28

Stohrmann saß mit Helga Jäger in einem Zimmer, das speziell für den Besuch von Zivilpersonen und Zeugen gedacht war. Die Einrichtung des Raumes war spartanisch. Ein Schreibtisch an der Wand gegenüber dem Eingang, direkt unter dem Fenster, mit einem Flachbildschirm, Tastatur und Maus darauf, ein Aktenschrank, der immer verschlossen war, wenn Erdmann ihn sah, und von dessen Inhalt er keine Vorstellung hatte; ein weiterer, hüfthoher Schrank mit einem Laserdrucker darauf, ein Tisch mit glatter, weißer Oberfläche und vier einfachen Stühlen daran, ein Papierkorb. Zweckmäßig.

Helga Jäger saß Stohrmann gegenüber am Tisch, den Oberkörper kerzengerade aufgerichtet. Ihre Handtasche hatte sie auf den Oberschenkeln abgestellt, die nach oben stehenden Griffe umschloss sie mit beiden Händen, als habe sie Angst, jemand wolle ihr die Tasche wegnehmen.

Sie saß seitlich zur Tür und fuhr erschrocken zusammen, als Erdmann die Tür öffnete und vor Matthiessen den Raum betrat.

»Da sind Sie ja«, wurden sie von Stohrmann begrüßt. »Setzen Sie sich.« Sie nickten Helga Jäger zu und ließen sich auf den beiden freien Stühlen nieder. Stohrmann deutete mit der Hand zu Jahns Haushälterin. »Frau Jäger ist hergekommen, weil sie sich Sorgen um ihren Arbeitgeber macht. Aber am besten erzählen Sie es Hauptkommissarin Matthiessen und Oberkommissar Erdmann selbst noch einmal.«

»Na ja, also … Ich habe es eben schon gesagt – vielleicht bin ich ja hysterisch, und vielleicht denken Sie, ich bin ein bisschen verrückt, weil das für Sie alles ganz normal ist, aber heute Morgen hat mir Herr Jahn ein bisschen Angst gemacht.«

»Sie hatten Angst vor ihm?« Erdmann machte sich eine Noitz. »Was ist passiert?«

»Ach, ich bin ganz durcheinander. Heute Morgen in aller Frühe hat Miriam Hansen angerufen, die Buchhändlerin. Ich war dabei, das Frühstück für Herrn Jahn zu richten, er mag morgens am liebsten Rühreier mit Kräutern und Speck, wissen Sie, und da habe ich natürlich nicht viel von dem Telefongespräch mitbekommen. Ich habe nur gehört, dass Herr Jahn am Ende des Gespräches sehr kurz angebunden war. Als er dann aber aufgelegt hatte, wurde er plötzlich ganz furchtbar laut. Ich weiß ja nicht, was diese Frau zu ihm gesagt hat, aber es hat ihn fürchterlich aufgeregt. Ich habe ihn nicht wiedererkannt. Er hat herumgetobt und geschrien, dass er es nun leid wäre, dass wohl jeder denke, er könne mit ihm umspringen, wie er es wolle, und dass jetzt auch schon Frau Hansen denkt, sie könne ihm Vorhaltungen machen, nur weil der Herr Lorth irgendwelche Dinge erzählt hat. Und die Frau Hansen könne ihm doch gestohlen bleiben, wenn sie alles glaube, was dieser Kerl ihr erzählt. Ich habe nicht alles verstanden, was er gesagt hat, aber er war furchtbar wütend, so wütend, dass ich ein bisschen Angst vor ihm hatte. So habe ich ihn in all den Jahren noch nicht erlebt.«

Stohrmann sah zuerst Erdmann, dann Matthiessen an. In seinem Blick lag die stumme Aufforderung, etwas dazu zu sagen.

»Wovor genau hatten Sie denn Angst, Frau Jäger?«, hakte Matthiessen nach. »Dachten Sie, er tut Ihnen etwas an?«

»Ja, nein, also … ich weiß es ja selbst nicht. Nein, ich glaube nicht, dass er mir etwas antun würde.« Sie spielte mit den Griffen ihrer Tasche und fügte leise hinzu: »Aber ich hätte auch nie gedacht, dass er so furchtbar böse werden kann. Diese ganze Sache nimmt ihn sehr mit.«

»Soll das heißen, Herr Jahn ist noch nie laut geworden in der ganzen Zeit, in der Sie für ihn arbeiten?«, schaltete Stohrmann sich wieder ein. »Es gab nie eine Situation, in der er sich vielleicht über jemanden geärgert hat in Ihrer Gegenwart?«

