unruhigen Schlaf riss, fühlte Erdmann sich matt und unausgeschlafen. Widerwillig hievte er sich aus dem Bett. Doch als er eine halbe Stunde später ins Freie trat und den strahlend blauen Himmel sah, blieb er stehen und atmete die klare, frische Frühlingsluft tief ein. Danach fühlte er sich schon um einiges besser.
Um drei Minuten vor acht klingelte er an Matthiessens Haustür. Er hätte darauf gewettet, dass sie ihm mit angezogener Jacke öffnete, um sofort losfahren zu können. Umso überraschter war er, als sie auf Strümpfen in der Tür stand. »Guten Morgen.« Sie musterte ihn von oben bis unten. »Schwarze Jeans, weißes Hemd, graues Sakko, lässig elegant, wie immer.« Sie machte einen Schritt zur Seite. »Komm rein, ich hab noch eine Tasse Kaffee für dich.«
»Das hört sich gut an, ich bin sehr spät aufgestanden und hatte noch keinen.« Er wartete in der Diele, bis sie die Tür geschlossen hatte und an ihm vorbeigegangen war, dann folgte er ihr durch das entgegen seiner Erwartung sehr modern eingerichtete Wohnzimmer in die Küche. Das Zentrum des verhältnismäßig großen Raumes bildete eine Kochinsel, an deren Arbeitsplatte drei Barhocker standen, so dass der Bereich neben dem Induktionskochfeld gleichzeitig als Tisch genutzt werden konnte. Matthiessen deutete auf einen der Plätze, wo eine unbenutzte Kaffeetasse stand. Erdmann setzte sich und sah sich in dem hellen Raum um. »Schön hast du’s hier.«
»Das hört sich so an, als würde dich das überraschen.«
»Nein, warum sollte mich das überraschen?«, log er und sah Matthiessen dabei zu, wie sie seine Tasse unter den Vollautomaten stellte und den Knopf drückte. Er wartete, bis das Mahlwerk mit seiner lauten Arbeit fertig war. »Ich bin die Unterlagen aus Köln durchgegangen, und irgendwann war es zwei. Und ich hab trotzdem noch den Bericht geschrieben und weggemailt. Ein Lob bitte.«
»Nicht schlecht. Mir sind um kurz nach zwölf schon die Augen zugefallen. Aber ich war auch ganz froh, als ich nicht mehr lesen konnte. Ich bin ja bestimmt nicht zimperlich, aber die Art, wie Jahn diese Szenen beschreibt, in denen den Frauen die Haut vom Körper geschnitten wird … Ich weiß nicht, mir kam es so vor, als berausche er sich beim Schreiben selbst an der Vorstellung. Gott, wenn der Täter sich genau nach diesen detaillierten Vorgaben richtet …«
»Bisher deutet ja alles darauf hin, dass er es tut.«
»Ja, schrecklich. Wir müssen diesen Irren so schnell wie möglich stoppen, bevor er noch weitere Frauen und schließlich auch Heike Kleenkamp umbringt!«
Sie schwiegen kurz, dann wollte Matthiessen wissen: »Und wie war es bei dir? Hast du was entdeckt, das uns nützlich sein könnte? Vielleicht etwas zu Christoph Jahn?«
Erdmann trank vorsichtig einen kleinen Schluck, dann erzählte er Matthiessen, was er in den Unterlagen gefunden hatte.
Natürlich hatten die Kölner Kollegen den Autor überprüft. Immerhin hatte ihm die Tat plötzlich einen beruflichen Erfolg beschert, den er ohne das Verbrechen wahrscheinlich nie gehabt hätte. Jahns Aussagen waren stellenweise sehr widersprüchlich gewesen, was er damit erklärt hatte, dass ihn die ganze Sache psychisch stark belaste und er Schuldgefühle hatte, weil es sein Roman war, der als Anleitung für den Mord gedient hatte. Zunächst hatte er auch keine Angaben darüber machen wollen, wo er zur Tatzeit gewesen war. Als die Kölner Kollegen ihm mit einem Haftbefehl drohten, rückte er dann aber doch damit heraus, dass er die fragliche Nacht mit einer verheirateten Frau verbracht hatte. Er selbst war alleinstehend, aber er hatte sie schützen wollen, wie er erklärte, darum habe er so lange geschwiegen.
