KAPITEL 20
Seine Stimme hallte über die Köpfe der Gläubigen. Auch ohne Verstärker trug sie weit, klang sanft und war zugleich stark. Der Tempel war gut gefüllt, und Vedek Capril freute sich, dass so viele zu dieser besonderen Abendmesse auf Deep Space 9 gekommen waren.
Dutzende bajoranischer Würdenträger, Politiker, Entertainer und Geistlicher standen inmitten der Menge. Während Capril seine Predigt hielt, kam er nicht umhin, Stolz zu empfinden. Heute Abend waren mehr Vedeks unter seinen Zuhörern als in jeder anderen Messe, der er je beigewohnt oder die er zuvor durchgeführt hatte.
Aber Capril wusste, dass sie nicht seinetwegen gekommen waren. Morgen würde die Zeremonie stattfinden. Morgen würde Bajor offiziell der Föderation beitreten. Das allein war der Grund für diesen Ansturm.
Capril hatte seine Predigt gründlich vorbereitet. Er sprach von Einigkeit und Gemeinschaftsgefühl, von dem Frieden und dem Verständnis, die das Volk Bajors benötigten, um in der Familie Universum willkommen geheißen zu werden.
»Metaphorisch gesprochen steht Bajor an einer Schlucht«, sagte er. »Aber das muss die Gläubigen nicht schrecken. Nein, wir sollten uns dort umschauen und die schönen Gefilde und unzähligen Schätze begreifen, die jenseits des Abgrunds auf uns warten. Der Wille der Propheten hat uns an diesen historischen Moment geführt – einer Zeit, in der Bajor zahlreiche Freunde und Verbündete hat. Wir müssen – wir werden – die glorreiche Zukunft, die uns die Propheten bereitet haben, mit offenen Armen empfangen.«
Capril hatte seine Ansprache gerade beendet, als ihm eine Bewegung innerhalb der Menge auffiel. Die Gläubigen rüsteten sich zum Aufbruch, doch ein junger Mann von vielleicht Mitte zwanzig trat sicheren Schrittes auf Caprils Kanzel zu. Einen Herzschlag später drehte er sich um und sah die Menge an.
Noch bevor Capril auch nur verstand, was geschah, hatte der Mann seinen Ohrring abgenommen und ließ ihn zu Boden fallen. »Für Kira Nerys«, rief er dabei. Dann schloss er die Augen, als betete oder meditierte er.
Capril war so überrascht wie seine Abendgemeinde. Überall sah er staunende, stumme Gesichter. Doch bevor er sich an den Mann wenden konnte, stand eine zweite Person, eine Frau mittleren Alters, auf und trat ebenfalls zur Kanzel. Auch sie drehte sich um, legte schweigend ihren Ohrschmuck ab und sagte so laut, dass man sie noch im hintersten Winkel des Tempels hören musste: »Für Kira Nerys.« Dann verstummte sie, nur um von einer dritten Person, einer jungen Frau, ersetzt zu werden, die prompt aufstand und das Verhalten ihrer zwei Vorgänger eins zu eins wiederholte.
Ohalavaru, dachte Capril. Obwohl er allmählich zornig wurde, wusste er, dass diese Leute weitaus mehr Aufruhr erzeugt hätten, wenn sie mit ihrer kleinen Demonstration nicht bis zum Ende der Messe gewartet hätten. Das änderte allerdings nichts daran, dass ihr Verhalten innerhalb eines bajoranischen Tempels völlig inakzeptabel war.
»Für Kira Nerys.« Wieder stand ein Bajoraner auf, zog den Ohrring ab und trat zu der wachsenden Gruppe der Ohalavaru. Dann ein weiterer. Und noch einer. »Für Kira Nerys.« Es wurden immer mehr.
Unmutsbekundungen hallten in der Kammer wider. Capril sah auf die vielleicht sechzig Gläubigen vor sich und begriff, dass er mit seinem Zorn nicht allein war.
