KAPITEL 17

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Persönliches Logbuch des Leitenden Medizinischen Offiziers,

Sternzeit 53579,0

Vermutlich sollte ich diese Aufzeichnungen nicht länger als Medizinische Logbücher betrachten. Schließlich kann ich mich nicht länger Doktor schimpfen. Zumindest nicht wirklich. Ich weiß aber, dass Leute Ärzten vertrauen. Sie glauben ihnen, und der Glaube kann sie motivieren. Sofern es also Ezri und Nog und allen anderen an Bord hilft, zu überstehen, was auch immer uns erwartet, bin ich bereit, meine Furcht runterzuschlucken, die mich doch zittern lässt, wann immer ich an sie denke. Ich bin bereit, zu schauspielern und den weisen, kompetenten Mediziner zu geben, obwohl ich nicht mehr bin als der kleine Jules, der mit Nadel und Faden Kukalakas Bein annäht. Ich werde durchhalten, bis die Angst mich ganz verschlingt. Oder das, was dann noch von mir übrig ist.

In der Zwischenzeit bin ich dafür dankbar, dass Sacagawea keinen Arzt mehr braucht. Und ich hoffe inständig, dass auch sonst niemand krank oder verletzt wird.

Nog hatte seinen Plan umrissen und war zur Krankenstation aufgebrochen, um eine detailliertere Präsentation für die Senior-Offiziere vorzubereiten. Ezri beschloss, nicht länger zu warten. Sie musste Vaughn mitteilen, was ihr durch den Kopf ging.

Er nickte, als sie ihn um ein Privatgespräch in seinem Bereitschaftsraum bat, doch sein Gesicht verriet nichts über seine Gefühle. Gemeinsam verließen sie die Station, wo Krissten gerade versuchte, Julian mit einer weiteren »Untersuchung« des D’Naali beschäftigt zu halten, und gingen schweigend los.

Sobald sich die Tür des Bereitschaftsraums hinter ihnen geschlossen hatte, drehte sich Vaughn zu ihr um. »Nein«, sagte er fest.

Vor lauter Überraschung wich sie einen Schritt zurück. »Wollen Sie nicht zuerst hören, was ich zu sagen habe?«

»Das ist leicht zu erraten. Und bevor Sie Ihre Frage stellen, sollten Sie wissen, dass meine Antwort aus einem entschiedenen Nein besteht. Nein, ich werde Sie nicht Ihres Postens entheben.«

»Obwohl ich buchstäblich ganze Leben an Erfahrung verloren habe?«

»Ich brauche Sie als Ersten Offizier. Mehr denn je zuvor müssen Sie meine rechte Hand sein.«

Frust und Verzweiflung wallten in ihr auf. »Sir, ich bin Ihnen ohne Dax nutzlos. Ich kann nichts zu dieser Mission beitragen. Ich könnte ihren Ausgang sogar gefährden.«

Vaughn setzte sich an seinen Tisch und starrte in eine Ecke, als konzentrierte er sich auf etwas, das Lichtjahre entfernt lag. Das Schweigen wurde lang und länger. Ezri rechnete schon damit, er könne sie tadeln, wie es Benjamin Sisko tat, als sie sich nach ihrer misslungenen Therapie von Mr. Garaks Klaustrophobie von DS9 versetzen lassen wollte. Damals hatte sie falsch gelegen. Aber das waren ganz andere Umstände gewesen.

Damals hatte sie noch Dax.

Als Vaughn endlich das Wort ergriff, war seine Stimme ungewöhnlich sanft. »Lieutenant, Sie könnten sich gar nicht mehr irren.«

»Aber ich kann Nog und Shar nicht helfen, die Blockade zu umgehen«, warf sie ein und wunderte sich, dass er so ruhig bleiben konnte.

