KAPITEL 16
Solis Tendren bemerkte sofort, wie viele Vedeks der Versammlung ferngeblieben waren. Die Kammer war kaum halb voll, und einige der Anwesenden waren keine Vedeks, sondern Ranjens. Der Rest war bereits nach Deep Space 9 aufgebrochen, um der Zeremonie beizuwohnen. Auch viele Minister würden dort sein.
Doch Vedek Yevir war weder hier noch auf der Station. Bellis Nerani besaß ein notariell beglaubigtes Dokument Yevirs, das ihm das Recht gab, den Kai-Kandidaten bei den Abstimmungen zu vertreten. Alle anderen Mitglieder von Yevirs engstem Kreis ehrten die Versammlung mit ihrer Anwesenheit: Bellis, Eran Dal, Frelan Syla, Scio Marses, Kyli Shin und Sinchante Jin waren in nahezu allen Themen seiner Meinung. Stets stimmten sie gleich ab – ein verlässlicher konservativer Block, dessen Stimme auch noch die strengsten Positionen vertrat.
Solis stand vor einer ungewöhnlichen Herausforderung. Jedes Mitglied von Yevirs engem Zirkel war ein hochrangiger Vedek. Die gebrechliche Frelan zählte zu den ältesten Vertreterinnen der Versammlung und erinnerte Jüngere gern daran, schon Teil der geistlichen Hierarchie gewesen zu sein, als besagte Jüngere noch in die Windeln machten. Scio war beeinflussbar und folgte gern dem Beispiel seiner Gefährten. Kyli war eine nachdenkliche Frau mittleren Alters, die zumindest dem Anschein nach auch Fremdmeinungen Gehör schenkte. Sinchante, ebenfalls eine Frau in mittleren Jahren, galt dagegen als erzgläubige Fanatikerin. Bellis haftete in Solis’ Augen etwas Abstoßendes an. Längere Unterhaltungen mit ihm konnten zur Qual werden, von Debatten in der Versammlungskammer ganz zu schweigen. Der blasse Vedek Eran mochte im direkten Vergleich schon fast als Freigeist durchgehen. Allerdings unterstellte Solis ihm politische Ambitionen.
Trotz oder gerade wegen der geringen Teilnehmerzahl, dauerte das Treffen außergewöhnlich lang. Eran saß der Versammlung heute vor, wie schon so oft in letzter Zeit. Man sprach über die Folgeschäden an der nordwestlichen Halbinsel, zu denen es im Zuge der Europani-Evakuierung gekommen war, über die fallenden Wasserpegel und die schwindenden Nahrungsvorräte. Niemand nahm das Wort Katastrophe in den Mund, doch es gab eindeutig Grund zur Sorge.
Solis seufzte. Ich wünschte, wir wären mit unserem Land so großzügig gewesen, als sich diese Skrreea-Bauern vor sieben Jahren in der Gegend niederlassen wollten. Dann gäbe es dort heute Wasser und Nahrung im Überfluss.
Als Nächstes brachte Vedek Teetow irgendwelchen Unsinn über ein Mädchen vor, das behauptete, in seinem Tempel die Vision eines Propheten gesehen zu haben – und zwar in ihren Mehlküchlein! Die Versammlung wollte schon zum nächsten Thema übergehen, als Teetow plötzlich von Wunderheilungen sprach, die das Mädchen seit der Vision an den Kriegsversehrten seines Dorfes vollzog. Dem folgte eine langwierige Diskussion darüber, wie mit dem scheinbar gesegneten Kind umzugehen sei.
Vedek Grenchen – ein sympathischer Mann, den Solis in Verdacht hatte, Vedek geworden zu sein, weil er nicht nur die Propheten, sondern nicht minder stark den Prunk und die edlen Gewänder der Geistlichen liebte – sprach die bevorstehenden Feierlichkeiten zu Bajors Föderationsbeitritt an. Die meisten Paraden und Feste würden etwa einen Monat nach der Vertragsunterzeichnung stattfinden – aus Rücksicht auf diejenigen, die die rituelle Zeit der Reinigung einhalten wollten. Grenchen fand, man solle einen neuen Feiertag ausrufen, an dem Bajor von nun an jedes Jahr seine Rolle im großen Netz der Galaxis ehren werde. Die meisten Vedeks stimmten Grenchen zu. Dennoch wurde die offizielle Abstimmung über das Thema auf einen Termin verschoben, an dem sämtliche Mitglieder der Versammlung anwesend sein würden.