»Für Kira Nerys.« Diesmal war es eine junge Frau, dem Aussehen nach kaum der Schule entwachsen. Ihr Gewand waren hell und mit den Symbolen verschiedenster bajoranischer Religionen verziert. Wie die anderen blieb auch sie still vor der Kanzel stehen – ebenso passiv wie entschlossen.
Capril warf einigen der anderen Vedeks einen verzweifelten Blick zu und bemerkte dankbar, wie Vedek Sinchante einem der Ranjens im hinteren Bereich des Raumes etwas zumurmelte. Dieser eilte schnell aus dem Tempel. Ich hoffe, sie ruft nach dem Sicherheitsdienst. Um Fassung bemüht, hob er die Arme, als könnte er die Störung seines Tempels mit bloßen Händen von sich schieben. Doch der Zorn verging nicht.
Drei weitere Ohalavaru schlossen sich ihren Gefährten an. Nun waren es schon ein Dutzend. »Für Kira Nerys.« Capril sah, dass eine von ihnen, eine blasse dunkelhaarige Frau, ein grauhäutiges Kleinkind im Arm hielt, einen Halbcardassianer. Sie kam ihm irgendwie vertraut vor.
Bevor er etwas sagen konnte, hallte die Stimme der Mutter über die Köpfe der Versammelten hinweg. »Wir sind die Ohalavaru, und wir handeln zu Ehren der Wahrheitsspenderin Kira Nerys.« Auch sie entfernte ihren Ohrring und warf ihn zu Boden.
Ein Bajoraner, dessen Gesichtsausdruck seine Verachtung für die Ohalavaru nicht verbarg, stand auf und schubste eine der Frauen vor Caprils Kanzel in Richtung Tür. Die Anhängerin Ohalus stolperte, fing sich aber wieder und weigerte sich verbissen, ihren Platz aufzugeben. Inzwischen meldeten sich immer mehr wütende Gläubige lautstark zu Wort und forderten die Ohalavaru auf, den Tempel zu verlassen. Eine Handvoll von ihnen bekannte offen, notfalls handgreiflich zu werden, sofern die Ketzer nicht freiwillig gingen.
Seit dem Ende der Besatzung hatte Capril keine Gewalt mehr erlebt. Ich muss die Kontrolle über die Situation erlangen, dachte er und ahnte, dass ein Handgemenge kurz bevorstand. Die Ketzer waren zwar in der Minderzahl, aber wenn das Undenkbare geschah und es tatsächlich zu gewaltsamen Auseinandersetzungen im Inneren eines Tempels kam, würde das der Sache der Ohalavaru sogar noch förderlich sein. Weil sie dann als Opfer dastünden, als Personen, die Sympathie verdienten. Capril wusste, dass er einschreiten musste, doch seine Füße schienen Wurzeln geschlagen zu haben.
»Kinder der Propheten!«, rief er verzweifelt, und seine Worte hallten von der gewölbten Tempeldecke wider. »Mit Gewalt erreicht ihr hier gar nichts! Wendet eure Leidenschaft den Propheten zu, nicht diesen Eindringlingen!«
Premierminister Shakaar und Vizepremierministerin Asarem saßen im hinteren Bereich des Raumes und winkten Sicherheitsleute herbei. Zu Caprils Missfallen befand sich auch Ro Laren unter den eintreffenden Offizieren – die Frau, die ihren Ohrring absichtlich am falschen Ohr trug, wie es bei der inzwischen glücklicherweise zerschlagenen Sekte der Pah-Geister üblich gewesen war.
Ro kämpfte sich durch die immer wütender werdende Menge, begleitet von ihren Deputys. Und für einen Moment fragte Capril sich, auf welche Seite sie sich bei diesem Disput wohl stellen würde.