Vaughn winkte ihren Protest nur ab. »Das bedeutet weit weniger, als Sie glauben.«

Sie runzelte die Stirn. »Bei allem Respekt, Sir: Gute Wünsche allein werden uns wohl kaum an der Nyazen-Flotte vorbeilotsen.«

»Nicht allein, nein«, sagte er kichernd. »Gute Wünsche und ein Schlagstock aus Duranium sind meist effektiver als gute Wünsche allein. Aber darüber sprechen wir hier gar nicht, oder?«

»Worüber denn dann?«

»Über Ihre Erfahrungen. Nicht die von Dax. Ihre. Die, die Ezri Tigan machte, während sie diese Kommandouniform trug. Das Wissen, das Sie sich in den vergangenen Monaten aneigneten, gehört Ihnen und Dax zu gleichen Teilen. Und Dax spielte bei Ihrer Sternenflottenausbildung und Ihrer Karriere vor der Destiny überhaupt keine Rolle.«

Ezri hielt inne, um über seine Worte nachzudenken. »Da haben Sie recht. Aber so viel von dem, was Ezri Dax ausmachte, kam von den anderen Wirten.«

»Und das fanden Sie hilfreich, nicht wahr?«

Allmählich bekam sie das Gefühl, auf irgendein Ziel hingesteuert zu werden. »Selbstverständlich. Vereinigte Trill sind immer auch eine Symbiose der Persönlichkeiten der vorherigen Wirte. Zumindest die gesunden. Und sie lernen, sich auf diese zu verlassen.«

Er verschränkte die Arme. »Warum ist dem wohl so, Lieutenant?«

»Weil …« Sie hielt inne, begriff endlich. Darauf hatte er es also abgesehen. »Weil jeder Wirt der Symbiose etwas Einzigartiges hinzufügt.«

Vaughn lächelte väterlich. »Jeder Wirt. Nicht allein Lela oder Audrid, Curzon oder Jadzia. Auch Ezri steht auf der Liste dieser Würdigen. Wissen Sie, wie ich die Sache sehe? Das Entscheidende bei einem vereinigten Trill ist nicht das Wesen in dessen Bauch. Es ist die Person, mit der dieses sich vereint, die es nährt und die ihm die Möglichkeit gibt, mit dem Rest des Universums zu interagieren.«

Scham und Unsicherheit kämpften in ihr um die Oberhand. »Ich verstehe, was Sie sagen, Sir. Und ich weiß es zu schätzen. Aber was, wenn ich Dax allein nicht das Wasser reichen kann? Tatsache ist doch: Mein Problem lässt sich nicht lösen, indem man mir irgendein Gerät in die Hand drückt, das ich nicht länger zu bedienen weiß, und alle glauben lässt, ich wäre noch immer die Alte. Das mag momentan bei Julian funktionieren, aber …«

»Julian muss um seinetwillen beschäftigt bleiben«, unterbrach er sie laut. »Sie zum Wohle aller anderen.«

Verwirrt schüttelte sie den Kopf. »Ich kann Ihnen nicht folgen.«

»Ich spreche vom Gemeinschaftsgeist, Lieutenant. Von Moral. Insbesondere von Nogs Moral, und ebenso von Shars, Tenmeis, T’rbs, Cassinis, Permenters, Hunters, Candlewoods, Leishmans, VanBuskirks und wem auch immer es noch gelingen könnte, uns endlich ins Innere dieses Objekts zu bringen. Wie, glauben Sie, wird es sich auf deren Arbeit auswirken, wenn Sie plötzlich von der Bildfläche verschwinden?«

Ezris Mund stand offen. Daran hatte sie gar nicht gedacht – und diese Tatsache war ihr ein weiterer guter Grund, ihren Namen vom Dienstplan zu streichen.

Doch sie wusste auch, dass Vaughn recht hatte.

»Sie bleiben im Dienst, Lieutenant«, fuhr er fort, Blick und Stimme hart wie Stahl. »Das ist ein Befehl – und Sie sind doch noch in der Lage, direkte Befehle zu befolgen, richtig?«

Plötzliche Erkenntnis verdrängte ihre Verzweiflung: Ihre Fähigkeit, Befehle auszuführen, war vielleicht das Einzige an ihr, dem sie noch voll vertraute.

Ezri schenkte Vaughn ein Lächeln. In seiner Art, genau das Richtige zum rechten Zeitpunkt auszusprechen, ähnelte er Benjamin Sisko. Vielleicht waren Ehrlichkeit und kompromisslose Counselor-Talente eine Grundvoraussetzung für eine Karriere auf der Kommandoebene.

»Bitte um Erlaubnis, auf meinen Posten zurückkehren zu dürfen, Captain. Ich muss mich auf die Blockadebesprechung vorbereiten.«

Vaughns Züge blieben hart, doch in seinen stahlblauen Augen sah sie die Wärme in seinem Inneren. Tränen der Dankbarkeit stiegen in ihr auf.

