KAPITEL 4

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Persönliches Logbuch des Leitenden Medizinischen Offiziers,

Sternzeit 53574,7

Es tut gut, das Schiff von Zeit zu Zeit verlassen zu können – und sei es auch nur, um an einer Routinemission in die tiefgefrorene Provinz eines Sonnensystems teilzunehmen, in der die beeindruckendsten Sehenswürdigkeiten aus Eisklumpen und Planetesimalen bestehen, die so wenig Sonnenlicht erhalten, dass sie nahezu unsichtbar sind. Chefingenieur Nog und Ezri – deren wissenschaftliche Neugier seit dem Aufbruch der Defiant immer stärker durchbricht und wohl ein Erbe von Tobin und Jadzia ist – finden diese Gegend allerdings faszinierend.

Ezri leitet diese Mission und scheint auch mit der Belastung, Erster Offizier der Defiant zu sein, außergewöhnlich gut zurechtzukommen. Ich muss gestehen, dass ich mich an ihr neugewonnenes Selbstvertrauen erst gewöhnen musste. Die Ezri Dax, in die ich mich verliebte, wäre noch als Musterbeispiel für Unorganisiertheit und Chaos durchgegangen.

Aber ich habe festgestellt, dass mich dieser Wandel nicht stört. Nicht im Geringsten.

Es war, als sänge das Universum dem Shuttle Sagan ein Lied.

Gewissermaßen.

Sofern man diese Kakofonie aus Geräuschen, die durch die Innenkabine dröhnten, überhaupt als Musik auffassen konnte, dachte Julian Bashir.

»Es ist wunderschön«, sagte Nog, beugte sich auf dem Sitz des Kopiloten vor und lächelte dem schwachen Schein der Kometenwolke entgegen, die jenseits der Fenster sichtbar wurde. Die Götter mochten wissen, was die Eismassen der diversen gefrorenen Himmelskörper dieser Gegend dazu brachte, Klang zu produzieren. Natürlich erzeugten die Vibrationen der Körper im Vakuum der Oort-Wolke von System GQ-12475 keine Geräusche im eigentlichen Sinn. Es lag allein an der Sagan, dass die Sensormessung eben dieser Vibrationen im Inneren des Shuttles als Audiosignal wiedergegeben wurde – und zwar als ziemlich anstrengendes.

Zumindest für Leute, die Nogs mitunter arg exzentrischen Musikgeschmack nicht teilen, dachte Julian.

»Absolut wunderschön«, wiederholte der junge Ferengi-Ingenieur und deutete auf einen Monitor, auf dem ein zehn Kilometer langer Frostklumpen plötzlich hin und her rutschte und damit für eine Reihe hoher Laute sorgte. Es klang wie eine Mischung aus Glasharmonika und Kettensäge.

Lieutenant Ezri Dax, die neben ihm saß, warf Nog einen kritischen, aber wohlmeinenden Blick zu. »,Wunderschön‘ ist nicht gerade das erste Adjektiv, das mir dazu in den Sinn kommt. Neun Leben reichen wohl nicht aus, um ein Faible für Freestyle-Splittermusik zu entwickeln.«

»Freestyle ja«, sagte Nog und rümpfte die Nase. »Aber definitiv nicht Splitter.« Das Wort schien ihm übel aufgestoßen zu sein.

Bashir, der hinter den beiden Sesseln im Cockpit stand, lächelte. »Für mich hört sich das eher wie sinnravianischer Drad an«, sagte er mit betont neutraler Miene.

»Ganz genau, Doktor.« Grinsend sah Nog auf eine Sensoranzeige. Er klang beeindruckt. »Normalerweise sind Menschen mit den atonalen Minimalisten nicht vertraut.«

»Weil sie auditiv nicht so … bestückt sind wie die Ferengi«, stellte Bashir fest. Eine Ästhetikdebatte schien sich anzubahnen, und er hätte alles gegeben, um sich aus ihr raushalten zu können.