»Gibt es sonst noch etwas, bevor wir schließen?«, fragte Eran und sah sich um. Lagen irgendwo Hände auf dem Tisch, um den Wunsch zu signalisieren, zur Versammlung zu sprechen? Langsam, aber überzeugt, streckte Solis die seinen aus. Eran bemerkte es prompt. Für einen kurzen Moment glaubte Solis, Feindseligkeit in den Augen des Vorsitzenden aufflammen zu sehen. »Ja, Vedek Solis?«
Solis stand auf und strich sein Gewand glatt. Alle Blicke ruhten auf ihm, und viele wirkten skeptisch. Seit er öffentlich die Prophezeiungen Ohalus gelobt hatte und für das Amt des Kais kandidierte, polarisierte er sehr und wusste es auch. Entweder war man für oder gegen ihn. Doch es gab nach wie vor ein paar wenige, die sich noch keine Meinung über ihn gebildet hatten. Dies galt auch für die Vedeks – und genau zu diesen wenigen Unentschlossenen wollte er nun sprechen.
»Wir sind ein Volk, das jetzt in die Zukunft blickt, und sich fragt, was diese bringt«, begann er und ließ seinen Blick von einem Vedek zum nächsten wandern. »Indem wir der Föderation beitreten, verschreiben wir uns einer galaktischen Gemeinschaft, deren Größe die unsere in den Schatten stellt. Jedes denkende Wesen auf jedem einzelnen Föderationsplaneten bringt eine Geschichte mit, eine Tradition, angeblich altbewährte Methoden. Manche von diesen bergen Konfliktpotenzial. Manche Personen innerhalb der Föderation glauben an einen einzelnen Gott als Schöpfer aller Dinge, der vom Himmel aus über sie wacht. Andere an ein Götterpantheon, deren Mitglieder für einzelne Elemente des Lebens stehen. Wieder andere lehnen die Existenz von Göttern ganz ab und glauben, das Leben sei ein kosmischer Zufall. Und einige denken, sie könnten selbst zu Göttern werden, wenn sie zeitlebens nur hart genug an sich arbeiteten.«
Er hielt inne und atmete tief durch. »Dies sind nur einige der diversen Glaubensmodelle, die die Wesen vertreten, denen wir uns mit unserem Föderationsbeitritt anschließen werden. Die Föderation ist ein Konstrukt – facettenreich und stetigem Wandel unterzogen. Voller Wesen, die unentschlossen, atheistisch oder agnostisch veranlagt sind. Wir stehen kurz davor, uns all diesen Wesen anzuschließen, seien sie nun gläubig, esoterisch oder empirisch geprägt. Wesen, denen das Bedürfnis nach Frieden, Forschung und Entwicklung gemein ist.«
Einige Vedeks runzelten abfällig die Stirn. Doch Solis entging nicht, dass der Großteil der Anwesenden nickte, wenn auch nur schwach. Also fuhr er fort. »Das Volk Bajors findet seinen Antrieb im Glauben an unsere Propheten. Und obwohl wir es manchmal verleugnen, wird Bajor von seiner Theokratie regiert. In der Ministerkammer sitzen die edelsten und gläubigsten Söhne und Töchter dieser Welt, und viele von ihnen wohnen den sakralen Zeremonien bei, die wir ausrichten. Sogar der Name unseres Planeten basiert auf unserem Glauben. Wären die Dinge vor Jahrtausenden anders verlaufen, hießen wir heute vielleicht Perikianer oder Endtreeaner. Aber wir sind Bajoraner. Unser Glaube definiert uns. Doch bedeutet Glaube automatisch auch, dass wir die Lehren der Propheten kritiklos annehmen müssen? Dass wir den Willen der Propheten nicht interpretieren, nicht hinterfragen? Wie viele von uns sahen die Besatzung als Willen der Propheten an, als grauenvollen Test, den zu bestehen uns auferlegt wurde? Wie viele von uns interpretierten sie als den Moment, in dem die Propheten uns verließen oder entschieden, uns zu bestrafen? Und doch, auch wenn wir dies glaubten, verloren wir unseren Glauben nie. Wir interpretierten das Geschehen schlicht auf eine Weise, die ihn bekräftigte.«
Abermals sah er sich um. »Die meisten von uns, die wir hier heute versammelt sind, haben die Macht der Propheten durch die Drehkörper erfahren – selbst die Ranjens. Die Drehkörper sind ein fassbarer, körperlicher Beweis dafür, dass es jenseits von Bajor eine Macht gibt, die uns übertrifft. Eine Macht, die die Wirklichkeit formen, die zerstören, die erschaffen kann. Und doch sind wir am Ende unserer Drehkörpererfahrungen allein mit der Frage, was die Propheten uns mit ihnen sagen wollen. Nie haben sie uns Interpretationsleitfäden zur Hand gegeben. Trotzdem kehren wir von den Drehkörpern zurück und erklären unsere Interpretation unserer erlebten Einheit mit den Propheten zum Wort der Propheten. Wir gründen den Fortlauf unserer Welt auf einem Gefühl, agieren als Übersetzer ihrer Wünsche.«
