18

Matthiessen fragte als Erstes nach Nina Hartmann, als Schäfer die Tür öffnete. Doch er hatte noch nichts von ihr gehört.

Erdmann rechnete fest damit, Christian Zender anzutreffen, und war erleichtert, als Schäfer ihnen erklärte, er sei alleine und Zender habe die Wohnung schon kurz vor seiner Freundin Nina verlassen.

Erdmann blickte sich im Wohnzimmer um, das sie nun zum ersten Mal in seinem Normalzustand sahen. Es war komplett gereinigt und aufgeräumt, alle Möbel standen offensichtlich wieder an ihrem Platz, und er stellte fest, dass Schäfer, oder wer immer sonst die Möbel ausgesucht hatte, einen guten und wahrscheinlich auch teuren Geschmack bewiesen hatte. Die Atmosphäre im Raum wurde bestimmt durch eine angenehme Mischung aus modernem Design und Gemütlichkeit.

Erdmann zog seinen Notizblock aus der Innentasche seines Sakkos und legte ihn vor sich auf den Tisch, nachdem er dort Platz genommen hatte. Er hatte sich den gleichen Platz ausgesucht wie bei ihrem Besuch am Morgen.

»Haben Sie mittlerweile alle Freunde und Bekannten durch, bei denen Ihre Freundin sich vielleicht aufhalten könnte?«

Schäfer nickte, er sah mitgenommen aus. »Ja, so ziemlich, niemand hat was von ihr gehört. Die meisten waren eh gestern Abend hier auf der Fete.«

»Was ist mit ihrer Freundin Kerstin?«, fragte Erdmann.

»Die hab ich auch angerufen, sie hat nichts von ihr gehört. Aber sie hat zugegeben, dass sie gestern Abend anonym bei Ihnen angerufen und diese Sache mit meinen Kurzgeschichten erzählt hat, die dämliche Kuh.« Im nächsten Moment sah er Matthiessen an und sagte: »’tschuldigung.«

Sie winkte ab. »Und ihre Eltern?«

»Nein, da hab ich nicht angerufen. Ninas Eltern wohnen 600 Kilometer von hier, in Trier. Warum sollte sie 600 Kilometer zu ihren Eltern fahren, wenn sie bei sich zu Hause auf Sie warten wollte, das ergibt doch keinen Sinn. Außerdem kennen die mich kaum, wir haben uns nur einmal kurz gesehen. Ich möchte nicht unbedingt dort anrufen und ihnen sagen, dass Nina vielleicht entführt worden ist.«

Erdmann machte sich Notizen, und Matthiessen nickte. »Gut, das kann ich verstehen, dann übernehmen wir das. Hat Ihre Freundin denn mit ihren Eltern überhaupt über das Päckchen geredet, das sie gestern bekommen hat?«

»Ich glaube nicht. Ich hab sie gestern danach gefragt, und sie meinte, dass sie noch nicht weiß, ob sie ihnen davon erzählen soll. Ihr Vater ist schwer herzkrank, und ich denke, Nina hatte Angst, dass er sich zu sehr aufregt, wenn er hört, was da passiert ist.«

»Jetzt werden wir ihm die Aufregung leider nicht ersparen können. Haben Sie die Adresse?«

»Nein, tut mir leid, die habe ich nicht. Nicht mal eine Telefonnummer. Wie gesagt, wir kennen uns so gut wie gar nicht.«

»Ist Ihre Freundin denn in Trier geboren?«

»Ja.«

»Hat sie Geschwister?«

»Nein, Nina ist ein Einzelkind.«

»Gut.« Matthiessen nickte mehrmals. »Ich denke, wir werden eine Familie Hartmann mit einer Tochter namens Nina in Trier finden.«

»Und Sie haben nicht mitbekommen, wer Ihre Freundin angerufen hat, als sie hier aufgebrochen ist?«, wollte Erdmann wissen.

»Nein, Ihr Handy klingelte, als sie schon fast draußen war. Ich hab nur noch gehört, wie sie sich mit ihrem Namen gemeldet hat, dann war sie weg.«

»Hat es sich für Sie angehört, als kenne sie die Person, die angerufen hat?«

Schäfer sah Erdmann verwirrt an. »Keine Ahnung, woher soll ich das wissen? Wie gesagt, sie hat ja nur kurz ihren Namen gesagt.«

»Ist Nina in irgendwelchen Vereinen, geht sie regelmäßig zum Sport oder etwas in der Art?«, fragte Matthiessen, bevor Erdmann noch weiter auf Dirk Schäfers Antwort eingehen konnte.