Ro und Sergeant Etana gönnten sich einen schnellen Raktajino nahe dem Eingang vom Quark’s, als Ros Kommunikator zirpte. Eine Sekunde später erklang Corporal Havas Stimme. »Alle verfügbaren Offiziere zum Tempel. Klingt, als steht dort eine Konfrontation ins Haus.«
Im Tempel?
Ro stand so schnell auf, dass der Raktajino umkippte und ihr über die Hand und den Tisch lief. Entschuldigend sah sie zu einem der in der Nähe stehenden Dabo-Mädchen, das Havas Botschaft gehört haben musste. Dann schüttelte sie sich die Tropfen von der Hand und berührte den Kommunikator. »Ro hier. Etana und ich sind unterwegs. Was ist los?«
Als Havas Antwort kam, waren Ro und Etana schon fast am Eingang des Tempels, in dem es offenkundig zu einer Störung der Zeremonie gekommen war. Laute Rufe drangen bis nach draußen. Mehrere Bajoraner und Nichtbajoraner eilten bereits zur Tür.
Sechs weitere Offiziere trafen zeitgleich ein und schlossen sich Ro und Etana an. Sie hatten den Tempel gerade betreten, als ihnen Premierminister Shakaar und Vizepremierministerin Asarem mit ihrem gesamten Gefolge entgegenkamen. Ro hörte wütende Rufe und, wenn sie sich nicht irrte, mehrfach Kiras Namen.
»Was ist das Problem, Ministerin?«, fragte sie.
»Die Anhänger Ohalus erfreuen uns mit einer kleinen Demonstration«, antwortete Asarem, mit vor Wut zitternder Stimme. »Offensichtlich im Auftrag Ihrer Kommandantin.«
Bevor Ro Asarem um eine Erklärung für diese seltsame Aussage bitten konnte, ergriff Shakaar das Wort. Er deutete ins Tempelinnere. »Ich will diese Personen verhaftet wissen. Schleppen Sie sie hier raus und statuieren Sie ein Exempel an ihnen.« Die Worte waren hart, und doch hörte Ro nicht die gleiche Leidenschaft in ihnen, die sie bei Asarem und einigen der nahe stehenden Ranjens zu erkennen glaubte.
»Wenn wir sie im Inneren des Tempels verhaften, könnte die Gewalt eskalieren, Premierminister«, sagte Ro. »Außerdem würden Sie Gefahr laufen, sie zu politischen Helden zu stilisieren.«
»War ja klar, dass Sie so argumentieren«, rief Vedek Bellis von weiter hinten. Sein Doppelkinn wackelte angriffslustig, während er sich einen Weg durch die Menge bahnte. »Sie sind denkbar schlecht geeignet, um eine Krise in unserem Tempel beizulegen.«
Ro warf Etana einen Blick zu und kniff die Augen enger zusammen. Während ihrer Zeit beim Maquis hätte sie dem unerträglichen Vedek für so einen Spruch das Knie in die Weichteile gerammt. Doch sie wusste, dass diese Situation nach einer anderen Taktik verlangte.
Etana verdrehte die Augen, bemühte sich aber, sich nicht anmerken zu lassen, was sie von Bellis’ Worten hielt.
Ro wandte sich an ihre Deputys, deren Zahl inzwischen auf zwölf gestiegen war. »Wir achten darauf, dass niemand verletzt wird, verstanden? Bringen Sie die Aufständischen hier raus und weisen Sie sie an, zu verschwinden. Falls sie sich weigern, sperren Sie sie in die Arrestzellen. Dann gebe ich ihnen einen Schnellkurs in Stationsregeln. Und vergessen Sie nicht, dass Sie sich in einer heiligen Stätte befinden.« Obwohl sie sich mit dem letzten Satz an ihre Deputys richtete, war er als Retourkutsche für den noch immer zornesroten Bellis gedacht.