»Die meisten Menschen fliehen aus dem Raum, wenn Drad gespielt wird«, ergänzte Ezri trocken. »Aber Julian kennt sich mit Drad aus. Und mit Splittern. Und anderen Krankheiten.«

Nog verzog das Gesicht, doch Julian verkniff sich das Lachen. Die Arbeit wartete. Als Shar sich eigenartigerweise von der Mission zurückgezogen hatte – was Ezri seitdem zu diskutieren vermied –, war Nog voller Enthusiasmus in die Bresche gesprungen. Die Reise der Sagan zum Schweif des hiesigen Kometen hatte nämlich mindestens eine ingenieurtechnische Komponente: Aufgrund ihrer kristallinen Struktur ließen sich Kometen als Standorte für Langstreckensensorfelder nutzen. Der Gedanke, die Himmelskörper in der Oort-Wolke eines Sonnensystems als natürliche Verstärker einer kleinen Menge an Geräten zu verwenden, mit denen sich bis zu einem Lichtjahr entfernte und bewohnbar wirkende Planeten genauer scannen ließen – von ihren eventuell feindlich gesinnten Bewohnern ganz zu schweigen –, hatte Nog ziemlich begeistert.

Seit gut einer Stunde erkundeten die Sensoren der Sagan das Feld weit auseinanderliegender Eisbrocken. Bisher hatten sie einige unerwartete – und bislang unerklärbare – Subraumwellen und gravimetrische Störungen gemessen, aus denen Nog und der Bordcomputer diese atonale Musikdarbietung erstellt hatten. Doch die Quellen dieser anormalen Messwerte lagen nach wie vor im Dunkeln. Allmählich kam sich Julian in der Gegenwart eines verdienten Ingenieurs und einer Alleskönnerin mit mehreren Leben voller potenziell relevanter Erfahrungen unnütz vor. Das hab ich jetzt davon, dass ich mich für so viele Dinge interessiere – und mich von Ezri als ‚Glücksbringer‘ auf diese Mission schleifen ließ.

Die »Sphärenmusik« gelangte gerade an eine besonders schmerzhafte Note und riss Bashir grob aus seinen Gedanken. »Lassen wir die musikalischen Debatten mal außen vor«, sagte er zu niemand Speziellem. »Wir wissen noch immer nicht, was die Ursache der Störwellen ist, die uns seit einer Stunde ein Ständchen bringen.«

Ezris Gesicht war ein Ausdruck vollster Konzentration und weckte lebhafte Erinnerungen an Jadzia. Na klar, dachte Julian. Jetzt ist sie voll in Jadzias Element. Liebte man jemanden mit derart vielen Facetten, wurde das Leben zur Endloskette aus Neuentdeckungen und Anpassungen.

»Soweit wir bisher wissen, scheint es ein interdimensionaler Effekt zu sein«, sagte Ezri.

Bashir nickte. »Aber wo genau liegt sein Zentrum?«

»Mit Zugriff auf die Sensorik der Defiant wüssten wir das inzwischen«, antwortete sie schulterzuckend.

Nog schüttelte den Kopf. »Wenn die Defiant noch näher kommt, überlagern ihr Warpfeld und ihre Tarnvorrichtung nur das, was wir hier draußen, ähm, nicht finden, was immer das auch sein mag.«

»Das heißt also, wir machen weiter wie gehabt.« Bashir seufzte. »Mindestens noch ein paar Stunden lang.«

»Sieht ganz danach aus, Sir«, bestätigte Nog. »Vielleicht sogar länger.«

Während er sprach, prallte eine weitere Welle der dimensionalen Störung gegen die eisigen Kometenfragmente. Mehrere von ihnen erzeugten daraufhin ein ohrenbetäubendes Geheul, das erst zu einem erträglichen Hintergrundgeräusch wurde, als der Bordcomputer eigenmächtig die Lautstärke anpasste.

Ezri verzog das Gesicht. »Diese Jugend heutzutage … Hört nur noch Krach und hält das für Musik.«

Bashir, der ihr stumm zustimmte, kam sich mit einem Mal sehr alt vor. Dann schon lieber eins von Frenchottes romulanischen Oratorien.