Die Haushälterin dachte eine Weile nach, wobei sich viele dünne Falten auf ihrer Stirn zeigten, bevor sie den Kopf schüttelte. »Nein, ganz bestimmt nicht. Ganz im Gegenteil. Herr Jahn ist ein sehr ausgeglichener Mensch, wissen Sie. Es gab natürlich hier und da schon Situationen, da hätte er bestimmt wütend werden können, aber er blieb immer ruhig. Bis heute Morgen. Ich verstehe es einfach nicht.«

»Abgesehen von diesem Vorfall heute Morgen – haben Sie das Gefühl, dass Herr Jahn sich irgendwie verändert hat?«, setzte Erdmann nach. »Ist Ihnen vielleicht sonst noch was an ihm aufgefallen, das … hm, wie soll ich sagen, … außergewöhnlich ist?«

Frau Jäger hielt erneut einen Moment inne. »Na ja, wie ich eben schon sagte, diese furchtbare Sache nimmt ihn sehr mit, das merkt man deutlich. Er ist im Moment sehr nervös, und ich glaube, er schläft schlecht. Er sieht morgens gar nicht gut aus. Aber das kommt sicher auch daher, dass er im Moment so viel unterwegs ist. Ich sehe ihn ja kaum noch.«

»Was heißt das, er ist viel unterwegs?«

»Na ja, er ist normalerweise sehr viel zu Hause, gerade jetzt, wo er doch wieder an einem neuen Buch schreibt, wissen Sie. Aber im Moment ist er mindestens zweimal am Tag für ein paar Stunden weg. Und wenn er zurückkommt, sieht er sehr müde aus. Er zieht sich dann immer gleich in sein Arbeitszimmer zurück.«

»Hm … Sie sagten, das sei im Moment so. Können Sie uns das etwas genauer sagen? Seit wann beobachten Sie diese Veränderung?«

Helga Jäger löste eine Hand von den Griffen ihrer Tasche und winkte ab. »Ach, das geht jetzt schon seit ein paar Tagen so.«

»Seit ein paar Tagen?«, fragte Matthiessen. »Wann ist Ihnen das denn zum ersten Mal aufgefallen? Können Sie sich an den Tag erinnern?«

Ein nachdenklicher Blick, dann: »Vor vier, fünf Tagen, denke ich.«

»Vor vier oder fünf Tagen.« Matthiessen sah zu Erdmann hinüber, dem völlig klar war, worauf seine Partnerin hinauswollte. »Das wäre also ungefähr am Donnerstag gewesen. Dann kann es ja mit dem Verbrechen eigentlich nichts zu tun haben, denn davon weiß Herr Jahn erst seit Samstag durch uns.«

Helga Jägers Augen weiteten sich, und es schien, als denke sie fieberhaft nach. »Ja, Sie haben recht, das stimmt. Aber … ach, ich bin ganz durcheinander, Sie müssen entschuldigen. Wahrscheinlich ist er auch erst seit Samstag so. Bestimmt sogar. Tut mir leid, ich … ach.« Sie schien verzweifelt, und Erdmann hatte das sichere Gefühl, dass sie gerade gelogen hatte.

Nachdem sie verstummt war, wandte Stohrmann sich an Erdmann. »Sie sollten sich vielleicht noch einmal mit Herrn Jahn unterhalten.«

»Ja, das werden wir auch tun«, antwortete er.

»Oh … nein, bitte … würden Sie ihm bitte nicht erzählen, dass ich hier war und mit Ihnen geredet habe?« Frau Jäger sah bemitleidenswert aus und wirkte sehr nervös. »Herr Jahn wäre sicher sehr enttäuscht von mir. Zu Recht. Ich sitze hier und erzähle Ihnen irgendwelche Mutmaßungen und mache dabei noch falsche Datumsangaben … Ich könnte ihm nicht mehr in die Augen sehen, wenn er das wüsste. Dann müsste ich meine Stellung aufgeben.«

»Ich denke, wir werden in unserem Gespräch mit Herrn Jahn Ihren Besuch hier nicht zwangsläufig erwähnen müssen«, beruhigte Matthiessen sie.

»Aber Sie können sich erst später mit ihm unterhalten, er macht jetzt wahrscheinlich seinen Mittagsschlaf. Deswegen konnte ich doch überhaupt nur zu Ihnen kommen, ohne dass er mir Fragen stellt.«

»Aha, und wie lange dauert dieser Mittagsschlaf üblicherweise?«

»Ach, er legt sich meist gegen zwölf hin und schläft dann so etwa eineinhalb Stunden.«

Matthiessen sah auf ihre Armbanduhr. »Dann schläft er ja noch nicht lange. Ich denke, heute wird seine Mittagsruhe ein wenig verkürzt.« Sie sah zu Stohrmann und Erdmann. »Noch Fragen?« Beide verneinten.