Ensign Jimenez folgte Ro, als sie am Mittelschiff entlangging. Viele Gläubige traten beiseite, damit sie die Gruppe erreichen konnte. Die Ohalavaru hatten sich gegenseitig an den Armen gefasst und die Augen geschlossen. Sie schienen zu beten, zu meditieren oder irgendeine andere andächtige Tätigkeit auszuüben.
Ro legte sanft eine Hand auf den Rücken der ihr am nächsten stehenden Demonstrantin, einer Frau mittleren Alters. »Ma’am, folgen Sie mir bitte«, sagte sie so laut, dass sie noch über die wütenden Rufe der Menge zu hören war.
Doch die Frau ignorierte die Aufforderung. »Ma’am, Sie begehen ein Verbrechen«, sagte Ro ein wenig nachdrücklicher. »Sie stören wissentlich diesen Tempeldienst. Ich muss Sie bitten, sofort zu gehen. Andernfalls sind wir gezwungen, Sie hinauszubefördern.«
Die Frau verhielt sich weiterhin, als wäre Ro gar nicht da. Ro sah zu Jimenez, der neben sie getreten war. Die Hand am Phaser warf er Ro einen Blick zu und wartete auf ihr Nicken.
Aber Ro war nicht bereit, es zu geben. Noch nicht. Als sie sich umblickte, merkte sie, dass die anderen Deputys ähnliche Probleme hatten. Die Ohalavaru weigerten sich, freiwillig zu gehen und gaben nicht einmal zu verstehen, dass sie sich der Anwesenheit des Sicherheitsdienstes bewusst waren. Die Gläubigen, die in der Aktion der Ohalavaru offensichtlich einen Akt der Respektlosigkeit sahen, wurden immer übellauniger. Schon jetzt forderten einige lautstark den Rauswurf der angeblichen Ketzer. Und Vedek Capril glotzte einfach nur von seiner Kanzel auf die Menge hinab.
Verdammt, dachte Ro. Gewalt war das Letzte, wonach ihr in dieser Situation der Sinn stand. Insbesondere da viele Bajoraner – wenn auch nicht Ro selbst – einen Tempel als heiligen Boden betrachteten. Abermals hob sie die Stimme. »Diejenigen, die den Tempeldienst stören, müssen sofort gehen«, forderte sie in militärisch strengem Tonfall. »Sie begehen ein Verbrechen und werden verhaftet, wenn Sie nicht freiwillig aufbrechen. Bitte nehmen Sie Ihren Ohrschmuck und verlassen Sie den Tempel. Dies ist Ihre letzte Warnung.«
Diesmal führten ihre Worte zu einer Reaktion, allerdings nur unter den Gläubigen, die allmählich ruhiger wurden. Einige von ihnen schienen zufrieden damit, Ro und ihre Leute die Sache regeln zu lassen. Andere jedoch forderten weiterhin lautstark das Verschwinden der Ohalavaru.
Ro seufzte. Die Demonstranten gaben ihr nur eine Möglichkeit. »Sie lassen uns keine andere Wahl, als Sie zu verhaften. Deputys?« Sie nickte den anderen Uniformierten zu, die sofort nach den Ohalavaru griffen. Doch sobald sie auch nur Hand an die Sektierer legten, begannen diese, zu sprechen.
»Für Kira Nerys, die Wahrheitsspenderin«, verkündeten sie einstimmig und ließen sich widerstandslos abführen. »Für Kira Nerys, die Wahrheitsspenderin.«
»Es reicht!«
Ro erkannte die Stimme sofort, obwohl sie sie noch nie so laut vernommen hatte. Als sie sich umdrehte, sah sie die Besitzerin als Silhouette in der Tür zur Promenade stehen.