Nog hatte Ezris Kommentar entweder ignoriert oder überhört. Er schien jeden Moment in Applaus ausbrechen zu wollen, fast so als hätte einer von Vic Fontaines Background-Musikern in Las Vegas gerade ein besonders gelungenes Jazz-Solo beendet.

Ezri beugte sich über die Konsole. Einen Moment lang wirkte sie besorgt. »Die Welle kam unserer Position ziemlich nah.«

»Aber wo kam sie her?«, fragte Nog und sah zu einer Anzeige an seiner Seite des Cockpits.

Und dann … brach das Universum seinen Gesang ab. Stattdessen öffnete es sein Maul, als wollte es das Shuttle Sagan verschlingen. Zumindest kam es Bashir in dem Sekundenbruchteil, als er aus dem Frontfenster blickte und »Da!« brüllte, so vor.

»Hart steuerbord, Lieutenant!«, befahl Ezri prompt und mit ruhiger Stimme. Die zögerliche, unsichere Frau, die Bashir vor über einem Jahr kennengelernt hatte, schien vollends verschwunden zu sein. Nog gab einen Befehl in seine Konsole ein, und schon kippte die Sagan zur Seite. Bashir musste sich an Ezris Sessel festhalten, bis die Trägheitsdämpfer den spontanen Richtungswechsel kompensierten.

Das Licht in der kleinen Kabine flackerte, erlosch und wurde umgehend vom schwachen Schein der Notbeleuchtung ersetzt.

»Was macht der Antrieb?«, fragte Dax, die Stimme voller eiserner Autorität.

»Impulstriebwerke und Schubdüsen sind nach wie vor funktionstüchtig«, antwortete Nog.

»Bringen Sie uns fünfhundert Klicks weiter und wenden Sie dann. Ich will mir dieses Ding mal aus sicherer Entfernung ansehen.«

Eine Ewigkeit später – auch wenn Bashir wusste, dass maximal zehn Sekunden vergangen waren – befand sich die Sagan in stabilem Orbit und scheinbar weit genug von dem dunklen Leviathan entfernt, der eben direkt vor ihr aus dem Äther gestiegen war. »Was ist das?«, fragte Bashir. Nun, da er erneut aus dem Fenster sah, machte seine Furcht einer Mischung aus Neugierde und Verwirrung Platz.

Was immer es sein mochte, es war gigantisch. Ein leicht glühender Koloss im All, voller Kanten und Winkel. Selbst mit seinem genetisch aufgewerteten Gehirn fiel es Julian schwer, die Unmengen sich überschneidender Ecken zu zählen, die dieses Ding besaß. Das fremde Gebilde glitt langsam durch die Leere, drehte sich, und mit jeder neuen Seite bot es seinen erstaunten Beobachtern ein neues Gesicht – selbst nach einer kompletten Drehung wirkte es nicht mehr wie zuvor. Gold, Silber und Rubinrot wetteiferten auf seiner vielschichtigen Oberfläche um die Aufmerksamkeit des Betrachters. Das Objekt spielte dem Auge Streiche: Mal war es ein Gemisch auf unmögliche Weise aneinanderhängender Formen, Linien und Winkel, mal erinnerte es eher an eine gotische Kathedrale. In gewisser Weise erinnerte es an die visuell trügerischen Arbeiten des irdischen Künstlers M. C. Escher.

Und es ergab keinen Sinn, fand Bashir. Egal, wie eigensinnig seine Erbauer vorgegangen waren, musste er die Architektur dieses Dings doch erfassen können! Eigentlich …

»Was immer es ist«, sagte Ezri, die das Objekt einige Minuten lang schweigend betrachtet hatte. »Von hier aus wirkt es ungefährlich.«

»Ich frage mich, warum es uns nicht schon früher aufgefallen ist«, sagte Bashir.