»Jahn hatte letztendlich also doch ein Alibi, nachdem diese Frau bestätigt hat, dass sie in der fraglichen Nacht mit ihm zusammen war. Und das, obwohl sie verheiratet war und diese Aussage für sie recht unangenehm gewesen sein durfte. Damit schied er als Täter aus.«
»Und wenn sie für ihn gelogen hat? Was würdest du denken, wenn er kein Alibi gehabt hätte?«
»Dann wäre er für mich definitiv ein Spitzenkandidat.«
Matthiessen trank ihre Tasse leer und stellte sie dann zusammen mit seiner in die Spülmaschine. »Dann sollten wir für den aktuellen Fall vielleicht einfach mal vergessen, dass diese Frau damals sein Alibi bestätigt hat. Was meinst du?«
Erdmann stand auf. »Ich meine, wir sollten uns heute noch mal mit ihm unterhalten.«
»Gut, aber zuerst fahren wir ins Präsidium. Mal sehen, ob es Neuigkeiten gibt. Außerdem sollte die DNA-Analyse von diesem Hautstück mittlerweile vorliegen. Ich zweifle zwar nicht mehr daran, dass es von Heike Kleenkamp stammt, aber wer weiß …«
In der Stadt herrschte sonntags um diese Zeit wenig Verkehr, so dass sie zügig zum Bruno-Georges-Platz durchkamen. Als sie den Einsatzraum betraten, war es kurz vor neun. Außer ihnen waren bereits zwei Kollegen und eine Kommissarin anwesend. »Ist Stohrmann schon da?«, fragte Erdmann die junge Beamtin, die er nur flüchtig kannte. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, außer uns ist noch niemand hier.«
»Gibt’s was Neues?«, wandte Matthiessen sich an alle. »Ist die Analyse von diesem Hautstück da?«
Einer der beiden Männer reichte ihr wortlos zwei lose Blätter, die an der oberen Ecke zusammengeklammert waren. Matthiessen brauchte nur ein paar Sekunden, dann nickte sie. »Heike Kleenkamp, wie erwartet. Sonst noch was?« Schweigen, Kopfschütteln. »So ein Mist«, entfuhr es Erdmann, und Matthiessen nickte. »Wir können davon ausgehen, dass Dieter Kleenkamp nun noch mehr Druck machen wird. Er ist Verleger einer großen Zeitung, das heißt, wenn wir nicht schnell etwas vorweisen können, werden die Artikel in der HAT dementsprechend negativ ausfallen.« Und nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Und wer will es ihm verübeln.«
Die Tür wurde geöffnet, und Jens Diederich betrat mit einem Mann den Raum, den Erdmann nicht kannte. Er war untersetzt, hatte einen pechschwarzen Vollbart und trug ein Notebook vor sich her wie ein Serviertablett.
»Guten Morgen zusammen«, sagte Diederich, nickte Erdmann zu und wandte sich an Matthiessen. »Gut, dass Sie schon da sind. Kennen Sie den Kollegen Hunsinger?«
»Computerspezialist, nicht wahr?« Matthiessen warf einen Blick auf das Notebook. »Der Computer von Heike Kleenkamp? Haben Sie was gefunden?«
Hunsinger legte das Notebook auf dem Tisch ab, klappte es auf und drückte den Einschaltknopf. »Unter den gespeicherten Dateien auf dem Rechner konnte ich nichts Außergewöhnliches finden. Behördenbriefe, ein paar Tabellenkalkulationen, viele Dokumente für ihr Studium.« Auf dem Bildschirm rauschten die typischen Systemmeldungen vorbei. »Dann habe ich mir ihre Mailbox angesehen.« Der Computer war fertig hochgefahren, und mit zwei Klicks öffnete Hunsinger unter den Blicken der anderen das Programm, mit dem Heike Kleenkamp ihre E-Mails verwaltete. Auf der linken Seite wurden verschiedene Ordner angezeigt, in denen sie ihre Nachrichten offenbar nach Themen abgespeichert hatte.
Hunsinger klickte auf einen Ordner namens BAO. »Den habe ich angelegt, damit ich nicht lange suchen muss.« Der Ordner enthielt zwei Mails, Hunsinger klickte die obere an und trat einen Schritt zurück, damit die anderen besser sehen konnten. »Schauen sie sich das mal an.« Erdmann beugte sich noch ein kleines Stückchen weiter nach vorne, dann konnte auch er die Mail lesen.
Von: m.hansen@kleine-buecherecke.info
An: heike-kleenkamp@t-online.de
Betreff: Rezension
Gesendet am: 16. 12. 2010, 9:17 h
Frau Kleenkamp,
fassungslos habe ich heute in der Zeitung Ihres Vaters eine Rezension zu Christoph Jahns Buch »Das Skript« gelesen und muss Ihnen sagen, dass ich sehr, sehr wütend bin. Ich bin ein großer Fan des Schriftstellers und finde, er ist mit Abstand der beste deutschsprachige Krimiautor der Gegenwart. Anders jedoch als wahrscheinlich bei der Rezensentin ist diese Meinung durch meine Ausbildung zur Buchhändlerin fachlich fundiert.