Schäfer dachte eine Weile nach. »Hm … Ab und zu geht sie schwimmen, aber nicht oft, und auch nicht regelmäßig. Und sonst … Ach ja, und einmal in der Woche geht sie zu einem Spanischkurs in der VHS, den hat sie angefangen, kurz nachdem wir uns kennengelernt haben. Aber sonst – nein, sonst nichts.«

Sie vereinbarten, in ständigem telefonischem Kontakt zu bleiben. Schäfer wollte sich mit Christian Zender treffen und mit ihm zusammen alle Cafés und sonstigen öffentlichen Plätze abklappern, an denen Nina Hartmann sich aufhalten konnte.

Matthiessen hatte ihr Telefon schon wieder in der Hand, als sie das Haus verließen. »Ich werde jetzt mal rausfinden, wo Jahns Lektor wohnt. Ich möchte hören, was der über seinen Autor zu sagen hat. Wer weiß, vielleicht hilft uns das ja weiter. Kümmerst du dich um die Eltern?«

»Okay.«

Sie hatten das Auto erreicht. Erdmann nestelte seinen Notizblock aus der Tasche und wählte eine der Nummern des Einsatzraumes im Präsidium. Es meldete sich eine Kollegin. Er gab ihr die wenigen Daten durch, die sie von Ninas Eltern hatten, und bat sie, sich mit dem Trierer Präsidium in Verbindung zu setzen. Die würden über die Datenbank des Einwohnermeldeamtes herausfinden, wo die Familie Hartmann wohnte, und dann sofort Kollegen vor Ort zu ihnen schicken, um in Erfahrung zu bringen, ob die junge Frau sich seit dem Morgen gemeldet hatte. Ninas Eltern würden ängstlich fragen, was um Himmels willen denn los sei, warum die Polizei sich nach ihrer Tochter erkundigte, und dann würden diese Beamten ihnen mitteilen müssen, dass sie nach ihrer Tochter suchten, weil man befürchtete, dass sie von einem Irren entführt worden war.

Erdmann beneidete die Kollegen nicht. Er kannte beide Seiten, wusste, wie es war, wenn man vor Angehörigen stand und ihnen solche Nachrichten überbringen musste. Und auch, wie man sich fühlte, wenn die Polizisten bei einem selbst klingelten. Er wusste es nur zu gut.

Er ist gerade 15 Jahre alt, als die beiden Polizisten bei ihm zu Hause vor der Tür stehen. Sie sind Kollegen seines Vaters und fragen nach seiner Mutter. Der Ausdruck in ihren Gesichtern sagt ihm trotz seiner Jugend, dass etwas passiert ist. Seine Mutter sieht es wohl auch sofort, denn sie schickt ihn ins Haus. Er bleibt hinter der Tür zum Wohnzimmer stehen und lauscht. Es war ein dummer Unfall, auf dem Weg zu einem Einsatzort. Sein Vater ist gefahren, Martinshorn und Blaulicht waren eingeschaltet. Dann die Kreuzung. Ein Lkw-Fahrer hat sie nicht bemerkt, wahrscheinlich hat er die Musik zu laut gehabt. Er war mit hoher Geschwindigkeit in die Fahrerseite des Streifenwagens geknallt. Sein Vater war sofort tot.

Er wusste, wie man sich fühlt, wenn zwei Polizisten mit betretenen Gesichtern vor der Haustür stehen. Und er wusste noch mehr. 14 Jahre später hatte er zum ersten Mal zusammen mit einem Kollegen an einer Haustür geklingelt.

»Werner Lorth wohnt in Eidelstedt, Pinneberger Chaussee«, riss ihn Matthiessen aus seinen Erinnerungen. »Ist alles in Ordnung?«

»Ähm, ja, alles okay. Ich musste nur gerade an was denken, das schon eine Weile her ist. Eidelstedt? Das ist ja nicht weit von hier. Entschuldige, ich hab das jetzt gar nicht mitbekommen – hast du ihn schon angerufen?«

»Ja, er weiß, dass wir kommen.«

»Dann mal los.«

»Sagst du es mir?«, fragte Matthiessen nach einer Weile, in der sie stumm nebeneinandergesessen hatten.

»Was?«

»An was du gerade denken musstest.«

Er sah kurz zu ihr hinüber, dann begann er zu erzählen.