Nachdenklich starrte Dax aus dem Fenster. »Vielleicht sorgen die vom Objekt selbst ausgehenden Subraumstörungen dafür, dass die es umgebenden Kometenstücke wie eine Tarnvorrichtung wirken.«

»Und wofür halten Sie es?«, fragte er. »Nun, da Sie es sehen können.«

»Für die Himmlische Schatzkammer?«, schlug Nog vor, die Augen so groß wie Deflektorschüsseln.

»Ich hoffe nicht«, erwiderte Bashir.

»Ach ja? Warum?«, wollte Ezri wissen.

»Glauben die meisten Ferengi nicht, die Himmlische Schatzkammer sei das Erste, was sie nach ihrem Tod sehen?«

Nog schluckte hörbar. »Da haben Sie recht. Ich ziehe die Bemerkung zurück.«

»Was es auch ist«, sagte Ezri und sah auf eine Anzeige, »es ist etwa vier Mal so groß wie ein Schiff der Galaxy-Klasse – zumindest momentan.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie richtig verstehe«, warf Bashir ein. »Meinen Sie, das Ding verändert seine Größe?«

Ezri nickte, sichtlich fasziniert von den Sensordaten vor ihren Augen. »Soweit ich beurteilen kann, dreht es sich auf einer Art interdimensionaler Achse. Je nach Betrachtungszeitpunkt ragt ein anderer Teil seiner Masse in unser Universum hinein. Das Ding könnte ein vierdimensionales Objekt sein, das sich durch fünf Raumdimensionen bewegt. Oder durch noch mehr. Was wir hier sehen, ist nur der Schatten, den es im dreidimensionalen Raum wirft. Und dieser ändert sich, wann immer es sich durch die höheren Dimensionen bewegt. Wie es scheint, sind wir ihm fast ins interdimensionale Kielwasser geflogen.«

»Na, das beruhigt mich aber«, murmelte Bashir.

»Dass wir nicht durch Zufall in die x-te Dimension gerissen wurden?«, hakte Ezri nach und hob amüsiert eine Augenbraue.

»Nein.«

»Sondern?«

Er lächelte. »Ich fürchte, das ist einer der Nachteile der genetisch Aufgewerteten: Sofern etwas nicht durch und durch unverständlich ist, erwarten wir von uns, dass wir es durchschauen – und zwar recht schnell. Entsprechend angenehm ist es, zu hören, dass dieses Ding buchstäblich unfassbar ist – etwa wie die Geburt der Inamuri-Wesenheit, der wir beiwohnten, kurz nachdem die Defiant den Gamma-Quadranten erreichte.«

Lächelnd widmete sich Ezri wieder ihren Auswertungen. »So leicht lasse ich Sie nicht vom Haken, Julian. Über kurz oder lang finden wir schon heraus, womit wir es zu tun haben. Unfassbares dauert schlicht ein wenig länger.«

»Wir müssen es nicht definieren können, um seine Handlungen zu beurteilen«, sagte Nog. »Diesen Sensordaten zufolge ist das Objekt ganz eindeutig die Quelle aller dimensionalen Störungen, die wir empfingen.«

»Unser kosmischer Dirigent«, sagte Bashir. Er schaute anerkennend aus dem Fenster und zu dem sich stetig wandelnden Ding vor ihnen. »Wie lange es wohl schon hier draußen wartet, dass jemand kommt und es entdeckt?«

»Ich habe bereits mit einer Analyse des Hüllenmaterials begonnen«, erklärte Nog. »Bisher ohne genaues Resultat, aber eins ist gewiss: Es ist alt. Alt im Sinne von einer halben Milliarde Jahren.«

Bashir war sprachlos. Eine Kultur, die etwas derart Rätselhaftes zu errichten verstand, musste der Föderation technisch um Längen überlegen sein. Aber welchen Zweck erfüllte das Gebilde? Was war aus seinen Erbauern geworden?

Ezris Blick traf den seinen, und sofort sah er Jadzias »Ich liebe Geheimnisse«-Lächeln.