Wie können Sie nur ein Geschreibsel in Ihrer Zeitung veröffentlichen, das das Werk eines so talentierten Schriftstellers wie Christoph Jahn in solch billiger, effektheischender Weise diffamiert?
Diese Frau nennt den Roman klischeeüberladen, konstruiert, sprachlich auf unterstem Niveau und so weiter und so weiter. Schämen Sie sich eigentlich gar nicht, so etwas zu veröffentlichen? Wissen Sie, was Sie diesem Mann damit antun?
Die Verfasserin dieser Rezension ist eine unbedeutende Person, ihr Schandwerk wäre nie an die Öffentlichkeit gelangt, wenn Sie und Ihr Vater es nicht in Ihrer Zeitung abgedruckt hätten. Sie haben diesem Schund erst Bedeutung verliehen und durch die Veröffentlichung in Ihrer Zeitung diesem wundervollen Schriftsteller unrecht getan und großen Schaden zugefügt.
Ich fordere Sie nachdrücklich auf, sich in der morgigen Ausgabe von diesem unsagbaren Machwerk zu distanzieren.
Miriam Hansen
»Das ist ja ein Ding«, entfuhr es Erdmann. »Die unscheinbare Frau Hansen, wer hätte das gedacht. Die verteidigt ihren Christoph Jahn ja mit Zähnen und Klauen. Aber warum schreibt sie nicht direkt an Herrn Kleenkamp, den Herausgeber der HAT, oder die Kulturredaktion? Verstehst du das?«
Matthiessen zuckte nur mit den Schultern. »Nein, keine Ahnung.«
»Hier, es gibt auch noch eine zweite Mail«, unterbrach Hunsinger sie und rückte nach ein paar Klicks das Notebook wieder so, dass alle den Monitor einsehen konnten. Die zweite Nachricht war im Vergleich zur ersten sehr kurz:
Von: m.hansen@kleine-buecherecke.info
An: heike-kleenkamp@t-online.de
Betreff: Re: Re: Rezension
Gesendet am: 16. 12. 2010, 13:34 h
Frau Kleenkamp,
es ist sehr bedauerlich, dass Sie und Ihr Vater kein Einsehen haben und aus purer Ignoranz das Schaffen eines wundervollen Künstlers zunichtemachen wollen. Die Konsequenz daraus haben Sie selbst zu verantworten.
M. Hansen
am: 16. 12. 2010, 13:03 h schrieb heike-kleenkamp@t-online.de:
Liebe Frau Hansen,
es tut mir leid, aber weder mein Vater als Herausgeber der Hamburger Allgemeinen Tageszeitung noch ich können oder möchten Einfluss auf die Meinung einer Rezensentin ausüben. Sie als Buchhändlerin werden sicher wissen, dass eine Buchrezension immer nur subjektiver Gestalt sein kann und nichts anderes als die Meinung des Verfassers oder der Verfasserin widerspiegelt. Ich kann Ihnen lediglich vorschlagen, ebenfalls eine Rezension zu verfassen und an die Kulturredaktion der HAT zu schicken. Vielleicht wird sie von der zuständigen Redakteurin zum Abdruck ausgesucht.
Ich hoffe auf Ihr Verständnis.
Mit freundlichem Gruß
Heike Kleenkamp
»Die Konsequenz haben Sie selbst zu verantworten? Das klingt nach einer Drohung.«
»Was klingt nach einer Drohung, Herr Erdmann?« Erdmann fuhr herum, und auch Matthiessen zuckte zusammen. Sie hatte offenbar ebenso wenig wie er mitbekommen, dass Stohrmann den Einsatzraum betreten hatte.
»Guten Morgen«, sagte Erdmann kühl. Er hasste es, wenn jemand sich nicht mal die Mühe machte zu grüßen, wenn er zu einer Gruppe dazustieß. Auch wenn es sich bei diesem Jemand um einen Vorgesetzten handelte.
»Der Kollege Hunsinger hat auf Heike Kleenkamps Notebook zwei interessante E-Mails gefunden«, übernahm Matthiessen die Erklärung. »Sie stammen von Miriam Hansen, der Buchhändlerin, von der wir die …«
»Zeigen Sie mal her«, unterbrach Stohrmann sie barsch und drückte sich zwischen ihr und Erdmann hindurch vor das Notebook. Erdmann warf Matthiessen einen vielsagenden Blick zu, doch die schlug die Augen nieder, und er spürte Ärger in sich aufsteigen. Chef hin oder her, dem Mann fehlte ganz offensichtlich jegliche Sozialkompetenz.