»Es reicht«, wiederholte Kira, sobald sie die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich gerichtet wusste. Selbst die Ohalavaru, an die sie sich ganz klar wendete, hatten ihren Singsang eingestellt. »Sie haben Ihre Ansichten klargemacht. Ich bitte Sie nun, den Tempel mit unserem Sicherheitsdienst zu verlassen. Und ich erwarte, dass dies auf gesittete und ordentliche Weise geschieht.«
Mehrere Ohalavaru sahen zu einer dunkelhaarigen Frau, die ein Kleinkind im Arm hielt. Erst als sie zustimmend nickte, hoben sie ihre Ohrringe auf und gingen zum Ausgang. Die Sicherheitsleute folgten in sicherem Abstand, hielten sich aber nah genug, um einzuschreiten, falls sich einer der frustrierten Gläubigen zu einem Angriff inspiriert fühlen sollte.
Wann immer ein Ohalavaru Kira, Asarem und Shakaar passierte, streckte er die Hand nach Kira aus – fraglos eine Geste des Danks für die Veröffentlichung der Ohalu-Prophezeiungen. Doch Kira rührte keinen Muskel, zeigte weder Verständnis noch Missfallen. Ro fiel auf, dass sie noch keinen Fuß ins Innere des Tempels gesetzt hatte. Weil sie nach wie vor den Befehlen dieser großkotzigen Vedeks folgt, die sie als Befleckt erklärt haben.
Ro drehte sich um und entschuldigte sich leise bei Vedek Capril für die Störung. Er dankte ihr knapp, nur um sofort darauf Kira einen warnenden Blick zuzuwerfen. Ro wusste, dass er und sie in der Vergangenheit gut miteinander ausgekommen waren. Hatte die Befleckung das geändert, oder war der Vedek wegen der Ohalavaru-Demonstration schlicht aufgewühlt?
Gemeinsam mit ihrem letzten Offizier verließ Ro den Tempel und trat zu Premierminister Shakaar. »Ich postiere ein paar Wachen in der Nähe, nur für alle Fälle«, sagte sie.
Er nickte und sah mit erhobener Braue den Offizieren zu, die die Ohalavaru über die Promenade führten. Sie geleiteten sie ins Büro der Stationssicherheit, von wo aus es zu den Arrestzellen ging. »Ich hoffe, es wird hier in den nächsten Tagen keine weiteren Zwischenfälle dieser Art geben.«
»Es wäre sicher hilfreich, wenn wir uns nicht auf derselben Station befänden wie Ihre Anführerin«, sagte Vedek Bellis und sah Kira tadelnd an.
»Ich bezweifle, dass Colonel Kira die Ohalavaru unterstützt oder ihre Taten gar autorisiert, Vedek«, erwiderte Shakaar. Er legte dem stämmigen Geistlichen die Hand auf die Schulter und nickte gleichzeitig Asarem zu. »Kommen Sie«, sagte er. »Lassen Sie uns in den Tempel zurückkehren und unsere Verbundenheit mit den Propheten und ihrer Welt aufs Neue bekräftigen.«
Ro stutzte. Irrte sie sich, oder hatte Shakaar gerade ganz subtil betont, dass Kira innerhalb des Tempels nicht willkommen war?
Asarem nickte nahezu unmerklich. Sie wandte sie sich dem Tempel zu und schloss sich Shakaar und Bellis an, wobei sie sichtlich den Augenkontakt zu Kira und Ro vermied. Ro sah, wie Kira einen Moment zögerte, dann aber auf dem Absatz kehrtmachte und mit forschem Schritt vom Eingangsbereich wegging. Sie biss die Zähne sicher so stark zusammen, dass sie mühelos Metall durchdrungen hätten.