»Wie sind Sie hierhergekommen, Frau Jäger?«

»Mit meinem Auto. Es steht auf dem Parkplatz, warum?«

»Dann fahren Sie jetzt am besten zurück. Vielen Dank, dass Sie hier waren und mit uns gesprochen haben.« Matthiessen schob ihren Stuhl zurück. »Kommen Sie, ich begleite Sie nach unten.«

»Na, Herr Erdmann, was halten Sie von ihr?«, fragte Stohrmann, als die beiden den Raum verlassen hatten. Erdmann zuckte mit den Schultern. »Mein Gott, sie ist Jahns Haushälterin und hat sich wohl verpflichtet gefühlt –«

»Blödsinn. Ich meine von Ihrer Kollegin Andrea Matthiessen.«

Erdmann war im ersten Moment so überrascht, dass ihm die Worte fehlten. Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder gefangen hatte. »Ich gestehe, dass ich mich ein wenig über Ihre Frage wundere, jetzt, zu diesem Zeitpunkt. Aber gut: Ich halte sie für eine sehr gute Polizistin, die ihre ganze Energie dafür einsetzt, diese widerlichen Verbrechen zu beenden. Es würde ihr nie einfallen, sich in dieser Situation von irgendwelchen privaten Plänkeleien ablenken zu lassen, weil sie viel zu sehr Profi ist. Und dafür hat sie meinen vollen Respekt.« Das Wort ihr hatte er dabei wie unbeabsichtigt betont. Er wartete einen Augenblick, in dem Stohrmann ihn mit verkniffenem Gesicht ansah, dann stand er auf. »Wenn Sie sonst im Moment nichts mehr haben …«

»Nein. Gehen Sie.«

Matthiessen kam ihm auf dem Weg zum Einsatzraum entgegen, ihr Telefon in der Hand. Mit fragendem Blick blieb sie vor ihm stehen. »Was ist los? Warum schaust du so finster drein?«

»Ach, nichts«, schwindelte er. »Ich habe einfach das Gefühl, wir drehen uns permanent im Kreis und kommen keinen Schritt weiter. Das geht mir auf die Nerven.«

Sie schürzte die Lippen. »Das sehe ich anders. Zumindest haben wir einige Ungereimtheiten, aus denen sich was ergeben wird, wenn wir sie klären. Und den Besuch von Frau Jäger fand ich auch sehr interessant.«

»Wenn wir sie klären können.« Er zeigte auf das Telefon in ihrer Hand. »Hast du schon telefoniert?«

»Ja, sogar schon zweimal. Erst habe ich mit einem Kollegen vom Observierungsteam gesprochen. Jahn hat das Haus den ganzen Vormittag über nicht verlassen. Dann habe ich bei ihm selbst angerufen, aber es ging niemand ran. Entweder er hat einen sehr festen Schlaf, oder er ignoriert Anrufe in der Mittagszeit.«

»Oder er unternimmt wieder einen Spaziergang, den niemand mitbekommen hat.«

»Das glaube ich nicht. Er kann das Haus nicht unbeobachtet verlassen.«

»Und nun? Fahren wir zu ihm?«

»Gleich. Zuerst unterhalten wir uns noch mal mit Stohrmann. Ich bin gespannt, was er zu alldem zu sagen hat. Und ich spreche ihn auf die Observierung von Lorth und Lüdtke an.«

»Ich bin sicher, wenn wir Lorth, Lüdtke und Jahn zusammenbringen würden, könnte die Begegnung auch sehr interessant werden.«

»Ja, aber vorher reden wir mit Jahn alleine. Ich habe das Gefühl, er weiß viel mehr, als er zugibt. Vielleicht sehr viel mehr.«

»Das denke ich allerdings auch. Vor allem nach dem, was wir gerade gehört haben. Und weißt du, was ich mittlerweile noch denke? Er hat schon hinter der Sache in Köln gesteckt und Glück gehabt, dass diese Frau ihm ein Alibi gegeben hat. Jetzt ist ihm das Geld ausgegangen, und weil er einmal damit durchgekommen ist …«

»Ich weiß nicht, ich traue ihm das nicht zu. Das meinte ich auch nicht, als ich sagte, dass er mehr weiß, als er uns sagt. Ich glaube, dass er mehr über Lorth und Lüdtke weiß. Die haben auch schon an dem Kölner Mord gut verdient.« Ihre Stimme hatte einen ungewohnten Klang angenommen, fand Erdmann, sie klang … grimmig. »Wie auch immer, einer dieser drei hängt ganz tief in der Sache drin, da bin ich mir ziemlich sicher.«

»Ich mir auch«, erwiderte Erdmann. »Mindestens einer.«