Solis räusperte sich. Er sah, wie Bellis ihn anstarrte und sich irgendetwas in den Schnurrbart murmelte. »Durch unseren Föderationsbeitritt«, fuhr er fort, »werden wir eine von über einhundertfünfzig Welten, eins mit Hundertmilliarden Lebewesen – und jede und jedes von ihnen bringt eigene Glaubenssysteme mit, eigene Überzeugungen. Wir predigen ihnen nicht von den Propheten, weil wir ihre Systeme respektieren, und im Gegenzug erachten sie unseren Glauben als nicht minder respektabel als den ihren. Wer von uns, die wir in dieser wunderbaren, riesigen Galaxis der unbegrenzten Möglichkeiten leben, kann schon sagen, die Götter der Andorianer oder Betazoiden seien weniger real als unsere Propheten?«
Wieder zögerliches Nicken. Wieder böse Blicke. »In dieser Zeit des Anschlusses und der Offenheit plagen dringende Sorgen die religiösen Anführer Bajors«, sagte Solis. »Körperlich wie metaphysisch befinden wir uns an einer Kreuzung und müssen wählen, welchen Weg unser Volk einschlagen soll. Unser Verhältnis zu Cardassia nähert sich einem Stadium friedlicher Koexistenz, aber werden wir diesen Friedenspfad weiter beschreiten oder ihn uns von unserer Trauer, unserer Wut und unserem Zorn über die Besatzung versperren lassen? Auch unser Glaube an die Propheten sieht sich Herausforderungen gegenüber. Manche Bajoraner finden, die Prophezeiungen aus dem Buch Ohalu verdienten Anerkennung und seien legitimiert. Werden wir zulassen, dass unser Volk seinen Glauben und seine Propheten hinterfragt, um verändert oder im Glauben bekräftigt aus dieser Krise hervorzutreten?«
Bellis stand auf und ergriff das Wort. »Wir wissen, dass Sie diese sogenannte Ohalavaru-Bewegung anführen, Solis. Ihre liberalen Plattitüden mögen auf der Straße und bei Ihren eigenen Versammlungen Anklang finden, hier in diesen heiligen Hallen sind sie aber Häresie!«
»Ist Ihr Glaube an die Propheten so schwach, Vedek Bellis, dass Sie nicht jenen zuhören können, deren Meinung sich von Ihrer unterscheidet?« Solis’ Stimme blieb fest, und er lächelte die ihn in der halbkreisförmigen Kammer umgebenden Vedeks freundlich an. Bellis nahm lautstark Platz und grunzte ungehalten.
Solis sprach weiter. »Ich kenne eine Person, deren Vertrauen in die Propheten sich mit unserem messen kann … vielleicht sogar stärker als bei manchen von uns ist. Ihr Pagh ist stark, ihre Taten stets, stets von ihrer Liebe zum bajoranischen Volk geprägt. Im Laufe der Jahre stand ich nicht hinter jeder dieser Taten, und ich weiß, dass auch viele von Ihnen mitunter Missfallen äußerten. Und doch waren die Absichten dieser Person immer und uneingeschränkt nobel, ihr Glaube rein. Kira Nerys zählt zu unseren Besten.«
Er wartete, doch das befürchtete Keuchen blieb aus. »Sie zu kennen, ist mir eine Ehre. Und ich bin nicht im Geringsten überrascht, dass der Abgesandte und seine Frau viel von ihr halten. Vor einigen Wochen verwies die Gattin des Abgesandten Vedek Yevir des Hauses, hieß Kira allerdings willkommen. In ihrer Obhut erholte sich Kira von schweren Verletzungen, die wir ihr zufügten – wir, die Bajoraner, wir, die Miliz, wir, die Gläubigen. Wir haben sie als Befleckt erklärt und unseres Glaubens verwiesen.«
Er faltete die Hände vor der Brust. »Diese überaus harte Strafe ist ein Eklat! Sie lastet schwer auf dem Gewissen unserer Welt und droht, das Volk gründlicher zu spalten, als es die von Kira veröffentlichten Worte Ohalus je könnten.«
Abermals ließ er die Worte sacken. Dann setzte er zum Finale an. »Meine geehrten Mit-Vedeks, ich beschwöre Sie: Erlösen Sie Kira Nerys von ihrer Befleckung. Ich weiß, dass sie ihren Glauben an die Propheten nicht verloren hat. Bitte lassen Sie nicht zu, dass die Bajoraner ihn verlieren – nicht nur den Glauben an die Propheten, sondern auch den Glauben an uns –, weil wir ungerecht stark bestrafen.«
Als er sich endlich setzte, begann er, zu zweifeln. Überall sah er nachdenkliche Gesichter. Einige Köpfe nickten zustimmend, andere wurden in wütender Ablehnung geschüttelt.