»Na, das sieht doch gut aus. Von welcher Rezension ist da die Rede?«
»Das wissen wir noch nicht«, sagte Matthiessen kühl, »aber anhand des Datums sollte das herauszufinden sein.«
»Es sollte vor allem schnell herauszufinden sein, Frau Matthiessen. Ich gehe davon aus, Sie werden der Dame sofort einen Besuch abstatten.«
»Wir machen uns gleich auf den Weg. Und danach fahren wir noch mal bei Nina Hartmann vorbei.«
»Anschließend möchte ich einen Bericht haben.« Stohrmann wandte sich ab und verließ den Einsatzraum.
Erdmann zögerte nur kurz, dann sagte er: »Bin gleich wieder da«, und folgte ihm. Nach wenigen Metern hatte er Stohrmann eingeholt. »Kann ich Sie mal kurz sprechen?«
Stohrmann blieb vor dem Fahrstuhl stehen und drückte den Nach-oben-Knopf. »Was gibt’s? Ist Ihnen noch was eingefallen?«
Erdmann sah sich auf dem Flur um, sie waren allein. »Es geht um die Kollegin Matthiessen.«
Stohrmann zuckte kaum merklich zusammen. »Aha, und? Wollen Sie sich über sie beschweren?«
Während Erdmann mit einem erneuten, schnellen Blick den Flur kontrollierte, öffnete sich die Fahrstuhltür, und er ging hinter Stohrmann hinein. »Nein, keine Beschwerde, im Gegenteil. Mir ist aufgefallen, dass Sie Frau Matthiessen etwas … wie soll ich es ausdrücken … schroff behandeln.«
»So, das ist Ihnen also aufgefallen.« Der Fahrstuhl hielt mit einem sanften Ruck, und die Tür öffnete sich. Sie verließen die Kabine und gingen nebeneinander über den Flur in Richtung Stohrmanns Büro. »Herr Erdmann, eigentlich geht es Sie nichts an, wie ich meine Mitarbeiter führe, aber da wir an einem hochsensiblen Fall arbeiten, ist es mir wichtig, dass das Team funktioniert …« Sie hatten sein Büro erreicht, und Stohrmann bedeutete ihm mit einer Geste einzutreten. Erdmann setzte sich auf einen Stuhl vor den Schreibtisch und sah dem BAO-Leiter dabei zu, wie er umständlich Platz nahm und die Hände auf dem Schreibtisch wie zum Gebet verschränkte. »Hat Frau Matthiessen sich Ihnen gegenüber beschwert?«
»Nein, ich habe sie konkret angesprochen, weil mir aufgefallen war, dass die Stimmung zwischen ihr und Ihnen nicht die allerbeste ist, und nach langem Hin und Her hat sie mir schließlich von dieser Geschichte mit Ihrem Bruder erzählt.«
»Es wird also hinter meinem Rücken über mich geredet.«
Erdmann zwang sich dazu, ruhig zu bleiben und sich nicht über Stohrmanns Reaktion aufzuregen. »Ich arbeite mit Hauptkommissarin Matthiessen zusammen. Da ist es doch normal, dass ich nachfrage, wenn ich das Gefühl habe, es stimmt was nicht. Und ebenso normal ist es, dass ich mich mit meinem Vorgesetzten darüber unterhalte. Zumindest sollte es das sein.«
Stohrmann nickte grimmig. »Ich kann mir ungefähr vorstellen, was die gute Frau Matthiessen Ihnen erzählt hat. Sie hat ihre Version schon öfter zum Besten gegeben.«
»Würden Sie mir denn Ihre Version erzählen?«
»Ich denke, wir haben zurzeit Wichtigeres zu tun.«
Erdmann wollte sich damit nicht zufriedengeben. »Was ich nicht verstehe: Wenn es persönliche Differenzen zwischen Ihnen gibt – warum haben Sie sie dann als Ihre Stellvertreterin angefordert?«
Stohrmann war sichtlich überrascht. »Das hat sie Ihnen erzählt? Dass ich sie angefordert habe?«
»Ja«, sagte Erdmann überrascht.
Stohrmann schüttelte den Kopf. »Na ja, was wundere ich mich überhaupt noch.« Er ließ die Hand geräuschvoll auf die Schreibtischplatte fallen. »Herr Erdmann, ich glaube, wir sollten die Befindlichkeiten von Frau Matthiessen nun mal etwas zurückstellen. Wir müssen eine entführte Frau finden, die jeden Moment getötet werden kann. Falls es nicht schon geschehen ist. Sie können jetzt gehen.«
Erdmann wollte Stohrmann fragen, was er mit dieser Anspielung gemeint hatte, ob es etwa nicht stimmte, was Matthiessen ihm erzählt hatte. Aber nach einem Blick in Stohrmanns versteinerte Miene sah er ein, dass es keinen Zweck hatte. Er stand auf und verließ das Büro. Das Gespräch mit seinem Vorgesetzten hatte nicht gerade zur Klärung der Dinge beigetragen. Im Gegenteil.