»Erlaubnis erteilt, Lieutenant«, sagte er. »Wegtreten.«

Kaum eine Stunde nachdem Nog – die Grundlagen seines Plans zum Durchbrechen der Blockade frisch im Kopf – die Krankenstation verlassen hatte, bekam er allmählich das Gefühl, die Sache könne tatsächlich funktionieren. Er hoffte nur, dass Commander Vaughn der Idee ebenso viel Vertrauen entgegenbrachte.

Die Konzentration auf die Lösung ihres Problems half ihm dabei, die Konsequenzen dieser Lösung zu ignorieren – Konsequenzen, an die er sich erinnerte, wann immer er sein Gewicht auf sein neues Bein verlagerte.

Für den nächsten Morgen hatte Vaughn eine Technikbesprechung anberaumt, und als Nog um 0800 in der Offiziersmesse eintraf, fühlte er sich bereit – aller Ängste und Sorgen zum Trotz.

Vaughn, Ezri und Shar nahmen gerade am größten Tisch des Raumes Platz. Auch Dr. Bashir war zugegen. Er hatte die Hände im Schoß gefaltet und war auffällig still. Obwohl sein Haar gekämmt und sein Gesicht glattrasiert waren, wirkte er fahl und auf eine Art unfertig, die Nog innerlich erschaudern ließ. Hin und wieder warf der Doktor Ezri, die zu seiner Rechten saß, und Sacagawea einen Blick zu. Der D’Naali saß auf einem speziell für ihn angepassten Sitz links von Bashir und neigte seinen großen Kopf in alle Richtungen. Er schien nichts verpassen zu wollen. Nog nahm nahezu direkt gegenüber von ihm Platz und fragte sich, wie viel der Fremde wohl verstehen würde – und was genau Commander Vaughn sich von seiner Anwesenheit bei diesem Treffen der Führungsoffiziere erhoffte.

Shar, der Wissenschaftsexperte T’rb und Bowers, die allesamt neben Tenmei saßen, starrten den D’Naali an, ihre Skepsis offensichtlich. Dann wandte sich Bowers an Vaughn. »Captain, sind Sie sicher, dass Sacagaweas Präsenz hier von Nutzen ist?«

Ein Hauch von Traurigkeit huschte über Vaughns Züge und verschwand hinter der Fassade des gefassten Kommandanten. »Das bin ich, Lieutenant. Unser Gast benötigt Dr. Bashirs ständige Aufmerksamkeit.« Dabei sah er Bowers wissend an.

Der taktische Offizier begriff sofort.

In Wahrheit ist es genau anders herum, erkannte auch Nog einen Moment später. Die Anwesenheit des Fremden hält Bashir ruhig. Er sah, wie der Doktor eine Hand auf den Tisch legte, die – unmöglich, es nicht zu bemerken – leicht zitterte. Ezri legte ihre eigene Hand auf sie und redete leise auf Bashir ein, dass bald, sehr bald schon, alles wieder gut sein würde. Nog fragte sich, ob sie für sie beide stark war oder nur selbst Halt suchte und sich deswegen an den Mediziner klammerte. Abermals spürte er die Schuldgefühle in sich aufwallen. Zwei seiner engsten Freunde waren innerlich in Stücke gerissen worden, vernichtet von dem fremden Objekt. Vielleicht für immer. Ich jedoch werde geheilt. Zumindest, bis wir Sacagaweas »Weltlichkeit« wieder geradegerückt haben.

»Ich sagte, wir wären dann so weit, Lieutenant«, verkündete Vaughn mit Nachdruck. Sein ungeduldiger Tonfall war wie ein unerwarteter Riss in der Wolkendecke über Ferenginar und brachte Nog aus seinen Gedanken.

Nog fühlte sich wie ein Kadett, der zu spät und ohne Uniform zur Inspektion erschienen waren. Er brauchte einen Moment, bis er sich gesammelt hatte. »Ja, Sir. Lassen Sie mich beginnen, indem ich Ihnen versichere, dass T’rb, Hunter und weitere Mitglieder der beteiligten Wissenschafts- und Ingenieurteams meine Angaben nachgeprüft haben.« Dankbar sah er, wie Shar und T’rb nickten. Ein breites Lächeln war auf dem Gesicht des Bolianers erschienen.