Vedek Eran atmete tief ein und bat um Handzeichen.
Mika hatte den Raum kaum betreten, da sah sie die Entscheidung der Versammlung bereits in Solis’ sorgenvollen Zügen. Das flackernde Kerzenlicht spiegelte sich in den Tränen, die seine Wangen hinabliefen.
»Du hast dein Bestes gegeben, Onkel«, sagte sie und hockte sich neben ihn. »Jeder, der deine Worte hörte, war bewegt.«
Er schnaubte und fuhr sich über die Wangen. »Nicht genug, wie es aussieht. Und nicht unbedingt in die richtige Richtung. Ich fürchte, meine Worte könnten den Spalt sogar noch vergrößert haben.«
»Nein«, widersprach sie. Als er wegschauen wollte, packte sie sein Kinn mit der Hand und zwang ihn, sie anzusehen. »Nein«, wiederholte sie betont. »Du hast eloquent und wahrhaftig gesprochen. Sie sind diejenigen, die sich von uns Fragenden entfernen. Falls es wirklich eine Spaltung gibt, so hat die Mehrheit der Vedek-Versammlung sie verbreitert.«
Er rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Wenigstens war das Ergebnis der Abstimmung knapper als zuvor.«
Auch sie lächelte und strich ihm mit dem Handrücken über die Wange. »Das war es. Und wäre die gesamte Versammlung anwesend gewesen, hättest du vielleicht noch mehr überzeugt. Aber nicht genug, wie ich fürchte. Vedeks können ein sturer Haufen sein.«
Diesmal widersprach er ihr nicht. »Einige werden ihre Meinung schon ändern«, sagte er nickend. »Mit der Zeit. Nachdem ihre Angst vor uns nachlässt. Wenn wir erst eine Weile in der Föderation sind und die Mehrheit erkennt, dass Bajor wegen unserer Anwesenheit nicht aus seinem Orbit fällt.«
Durch die offen stehende Tür trat Mikas Kind in den Raum. Es grinste und lief dann zu Solis, um sein Bein zu umarmen.
Solis hob den Halbcardassianer hoch und erwiderte die Umarmung. Dann sah er Mika in die Augen. »Ich fürchte allerdings, dass es dann zu spät sein wird. Doch ich werde das Thema weiterverfolgen, mein Kind. Ich werde die Befleckung des Colonels auch bei der nächsten Versammlung ansprechen. Und bei der übernächsten. Und der überübernächsten.«
Mika schüttelte den Kopf. »Darüber können Jahre vergehen. Ich schulde Kira mein Leben sowie das meines Sohnes. Wir stehen in ihrer Schuld, auch weil sie Ohalus Prophezeiungen rettete. Die Zeit für Taten ist gekommen. Lass uns etwas tun, das den Vedeks und Ministern zeigt, dass die Bajoraner nicht gewillt sind, Kira zu verstoßen.«
Solis setzte den Jungen ab und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Tu bitte nichts Unüberlegtes. Du musst nun auch an dein Kind denken. Ganz abgesehen vom Rest der Ohalavaru, denen es an guten Anführern mangelt.«
»Ich glaube, die Propheten haben längst entschieden, wer sich hier unüberlegt verhält.« Sie nahm ihren Sohn und küsste Solis auf die Stirn. »Keine Sorge, Onkel. Was getan werden muss, wird getan. Nichts anderes bin ich Kira und den Propheten schuldig.«
Dann wandte sich Mika ab und verließ den Raum. Im Licht der Kerzen warf sie einen dunklen Schatten.