»Wie gesagt: Es macht keinen gefährlichen Eindruck«, sagte sie. »Hat jemand etwas dagegen, wenn ich eine genauere Untersuchung anordne?«

Seit Beginn ihrer gemeinsamen Erforschung des Gamma-Quadranten hatte es Momente gegeben, in denen es Bashir seltsam vorgekommen war, Befehle von einem Lieutenant anzunehmen – insbesondere, da es sich bei diesem um die Frau handelte, die er liebte. Doch Ezri war auch Commander Vaughns Erster Offizier, und inzwischen wusste er, dass er sich einfach zurücklehnen und die Fahrt genießen sollte. Also grinste er. »Sie haben das Kommando, Lieutenant.«

Sie erwiderte das Grinsen, dann wandte sie sich an Nog. »Lieutenant, legen wir los.«

Nog parkte die Sagan in einem nahen Orbit, etwa fünfzehn Kilometer vom nächsten Punkt der sich stetig wandelnden fremden Masse entfernt. Ein zehnminütiger Scan der Außenhülle verriet, dass ihr Material tatsächlich Anteile von Gold, Platin und anderen Edelmetallen enthielt – ergänzt durch diverse transuranische Elemente, die Bashir noch nie gesehen hatte. Auch die eigentliche Form der sich wild wandelnden Oberfläche blieb ihm nach wie vor ein Rätsel. Das bedeutete wohl, dass sie noch nicht Zeuge einer kompletten Drehung auf seiner interdimensionalen Achse geworden waren. Bashir war kein Experte in multidimensionaler Topologie, doch ihm schien offensichtlich, wie unfassbar komplex die Wandlungen auf der Oberfläche des Artefakts sein mussten.

Was ist nur in dem Ding drin? Bashir ging in der Kabine auf und ab, während Ezri und Nog an den Konsolen arbeiteten.

»Versuchen Sie’s weiter mit den Tiefenscans«, sagte Ezri gerade. »Und behalten Sie den Subraumhorizont im Auge. Wir sollten nicht zu nah kommen, sonst reißt uns dieses Ding noch mit sich aus dieser Dimension hinaus.«

»Aye, Sir.« Nog klang frustriert, als er seine Konsole bediente. »Ich wünschte nur, die Veränderungen in Masse und Gravitation wären leichter vorherzusehen.«

»Mit sich?«, wiederholte Bashir. »Das verstehe ich nicht ganz.«

Ezri deutete auf eine der Cockpitanzeigen. »Mir ist aufgefallen, dass das Objekt der Sagan ein klein wenig Energie entzieht. Und ich wette den gesamten Raktajino-Vorrat auf Qo’noS darauf, dass es diese in der Dimension ablädt, aus der es sich gerade in unsere durcharbeitet.«

Der Gedanke gefiel Bashir ganz und gar nicht. »Geht eine Gefahr von ihm aus?«

»Bisher keine, mit der wir nicht umgehen könnten«, antwortete Dax. »Aber damit das so bleibt, sollten wir nicht noch näher an es herankommen.«

»Oh«, murmelte er und dankte Jadzia in Gedanken für ihr physikalisches Fachwissen. Ob Ezri bewusst war, wie selbstverständlich sie in die wissenschaftlichen Fußstapfen ihrer Vorgängerin getreten war?

»Prallen die Sensorstrahlen nach wie vor ab?«, wollte die Trill wissen.

Nog nickte. »Die meisten. Allerdings erfasse ich mehrere große, leere Kammern knapp unterhalb der Hülle. Ich glaube, auch eine Art Restenergie zu erkennen, kann das aber nicht mit Sicherheit sagen. Die Scans nach Lebenszeichen haben bisher keine aussagekräftigen Resultate geliefert.«

Plötzlich blieb Bashir stehen. Eine Idee nahm Formen an. »Warum klopfen wir nicht einfach an?«, fragte er leise.

Ezri drehte sich zu ihm und sah ihn an, als wären ihm soeben zwei andorianische Antennen gewachsen.