»Aus taktischer Sicht kann ich nur den Daumen heben«, sagte Bowers. »Auf dem Padd sieht alles prima aus.«

»Für mich klingt es aber riskant«, warf Tenmei ein und legte ein Padd beiseite, auf dem einige von Nogs Berechnungen zu sehen waren. »Sie schlagen im Grunde vor, dass wir eine Reihe von Himmelskörpern innerhalb der Oort-Wolke als Relais für den Transporter der Defiant verwenden.«

»Genau genommen werden diese gefrorenen Felsen nur Plattformen für eine Reihe selbstreplizierender Transporterrelais sein«, führte Nog aus, »die wir unserem Außenteam vorausschicken. Wir beamen das erste auf den nächstgelegenen Brocken, es beamt ein weiteres auf den übernächsten und so weiter.«

»Klingt zu einfach«, fand Tenmei. »Eine derartige Aktion ist sicher mit hohem Energieverbrauch verbunden.«

Shar nickte. »Das ist korrekt. Das Transportersystem der Defiant wird regelrecht in die Knie gezwungen werden. Die Etablierung der Relais wird zudem die Replikatorleistung beeinträchtigen.«

»Wir müssten für den Rest der Reise auf die Replikatoren verzichten«, erklärte Nog.

Vaughn schien die Information gut zu verkraften. »Ein kleiner Preis für die Heilung unserer Freunde. Außerdem sind die Frachträume voller Feldrationen und Ersatzteile. Falls der Plan funktioniert, hat sicher niemand ein Problem damit, bis zu unserer Heimkehr ‚auf Sparflamme‘ zu leben.« Er sah sich um, suchte nach Einwänden. Es kamen keine.

»Dieser Ansatz erinnert mich an die selbstreplizierenden Minen«, sagte Bowers, »die die Sternenflotte während des Krieges vor dem Wurmloch platzierte, damit das Dominion keine Verstärkung in den Alpha-Quadranten bringen konnte.«

Nog platzte fast vor Stolz. Diese Minen waren eine Idee seines Vaters Rom gewesen, ein Jahr bevor er der Große Nagus der Ferengi-Allianz geworden war. »Zum Teil habe ich die Idee von dort«, sagte er. »Außerdem basiert sie auf etwas, das ich bereits untersuchte, als wir mit der Sagan in die Oort-Wolke flogen. Anfangs dachte ich, die kristalline Struktur der Kometenfragmente könnte uns helfen, unseren Sensoren eine größere Reichweite zu verschaffen. Aber als wir fast mit dem Artefakt zusammenstießen, erkannten wir, dass die kristallinen Körper eine weitere interessante Eigenschaft besitzen: Ihre Subraumresonanzmuster arbeiten wie natürliche Tarnvorrichtungen. Deshalb sahen wir das Objekt erst, als wir fast auf ihm gelandet waren.«

Shar legte sein Padd beiseite, die Brauen und Antennen erhoben. Er schien von Nogs Plan begeistert zu sein. »Dieser Tarneffekt sollte die Nyazen davon abhalten, den Transport unseres Außenteams zu bemerken, wenn es sich von Relais zu Relais durch die Wolke bewegt.«

»Zumindest sehe ich diese Möglichkeit«, räumte Nog ein. »Der Effekt ist natürlich, von daher können wir uns nicht auf eine fehlerfreie Funktion verlassen. Aber er dürfte unsere Spuren gut genug verwischen, damit wir auch aus dieser Entfernung ein Team in das Objekt schicken können. Mit ein wenig Glück, merken die Blockadeschiffe nicht einmal, was wir vorhaben. Und wir müssen nur in Transporterreichweite zum ersten Relais sein, um loszulegen. Die anderen Stationen in der Relaisreihe kümmern sich eigenständig um den Rest.«

Tenmei wirkte skeptisch. »Vorausgesetzt, Ihre Berechnungen stimmen. Sie müssen auch sämtliche Bewegungen und gravitative Eigenheiten der Himmelskörper in diesem Bereich der Oort-Wolke berücksichtigen.«

»Das war der schwere Teil«, bestätigte Nog. »Aber alle scheinen sich einig zu sein, dass meine Zahlen stimmen.«

»Ich hoffe es«, sagte sie. »Aber wir werden es erst wissen, wenn wir ein Außenteam ins Risiko schicken.«

»Also stehen wir vor der großen Frage«, fasste Bowers zusammen. »Wer darf Teil dieses Teams sein?«

»Natürlich die Besatzung der Sagan«, antwortete Vaughn. »Ezri, der Dax-Symbiont, Nog und Dr. Bashir.«

Bowers runzelte die Stirn. »Wir haben nicht die geringste Ahnung, was sich im Innern des Artefaktes befindet. Ich wäre beruhigter, wenn auch Sicherheits- oder Taktikoffiziere mitreisen würden. Ich melde mich hiermit übrigens freiwillig.«

»Und das weiß ich zu schätzen«, sagte Vaughn in einem Tonfall, der nicht gerade zu Diskussionen einlud. »Aber ich lehne es ab. Nur die Shuttle-Besatzung beamt rüber. Ich werde nicht noch mehr Personen in Gefahr bringen.«

Bowers nickte, wenn auch sichtlich unzufrieden.

