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25. April

Erholt wie lange nicht mehr, wachte Erdmann um kurz nach sechs auf. Er dachte darüber nach, die Gelegenheit zu nutzen und ein paar Kilometer zu joggen, überlegte es sich aber nach einem Blick nach draußen anders. Es war zwar noch dunkel, aber auf die nass glänzenden Holzstühle und den kleinen Tisch auf seinem Balkon prasselte es unaufhörlich herab. Aprilwetter. Also stellte er sich eine Dreiviertelstunde auf den Cross-Trainer, der in einem Nebenzimmer Staub ansetzte, dann duschte er, frühstückte und parkte seinen Passat kurz vor acht vor Matthiessens Haus, wo er auch an diesem Tag stehen bleiben sollte.

Matthiessen empfing ihn mit einem missbilligenden Blick zum Himmel und einem knappen: »Mistwetter. Komm rein.« Ihr Gesichtsausdruck wollte ihm dabei gar nicht gefallen.

»Ist was?«, fragte er, während er ihr ins Hausinnere folgte. »Hat Stohrmann dich auch angerufen?« Sie drehte sich dabei nicht um, und er hatte Mühe, sie zu verstehen. »Nein, warum? Was ist los? Etwas Neues von Nina Hartmann?«

Sie waren in der Küche angekommen, und sie deutete auf ihr Notebook, das aufgeklappt auf dem Tisch stand. Er sah es schon, bevor er den Tisch überhaupt erreicht hatte. Eine große Überschrift in roter Schrift, zweizeilig über die gesamte Breite des Displays: Häutet irrer Killer in Hamburg Frauen nach Romanvorlage? Die Zeile direkt darunter lautete: Auch entführte Tochter des Herausgebers der HAMBURGER ALLGEMEINEN TAGESZEITUNG in seiner Gewalt?

»So ein Mist«, entfuhr es ihm.

Er setzte sich vor den Computer. Direkt neben der Überschrift waren zwei kleinere Fotos eingefügt, eines zeigte das Cover von Das Skript, das andere konnte Christoph Jahn sein, mindestens fünfzehn Jahre jünger. Der Artikel gehörte zur Online-Ausgabe einer der größten und bekanntesten deutschen Blätter der Yellow Press.

»Ja, Mist, allerdings. Stohrmann hat mich heute Nacht um drei angerufen, er hat getobt wie ein Verrückter. Kurz zuvor haben die von dem Schmierblatt schon Telefonterror im Präsidium veranstaltet und wollten Details wissen. Sie sagten, sie haben einen konkreten Hinweis bekommen. Nun rate mal, wer Schuld daran hat, dass die Info an die Presse gegangen ist?«

Erdmann riss sich von dem Text los und sah zu ihr hoch. »Aber das ist doch Schwachsinn, das muss doch selbst er merken. Wir mussten nun mal einigen Leuten davon erzählen. Was kannst du denn dafür, wenn einer von denen seinen Mund nicht hält. Was hat Stohrmann denen heute Nacht gesagt?«

»Ich weiß nicht genau, was er ihnen gesagt hat, aber er musste wohl zugeben, dass Jahns Roman nachgestellt wird.«

»Warum hast du mich nicht angerufen?«

»Was hätte das gebracht?«

»Hm … Und was ist mit Nina Hartmann?«

»Noch nichts Neues.«

»Mist.« Er betrachtete wieder den Artikel. »Hast du eine Idee, wer den konkreten Hinweis gegeben haben könnte?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Nun ja, die Auswahl ist ja nicht allzu groß: Jahn, Lorth, Hansen, Zender, Schäfer. Aber Hansen, Zender und Schäfer haben nichts davon, dass sich nun eine sensationsgierige Menge auf Jahns Buch stürzen wird.«

»Zumindest nach dem, was wir bisher wissen. Wobei, wenn ich bedenke, wie sehr diese Buchhändlerin Jahn verehrt, und außerdem verdient sie ja auch an jedem verkauften Buch … Aber ich tippe auf diesen selbstverliebten Affen, der mit Worten mordet. Das ist seine Chance, dass das Buch, dessen wahrer Autor er ist, nun ein Bestseller wird.« Erdmann zog sein Telefon hervor. »Gib mir doch bitte mal Lorths Nummer. Das klären wir jetzt gleich, bevor wir auf Stohrmann treffen.«

Sie zögerte einen Moment, nahm dann aber ihr Handy und sagte ihm Sekunden später die Telefonnummer des Lektors. Erdmann ließ es zehnmal klingeln. »Niemand da. Vielleicht ist er schon im Verlag.«

Matthiessen ging zu dem Kaffeevollautomaten, der in einer Ecke auf der Arbeitsplatte stand, und nahm eine Tasse aus dem Hängeschrank darüber. Als der Kaffee schaumig in die Tasse lief, sagte sie: »Was ist mit Jahn?«

»Wir sollten ihn auch anrufen.« Er deutete mit dem Kopf zum Notebook. »Du kannst davon ausgehen, Stohrmann möchte gleich wissen, ob wir schon was unternommen haben wegen dieser Geschichte.«

Matthiessen stellte die Tasse vor Erdmann ab und setzte sich ihm gegenüber. »Gut, dann übernehme ich das mal.«

Jahn beteuerte, kein Sterbenswort an irgendwen weitergegeben zu haben, und am allerwenigsten an eine Zeitung. Er sei der Letzte der wolle, dass die erneute Verbindung eines scheußlichen Verbrechens zu einem seiner Romane öffentlich bekannt wurde. Nein, kein Wort sei über seine Lippen gekommen.

»Also gut«, sagte Erdmann grimmig. »Wir werden herausbekommen, wer die Infos weitergegeben hat. Und wenn es einer von den beiden war, kann der sich auf was gefasst machen. Und jetzt brauche ich bitte noch die Nummer von Schäfer. Ich möchte wissen, ob er zusammen mit dem Herrn Möchtegern-Anwalt was rausgefunden hat.«

Matthiessen suchte die Nummer aus dem Verzeichnis in ihrem Handy und diktierte sie ihm. Lange Zeit passierte nichts, und Erdmann wollte schon auflegen, als sich eine verschlafen klingende Stimme meldete. »Ja, Schäfer.«

»Guten Morgen, Erdmann hier. Ich wollte mal nachhören, ob Sie bei Ihrer Café- und Kneipentour was herausgefunden haben.«

»Ach, Sie … ähm … Moment, ich bin noch total fertig. Wir … Ich war fast die ganze Nacht mit Christian unterwegs. Er hat dann auch hier gepennt. Aber … hm … er scheint weg zu sein. Egal. Jedenfalls … ähm … nein. Nein, kein Mensch hat Nina gesehen. Es ist echt zum Kotzen.«

»Okay, danke. Wir melden uns später noch mal.« Er legte auf und erzählte Matthiessen, dass die beiden auch nichts Neues wussten. Sein Blick fiel wieder auf das Display des Notebooks. »Was ist eigentlich mit der HAT

»Keine Ahnung, ich habe sie nicht abonniert. Aber die haben doch auch einen Online-Auftritt. Schau doch mal nach.«

Erdmann griff nach dem Notebook, doch er kam nicht mehr dazu, die Internetseite der HAT aufzurufen. Stohrmann rief auf Matthiessens Handy an. Man hatte wieder eine Leiche gefunden.