»Rufen wir sie«, erklärte er. »Vielleicht ist noch jemand zu Hause.« Nach einer halben Milliarde Jahren ist das vermutlich ein wenig zu optimistisch, ergänzte er in Gedanken. Galaktische Zivilisationen überdauerten in aller Regel Jahrhunderte oder Jahrtausende; diejenigen, die es auf Hunderte Jahrmillionen brachten, waren rar gesät. Aber wer nicht wagt …

Nach einem Moment des Nachdenkens nickte Ezri Nog zu. »Ich sehe keine Gefahr darin. Lieutenant?«

»Grußfrequenzen geöffnet«, meldete Nog und ließ seine Finger über die Konsole tanzen. Er wirkte froh, dass noch niemand vorgeschlagen hatte, rüberzubeamen und sich umzuschauen. »Ich schicke einen Gruß in allen bekannten Sprachen des Gamma-Quadranten.«

Dreißig Sekunden vergingen in völliger Stille. Dann eine ganz Minute.

»Ich glaube, es ist tatsächlich niemand daheim, Julian«, sagte Ezri dann mit einem leichten »Ich hab’s dir ja gesagt«-Lächeln. »Geben Sie der Defiant Bescheid. Sagen Sie, wir befinden uns auf dem Rückweg und bringen einen Schwung Daten mit.«

»Aye, Captain.« Bashir nickte ergeben und trat zum Subraumtransmitter an der Backbordseite der Kabine.

»Almosen!«

Nogs Ausruf ließ Bashir innehalten. Auch Ezri, die sich ebenfalls kaum auf Ferengi-Schimpfworte verstand, sah den Ingenieur fragend an.

»Verzeihen Sie«, bat Nog und riss sich zusammen. »Ich glaube, der Doktor lag gar nicht so falsch. Wie es scheint, ist jemand zu Hause. Oder besser gesagt: etwas.«

Ezris Hände flogen nur so über die Konsole. Bashir musste an die Geschichten denken, die über Tobin Dax und dessen Talent für Kartentricks erzählt wurden. »Der Computer lädt Daten herunter«, meldete sie. »Nog, sobald diese anfangen, gefährlich auf Sie zu wirken, schalten Sie das komplette System ab, verstanden?«

»Verstanden.«

»Die Energiequelle, die Sie registrierten, muss noch ein Computersystem am Laufen halten«, sagte Bashir zu ihm.

»Ziemlich resistente Hardware«, murmelte Nog. Beeindruckt sah er zu, wie unzählige Reihen unleserlicher Schriftzeichen über einen der Cockpitmonitore liefen. Hinter ihnen war das Negativbild der mysteriösen Weltallkathedrale selbst zu erkennen.

Bashir fühlte sich unangenehm an einen Bericht erinnert, den er einst gelesen hatte. Darin war es um ein ähnlich fremdes Objekt gegangen, das die Kontrolle über den Computer des Sternenflottenflaggschiffs an sich gerissen hatte.

»Was meinen Sie, Nog?«, fragte er. »Ist es gefährlich?«

Der Ferengi schüttelte den Kopf. »Wirkt eher wie eine Textdatei.«

Die Datenkette endete abrupt. Nog gab einen Befehl ein, der die bisher gesehenen Informationen in einen geschützten Zwischenspeicher verschob.

»Eine verdammt große Textdatei«, bemerkte Ezri. »Nahezu achtzig Megaquads.«

»Und was steht drin?«, fragte Bashir, der seine Aufgabe am Sub-raumterminal längst vergessen hatte.

Ezris Gesicht war eine Studie der Faszination. »Möglicherweise das gesammelte Wissen dieser Zivilisation. Alles über ihre Wissenschaft, Medizin, Kunst, Technik …«

Nog hob die Schultern. »Oder es ist eine Liste ihrer finanziellen Transaktionen.«

Bashir betrachtete die unvertrauten Linien und Kurven, die noch immer auf dem Monitor prangten. Dies mochte die Gamma-Quadrant-Variante der Bibel oder des Korans sein. Oder ein antikes Telefonbuch.

»Es könnte ganze Lebenszeiten kosten, das herauszufinden«, flüsterte Ezri.