Zu Nogs leichter Überraschung schien Vaughn sich Sacagaweas Warnung zu Herzen genommen zu haben, laut der nur die Ursprungsbesatzung der Sagan die Reise antreten durfte. Andererseits: Welche Wahl bleibt ihm schon? Welche Wahl bleibt uns allen?

»Die zweite große Frage lautet: Wird es funktionieren?«, fragte Ezri.

Nog fand, dass sie bemerkenswert beherrscht klang. Doch seine empfindlichen Ohren entdeckten einen Hauch gut verborgener Unruhe in ihrer Stimme. Ezris Stärke war wirklich bewundernswert. »Ich bin da sehr zuversichtlich«, antwortete er und sah ihr tief in die Augen. »Sobald Shar und ich den Prototyp der selbstreplizierenden Transporterrelais fertig programmiert haben, können wir starten. Das wird in maximal drei Stunden der Fall sein.«

»Das Verfahren ist leichter, als es die Mathematik erscheinen lässt«, sagte T’rb.

»Zumindest für alle, die nicht auf der Transporterplattform stehen«, parierte Ezri sanft. »Nogs Plan zufolge werden die Relais nur ein bis zwei Sekunden vor dem Außenteam auf die Reise geschickt. Das ist ziemlich eng bemessen.«

»Wenn wir sie nicht fast zeitgleich mit dem Außenteam starten«, betonte Shar, »ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass die Nyazen unseren Plan durchschauen und einen Angriff starten, bevor wir die Mission beendet haben.«

»Riskant bleibt es trotzdem«, sagte Ezri. »Der Testlauf der Relaiskette ist gleichzeitig auch der Ernstfall.«

Shar nickte. »Ich räume ein, dass die Möglichkeit einer Fehlfunktion innerhalb der Relaiskette nicht ganz ausgeschlossen werden kann. Auch könnte der Transporterstrahl mit den Relais beziehungsweise unserem Team von der kristallinen Struktur der Himmelskörper im Wolkeninneren beeinträchtigt werden. In diesen Fällen wäre der Tod des Außenteams eine unausweichliche Folge. Sollten unsere Koordinatenberechnungen fehlerhaft sein, ist zudem mit …«

»Von wie vielen nicht ganz auszuschließenden Möglichkeiten sprechen wir hier eigentlich?«, wollte Tenmei wissen.

Shars Antennen lagen fast flach auf seinem Kopf. Er musste es hassen, derart in die Enge getrieben zu sein und sich so vielen chaotischen Variablen gegenüberzusehen.

»Wäre ich ein Zocker«, kam Nog ihm mit einer Antwort zuvor, »würde ich unsere Überlebenschancen auf etwa neunzig Prozent einschätzen.« Je größer das Risiko, desto größer der Gewinn.

»Dem stimme ich zu«, sagte Shar.

Vaughn saß schweigend da, schien nachzudenken. So gut die Chancen auch waren, bereiteten sie ihm offensichtlich keine Freude. Einen Augenblick lang fürchtete Nog, er würde ihn wieder zurück ans Reißbrett schicken. Vaughn öffnete den Mund …

… und auf einmal war Nog woanders. Er stand draußen, auf der Straße einer Stadt, und warmer Regen prasselte in sein Gesicht. Als er den Blick zum dunkel werdenden Himmel hob, sah er den Handels-turm über sich.

»Komm schon, Nog!«, sagte die Frau vor ihm tadelnd. Sie war im mittleren Alter und nackt, wie es von alters her Sitte unter Ferengi-Frauen war. Er erkannte sie sofort.

Prinadora!

Er sah an sich hinab und erkannte überrascht, dass seine Sternenflottenuniform durch grüne Ferengi-Alltagskleidung ersetzt worden war.