Deputy Etana kam mit einem Padd zu Ro. »Alle sechzehn Ohalavaru befinden sich in unserem Gewahrsam, Lieutenant. Wir haben die Mutter nicht von ihrem Kind getrennt. Alle kooperieren mit uns. Sie verhalten sich, als hätten sie nichts Falsches getan.«
»Weil sie aus ihrer Sichtweise auch nichts Falsches getan haben«, erwiderte Ro und überflog die Namen auf dem Padd. Die Offiziere im Büro ergänzten laufend Informationen, die zeitgleich auf dem Monitor erschienen. Keiner der Namen gehörte einem aktenkundigen Straftäter, doch einer kam ihr bekannt vor: Cerin Mika. Ro reichte Etana das Padd und zeigte darauf. »Besorgen Sie alle Akten, die Sie über die Leute finden können, aber achten Sie vor allem auf ihre. Sofern die Akten uns keinen weiteren Grund bieten, sie festzuhalten, sollen sie danach gehen.«
Dann winkte sie Sergeant Shul zu sich und deutete auf den Tempel. »Shul, ich will, dass Sie und drei Kollegen die erste Wache am Tempel übernehmen. Morgen wird’s anstrengend genug, da kann ich keine Überraschungen brauchen.«
Als Shul gegangen war, drehte sich Ro wieder zu Etana um und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich muss gehen und den Colonel über ein paar Sachen informieren. Sie haben hier das Kommando.« Ein Blick auf ihr Chronometer zeigte ihr, dass vor zehn Minuten ein neuer Tag angebrochen war. Sie seufzte. »Kein guter Übergang in ein Zeitalter des Friedens, oder?«
Etana lächelte warm und ergriff Ros Hand. »Wir schaffen das schon, Laren. Kümmern Sie sich um den Colonel.«
Ich muss es ihr sagen, dachte Ro, als sie sich Kiras Bürotür näherte. Kira saß in nahezu völliger Dunkelheit an ihrem Tisch, als meditierte oder betete sie. Gut so. Dagegen konnten sogar die verdammten Vedeks nichts unternehmen.
»Colonel«, sagte sie leise. »Alles in Ordnung?«
»Ja«, antwortete Kira sofort und korrigierte sich dann ebenso schnell. »Nein.«
»Ich bin froh, dass Sie zu einem so günstigen Zeitpunkt aufgetaucht sind. Sie haben uns eine Szene erspart, die vielleicht sehr verstörend geworden wäre. Wie mir scheint, sind die Ohalavaru sehr erpicht darauf, dafür zu sorgen, dass Sie wieder in die bajoranische Glaubensgemeinschaft aufgenommen werden.«
»Hm«, murmelte Kira, und es klang halb wie ein Lachen. »Hab ich auch gehört. Wussten Sie, dass es ähnliche Demonstrationen in diversen Tempeln aller Provinzen Bajors gab? Überall waren es nur eine Handvoll Ohalavaru, aber überall zogen sie ihre Ohrringe aus. Meinetwegen.«
»Das war mir neu«, antwortete Ro. »Gab es Verletzte?«
»Zum Glück nicht. Von kleineren Handgemengen und lautstarkem Gebrüll abgesehen, ging alles friedlich vonstatten. Zumindest bisher.«
»Es steht mir nicht zu, das zu sagen, Colonel, aber vielleicht sollten Sie sich über die leidenschaftliche Fürsprache so vieler Personen freuen. Sie sagt auch gute Dinge über Sie aus. Und über Ihre Entscheidung, die dazu führte, dass die Vedek-Versammlung dem Volk Ohalus Schriften nicht vorenthalten konnte.«
»Gute Dinge?« Kira hob die Hand zum rechten Ohr, als wollte sie nach dem Phantom ihres Ohrrings greifen. »Was für gute Dinge denn? Ich trage die Schuld an einer erschreckenden Spaltung innerhalb des bajoranischen Volkes. Ich bin verantwortlich dafür, dass Unmengen ihren Glauben verlieren! Vielleicht hatte Vedek Yevir tatsächlich recht. Womöglich handelte ich wirklich unüberlegt und dumm. Vielleicht beginne ich erst jetzt, wahrhaft zu begreifen, welche Ernte meine Saat mir eingebracht hat.«
Zu sehen, dass Kira nicht begriff, wie viel sie so zahlreichen Personen bedeutete, erfüllte Ro mit großer Traurigkeit. »Sie taten, wozu ich nie den Mut gehabt hätte, Nerys.« Zum ersten Mal nannte sie sie nicht bei ihrem Familiennamen. »Trotz Ihres Glaubens an die Propheten und ihren Willen taten Sie, was Sie für richtig hielten. Was richtig war.«
Kira starrte sie an. Obwohl sie die andere Frau in der Dunkelheit kaum erkennen konnte, spürte Ro, dass sie aufmerksam zuhörte.