Sie verlieh einem Gedanken Worte, den Bashir gleichermaßen faszinierend wie erschreckend fand. Nun, da sie eine halbe Milliarde Jahre in die Vergangenheit blickte, erschien ihm Ezri nicht länger wie die Kommandantin mit den Nerven aus Duranium, die sie noch vor wenigen Augenblicken gewesen war. Stattdessen hatte sie etwas nahezu Kindliches an sich. »Jagen wir’s mal durch den Universalübersetzer«, schlug er vor und mischte sich so sanft wie möglich in Ezris Aufgabenbereich ein. »Wenn wir den Text mit Sprachgruppen nahe gelegener Sektoren vergleichen, können wir ihn vielleicht teilweise entziffern.«

Es dauerte einen Moment, bis Ezri nickte. »Tun Sie, was er gesagt hat, Nog.« Mit einem Mal wirkte sie wieder voll konzentriert.

Dann erklang eine Alarmsirene und zerstörte den Moment. »Kollisionsalarm!«, brüllte Nog, hieb auf die Konsolen ein und ließ die Sagan hart nach steuerbord ausweichen. Bashir verlor das Gleichgewicht und schlug mit dem Kopf gegen die Armlehne eines der hinteren Sitze. Für einen Moment wurde ihm übel. Doch dann umklammerte er fest die Lehne und kam wieder auf die Beine. Er schüttelte den Kopf und sah zum Fenster.

Der fremdartigen Kathedrale war soeben ein Arm gewachsen. Besser gesagt hatte sich ein langer Auswuchs, eine Art Turm oder Halm, den Weg aus dem interdimensionalen Versteck, in dem der Rest des enormen Gebildes existieren mochte, in den Normalraum gebahnt.

Der Arm war kaum breiter als ein paar Meter, doch seine Länge bewegte sich im hohen zweistelligen Kilometerbereich. Es bestand kein Zweifel, dass er bis eben in den Tiefen des interdimensionalen Raumes verborgen gewesen war. Und nun – sehr, sehr schnell! – hielt er direkt auf die Sagan zu.

»Nog, Ausweichmanöver!«, schrie Ezri, die nun wieder die gewohnte Autorität ausstrahlte.

»Der Energieverlust ist soeben ins Unermessliche gestiegen, Captain«, gab der Ingenieur zurück und schlug frustriert mit der Faust auf seine Konsole. »Das Steuer reagiert nicht.«

»Trotzdem scheinen uns unsere Schubdüsen kurz zuvor noch ein wenig Schwung gegeben zu haben«, sagte Ezri gefasst. »Vielleicht reicht das, um aus seiner Bahn zu gelangen.«

Oder wir treiben dieser galaktischen Fliegenklatsche direkt in die Bahn. Bashir setzte sich auf einen der hinteren Sessel. Er wollte sich gerade anschnallen, als ihm bewusst wurde, wie absurd die Geste war. Entweder überstehen wir das hier unbeschadet, oder wir werden in Stücke gerissen.

Also stand er auf, eilte zum Subraumtransmitter und versuchte, einen Kanal zur Defiant zu öffnen. Doch er hörte nur statisches Rauschen. Als er zu Dax blickte, schüttelte diese den Kopf. »Die Subraumkanäle sind dicht«, wusste sie. »Das Ding da verursacht zu große Störungen.«

»Unsere Komm-Signale scheinen den Weg unserer Energie zu gehen«, murmelte Nog ungehalten.

Durch den Dimensionsriss, den dieses Ding verursacht, ergänzte Bashir in Gedanken.

»Vorsicht! Aufprall!«, rief Dax.

Abermals flackerte das Licht und erlosch schließlich ganz. Dann folgte, wenn auch nur kurz, ein unfassbar heller Blitz. Bashir fühlte ein Prickeln auf der Haut, als bohrte sich ein Bataillon mordianischer Schmetterlinge durch seine Poren. Dunkelheit folgte, und aus lethargischen Sekunden wurde knapp eine halbe Minute.