Sternenflotte. Wie dumm von ihm, diesen menschlichen Traum überhaupt einst geträumt zu haben. Seit sein Vater durch die Hand der Cardassianer gestorben und er gezwungen gewesen war, Terok Nor zu verlassen, hatte Nog so viel damit zu tun gehabt, das finanzielle Chaos seiner Mutter zu bereinigen, dass …

Plötzlich war die Offiziersmesse der Defiant wieder da, und in jedem Gesicht sah er das gleiche Erstaunen. Tenmei öffnete gerade einen Trikorder.

»Es war kein schlechter Ort«, sagte Bashir. Er wirkte verwirrt. »Ganz und gar nicht, wie ich ihn mir vorgestellt hatte.«

»Ich war wieder auf der Destiny«, sagte Ezri mit vor Erstaunen geweiteten Augen.

»Was ist gerade passiert?«, flüsterte Nog heiser.

Bowers stotterte fast. »Sie drei, Lieutenant, äh, Tigan, Dr. Bashir und Sie … Sie sind einfach verschwunden

Tenmei war aufgestanden und scannte den Raum vorsichtig mit ihrem Trikorder. »Knapp eine Sekunde lang glichen Ihre Quantensignaturen denen eines nahen Paralleluniversums«, sagte sie dabei. »Ein weiterer Beweis für Ihre zunehmenden Quantenfluktuationen. Zum Glück kehrten Sie alle zum Ausgangspunkt Ihrer Reise zurück. Aber wir können nicht garantieren, dass das nächste Mal genauso glimpflich verlaufen wird.«

»Nun«, sagte Vaughn leise. »Um eine bessere Demonstration dessen, wozu unsere Untätigkeit führt, hätten wir kaum bitten können.«

»Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht«, erwiderte Ezri, »aber ich setze lieber meine Moleküle aufs Spiel, bevor ich in irgendeinem Paralleluniversum verloren gehe. Oder weiterlebe wie momentan. Ich sage, wir packen es an!«

Nog wusste auch keine bessere Option. »Ich kann nur zustimmen.«

Tenmei wirkte nicht überzeugt. »Und wenn Sie an Bord des Artefaktes sind? Was dann?«

Die Frage schien Ezri zu überfordern, zumindest für einen Moment. Nog begriff, dass auch er nicht so weit vorausgeplant hatte, und sah zu dem Fremden jenseits des Tisches, als läge die Antwort auf Tenmeis Frage in dessen großen, ölschwarzen Augen.

»Sie werden Ihre Weltlichkeit wiedererhalten«, sagte Sacagawea überraschend deutlich. »Sich wiederherstellen werden Sie. Oder bei dem Versuch vergehen/enden.«

Den Worten folgte eine Stille, die fast eine Minute andauerte. Dann ergriff Commander Vaughn das Wort. »Es gibt Situationen, in denen wir blind vertrauen müssen. Angesichts unserer Alternativen – die darin bestehen, die Sagan-Besatzung durch unsere Untätigkeit für immer zu verlieren oder einen nicht gewinnbaren Kampf mit den Nyazen zu beginnen – sehe ich mich gezwungen, dies als eine solche Situation einzuschätzen. Mr. Nog?«

»Sir?«

Vaughn stand auf und deutete damit das bevorstehende Ende der Besprechung an. »Ich möchte, dass Sie und Shar alle verbliebenen technischen Vorbereitungen erledigen. Packen wir’s an.«

Zur Überraschung aller, meldete sich plötzlich Bashir zu Wort. Den Blick seiner ernsten braunen Augen auf Sacagawea gerichtet, fragte er: »Warum betet man ein Ding an, das ganze Welten vernichten kann?«

Nog fand die Frage exzellent, hatte bislang aber nicht daran gedacht. Sacagawea saß so teilnahmslos da, als hätte er sie nicht verstanden.

»Viele alte Erdenreligionen wurden um wütende, einschüchternde Gottheiten herum errichtet«, sagte Vaughn. Er setzte sich wieder, ließ den Arzt jedoch nicht aus den Augen. »Vielleicht haben die D’Naali und die Nyazen ähnliche Glaubensmodelle.«

Ezri nickte. »Das passt zu allem, was wir bisher sahen. Und es erklärt ihre Uneinigkeit, ob das Artefakt dort draußen nun eine Kathedrale oder ein Anathema ist. Ich schätze, sie hegen eine Art Hassliebe zu ihren Göttern.«

Wieder schwieg Sacagawea, sah nun aber in Ezris Richtung. Entweder verstand der D’Naali die Unterhaltung nicht, oder er behielt seine Gedanken für sich.