»Ist Ihnen die Zweideutigkeit dessen, was die Ohalavaru an diesem Abend taten, nicht bewusst?«, fuhr sie fort. »Laut Ohalu sind die Propheten nicht das, was uns von den Geistlichen gelehrt wurde. Und doch protestieren die Ohalavaru – diejenigen, die die grundlegendste Lehre unseres Glaubens verweigern – planetenweit dafür, dass die Vedek-Versammlung Sie wieder in die Gemeinschaft aufnimmt. Warum?«
»Ich … Ich weiß es nicht«, antwortete Kira.
»Ich habe noch mit niemandem darüber gesprochen, aber ich glaube, die Antwort auch so zu kennen. Sie wurden bestraft, weil Sie ihnen eine Option gaben. Bevor Sie Ohalus Prophezeiungen veröffentlichten, hatte das Volk nur zwei Alternativen: gläubig zu werden oder wie ich den Weg ausgestoßener Agnostiker zu gehen. Nun aber gibt es eine weitere Möglichkeit; eine, die sie zu konkreten Vorstellungen ihrer Zukunft inspiriert. Glauben Sie bloß nicht, ihre Proteste hätten nur zufällig am Vorabend des Föderationsbeitritts stattgefunden. Die Föderation wird Bajors Kindern neue Freiheiten geben. Neue Glaubenssysteme, neue Technologien, neue Kontakte zu anderen Völkern …«
»Ich weiß nicht, ob ich verstehe, worauf Sie hinauswollen, Ro.«
»Mir scheint, die Ohalavaru sagen – wenn auch vielleicht auf zu allgemeine Weise –, dass auch Sie eine Wahl haben sollten. Befleckt oder nicht, folgen Sie nach wie vor den Propheten. Die Glaubensgemeinschaft verstieß Sie, doch als Sie Ohalus Lehren publik machten, war das keine Aussage über Ihren Glauben. Kein Ausdruck eines Bestrebens, Schäfchen aus der Herde zu entführen. Die Ohalavaru sagen Bajor, dass auch Sie jedes Recht haben, den Propheten zu folgen, wenn ihr Pagh Sie auf diesen Weg leitet.«
Kira saß schweigend da und starrte sie an. Erst jetzt bemerkte Ro, dass sie zum Tisch getreten war und auf ihre Kommandantin hinabblickte, als tadelte sie ein aufmüpfiges Kind. Sofort ließ sie sich auf einen der nahen Stühle fallen und massierte sich sanft den Nasenrücken. »Verzeihung, Colonel. Ich wollte Ihnen keine Standpauke halten.«
»Schon in Ordnung«, erwiderte Kira und winkte ab. »So hatte ich das noch gar nicht gesehen.« Sie seufzte schwer. »Es ist schlicht zu viel los.«
Ro schluckte und wappnete sich für das, was sie als Nächstes sagen musste. »Ich fürchte, ich bringe noch eine weitere Kunde. Und ich weiß, dass sie Ihre Laune nicht gerade heben wird, aber die Zeit läuft ab, und einen besseren Moment werde ich ohnehin nicht finden.« Abermals seufzte Kira, doch Ro fuhr entschlossen fort. »Kurz nach der Beitrittszeremonie werde ich mein Amt als Sicherheitschefin von Deep Space 9 niederlegen. Außerdem trete ich aus dem bajoranischen Militär aus.«
»Was? Warum?« Kira beugte sich vor. Ro sah den Schock in ihrem Gesicht. Sie wirkte, als hätte man sie soeben geschlagen.