Und wieder warf die Notbeleuchtung ihren rötlichen Schein in die Kabine. Jenseits des Frontfensters hing die fremdartige Kathedrale im All, ein schweigender Koloss. Der seltsame Arm war nicht mehr zu sehen, und das gesamte Objekt schien noch bizarrere Winkel angenommen zu haben.

Dax seufzte laut. »Unser Restschub hat offenbar genügt. Aber es war sicherlich knapp.«

Bashir konnte nicht anders, als seiner Erleichterung ebenfalls Luft zu machen. »Danke, Sir Isaac Newton.«

»Status des Shuttles?«, fragte Dax.

»Die meisten unserer Funktionen sind noch inaktiv«, antwortete Nog, »aber je weiter wir von dem Objekt wegtreiben, desto mehr Energie scheint zurückzukehren. Wir haben bereits rudimentäre Impulskraft und einen Hauch von Steuerkontrolle. Auch die Subraumkanäle werden klarer.«

Schwindel überkam Bashir. Die Trägheitsdämpfer oder die Schwerkraftplatten im Kabinenboden hatten wohl etwas abbekommen. »Was ist da gerade passiert?«, wollte er wissen.

»Wenn ich raten sollte, würde ich sagen, wir sind über den Dimensionsriss gerutscht«, antwortete Nog. »Es ist ein Wunder, dass wir nicht da landeten, wo sich der Großteil dieses Dings befindet.«

Es fiel Bashir schwer, sich vom Steuerbordfenster und dem auf bizarre Weise schönen Objekt loszureißen, das sich in der Ferne langsam um sich selbst drehte. Wunder kommt hin. Ich halte es schon für ein Wunder, dass so etwas wie das da überhaupt existiert.

Für einen Moment tat es ihm fast leid, dass er nicht an Wunder glaubte.

Statisches Rauschen drang plärrend aus den Komm-Lautsprechern ins Cockpit. Dann bekam es eine menschliche Stimme. »…mei. Bitte kommen, Sagan. Hier spricht Ensign Tenmei. Sagan, hören Sie mich?«

»Sprechen Sie, Ensign«, sagte Dax und runzelte die Stirn. Irgendetwas schien mit der Defiant nicht zu stimmen, das spürten alle sofort.

»Ich fürchte, wir benötigen Dr. Bashirs Dienste, Lieutenant.«

»Wurde jemand verletzt?«, fragte Bashir über Ezris Schulter hinweg. Das fremde Artefakt spielte plötzlich keine Rolle mehr.

»Wir haben Verwundete an Bord«, drang auf einmal Commander Vaughns tiefe Stimme aus den Lautsprechern. »Aber sie gehören nicht zur Besatzung. Einige unserer Gäste sind in ziemlich schlechter Verfassung.«

Vaughns Informationen vermochten Bashir nicht zu beruhigen. Verletzte waren Verletzte. Und er war Arzt. »Verstanden, Captain«, sagte er und sah, wie Nog eine Subraumsonde startete. Gute Idee. Sobald wir mehr Zeit haben, müssen wir hierher zurückfinden.

Dax übernahm das schwerfällige Steuer und ließ den Impulstriebwerken mehr Energie zukommen. »Wir sind unterwegs, Sir.«

»Schade, dass die Defiant über kein MHN verfügt«, ergänzte sie an Bashir gerichtet.

»Ich ziehe Hilfe aus Fleisch und Blut vor«, erwiderte er. Er und Dr. Lewis Zimmerman, der Erfinder der aktuell auf so vielen Sternenflottenschiffen zu findenden Medizinisch-Holografischen Notfallprogramme, waren nicht gerade die besten Freunde – und Bashir verspürte keinerlei Drang, dies nun anzusprechen. Tatsächlich war ihm momentan überhaupt nicht nach Konversation zumute. Während die fremdartige Kathedrale vor dem Fenster schnell kleiner und kleiner wurde, sammelte er seine Energien für die Krise, die offenkundig vor ihm lag.

Doch der stetig mutierende Schatten des rätselhaften, langsam trudelnden Objekts blieb stets in seinen Gedanken.