Shar runzelte die Stirn. »Und wie viel Vertrauen setzen wir in eine fremde Religion?«

»Bleibt uns denn eine Wahl?«, gab Vaughn zurück. Alle erhoben sich, sichtlich gespannt darauf, Nogs Berechnungen in die Praxis umzusetzen.

»Die Kukalakaner beten also Monster an«, sagte Bashir zu Ezri, die prompt seine Hand ergriff. Sein Tonfall war ein einziger, kindlicher Singsang. »Ich frage mich, ob die Monster in der Kathedrale auf uns warten.«

Ihre Antwort war geflüstert, doch Nogs empfindliche Ferengi-Ohren hörten sie trotzdem. »Ich werde direkt neben dir sein, Julian. Und es gibt gar keine Monster.«

Ohne Vorwarnung kamen Nog Bilder von Taran’atar, Kitana’klan und den Horden der Jem’Hadar in den Sinn, die ihm bei AR-558 das Bein nahmen. Nein, er konnte Ezris Zuversicht nicht teilen.

Auch Bashir wirkte nicht überzeugt, doch auch nicht panisch. Trotz seines Zustands schien er bereit zu sein, sich allem zu stellen, was im Innern des fremden Objektes auf sie warten mochte.

Und während Vaughn die Besprechung beendete und alle auf ihre Posten beorderte, erkannte Nog, dass er selbst genauso handeln musste. Mit Shar an seiner Seite ging er zu Transporterraum eins. Bei jedem Schritt bemühte er sich angestrengt, nicht an sein linkes Bein zu denken.

Persönliches Logbuch des Leitenden Medizinischen Offiziers,

Sternzeit 53580,3

Wir saßen an dem Ort, wo Ezri und ich essen und der Captain manchmal Versammlungen abhält. Und auf einmal war ich fort. Es gab einen Blitz, und weg war ich. Sam Bowers sagt, diesmal war es kein Traum. Er sagt, wir waren tatsächlich nicht mehr an Bord, sondern ein oder zwei Sekunden lang woanders. Sam sagt, Ezri und Nog waren ebenfalls fort. Aber wohin sie auch gingen, es schien ihnen nicht gefallen zu haben. Niemand will darüber sprechen. Deshalb erzähle ich’s dem Computer, anstatt meine Freunde zu belasten. Sie scheinen auch so schon mehr als genug um die Ohren zu haben.

Mir ist, als hätte ich an dem Ort Jahre verbracht, auch wenn Sam sagt, dass ich nur wenige Momente weg war. Es kam mir vor, als wäre ich in ein ganz anderes Leben getreten. Ich war noch immer Julian Bashir – diese Eigenschaft könnte mir wohl höchstens der Tod nehmen –, aber ich war nicht der Julian Bashir, den hier alle kennen. Ich war kein Mediziner, aber das schien mir egal zu sein. Meine Tage waren voller interessanter Dinge und wunderbarer Leute, mit denen ich sprechen konnte. Ich lebte auf der Erde, wo alles, was man braucht, aus Replikatoren kommt. Dort, im Herzen der Föderation, ist mangelndes Talent nicht gerade ein großes Problem. Ich war in einer Alternativwelt und lebte als Alternativ-Bashir. Aber dort nannten mich alle Jules. Sogar meine Frau, die zudem die Mutter unserer zwei sehr glücklichen, gesunden Kinder war: eines sechsjährigen Jungen und eines dreijährigen Mädchens.

Witzig, oder? Ich habe mich nicht mehr Jules nennen lassen, seit ich als Teenager von meiner genetischen Aufwertung erfuhr. Seitdem bestehe ich darauf, dass ich Julian heiße. Ich hielt Jules für tot und hätte nicht erwartet, je wieder von ihm zu hören. Doch die Begegnung mit ihm war nicht einmal das Überraschendste an meinem Ausflug. Die größte Überraschung bestand darin, in Jules einen ziemlich zufriedenen Mann zu finden. Er hatte viele Freunde und eine Familie, die für ihn da war.

Jules und Julian. Ich frage mich, wer von uns beiden das bessere Los gezogen hat. Falls ich mich wirklich in Jules zurückverwandle, sollte ich vielleicht Jules bleiben!