»Ich habe lange mit dieser Entscheidung gerungen, glauben Sie mir, aber jetzt muss ich handeln. Sie kennen meinen Werdegang bei der Sternenflotte. Wenn Bajor Teil der Föderation wird, werde ich …« Sie hielt inne und sammelte sich. Sie hatte Angst, dass ihre Stimme sonst brechen würde. »In der kommenden Ordnung der Dinge werde ich nie einen Platz haben. Lieber nehme ich jetzt meinen Hut – eigenmächtig und mit Würde –, als dass ich Sie, Commander Vaughn oder irgendwen sonst in die unangenehme Situation bringe, meine Anwesenheit auf dieser Station rechtfertigen zu müssen.«
Kira zögerte kurz. »Ich kann das nachfühlen, Laren, wirklich. Momentan bin ich sogar geneigt, mich Ihnen anzuschließen.« Sie lächelte bitter. »Was haben Sie vor?«
Nun war es an Ro, zu seufzen. Dies war nicht die Zeit, um die Pläne zu verraten, die sie mit Quark schmiedete. »Ich habe mich nach … Optionen umgesehen«, sagte sie ausweichend. »Die Galaxis ist groß. Es gibt überall etwas zu tun.«
»Sie wissen, dass ich für Sie kämpfen werde, oder?«, fragte Kira, einen Hauch von gezwungener Fröhlichkeit in der Stimme.
»Das wird nichts nützen«, erwiderte Ro und stand auf. »Ich bleibe natürlich, bis der Übergang vollzogen und mein Nachfolger eingearbeitet ist. Aber dann werde ich weiterziehen.« Mit einem Mal hatte sie einen Kloß im Hals. Als auch noch ihre Lippe zu zittern begann, machte Ro kehrt und verließ das Büro ohne ein weiteres Wort.
Kira blieb allein zurück und sah zur Schublade, in die sie vor Monaten Benjamin Siskos Baseball gelegt hatte. Dann wanderte ihr Blick weiter – zu dem Eimer im unteren Bereich eines Regals nahe ihrem Tisch. Und sie dachte an die beiden Personen, deren Rat ihr in diesem Moment wichtiger gewesen wäre als alles andere im Universum.
Seit sie mit Shakaar über die Friedensverhandlungen gesprochen hatte, spürte sie Wut in sich. Nun aber wurde das Gefühl zu einem regelrechten Tropensturm, wie er an der Jo’kala-Küste auftreten mochte. Kira lehnte sich auf ihrem Sessel zurück, hob die Beine an und legte die Absätze ihrer Schuhe auf die Kante ihres Schreibtisches. Dann streckte sie die Knie durch. Mit lautem, befriedigendem Gepolter kippte der Tisch um. Die Wucht des Schubs brachte Kiras Sessel zum Rollen und ließ ihn gegen das Buchregal prallen. Kira stand auf, atmete tief durch und rang um Fassung.
Was habe ich Bajor angetan?, fragte sie sich, als ihr Blick über die Trümmer ihrer Büroeinrichtung glitt. Im Fenster konnte sie die Sterne sehen und schickte ein stummes Gebet in Richtung Wurmloch, dem Himmlischen Tempel der Propheten. Was habe ich dem Glauben angetan, den Ihr mir geschenkt habt?
Ungebeten kam ihr eine Zeile aus den alten Schriften in den Sinn: Wenn alle Kinder ausgeweint, erstrahlt ihr Schicksal im Glanze neuen Zwielichts.
Kira hob die Hand zum Fenster und begann, zu weinen. Ihre Schultern zuckten, und ihre Tränen fielen ungehindert in die stille Dunkelheit.