KAPITEL 15
Bemüht leise betrat Ezri das Quartier, das sie sich mit Julian teilte. Sie wollte kurz nach ihm sehen, bevor sie sich auf die Taktikbesprechung vorbereitete.
»Hallo, Julian.«
Er saß im Schneidersitz auf der Pritsche. Seine sonst so gepflegte Frisur war völlig zerzaust, seine Uniformjacke zerrissen und schmutzig. Er hatte die Augen geschlossen, als würde er meditieren. Als sie sich öffneten, sah sie einen Wirbel der Verwirrung in ihren braunen Tiefen, der aber schnell verging. Julian lächelte.
Erleichtert erwiderte sie das Lächeln. Wenigstens dieses Mal hatte sie ihn also nicht erschreckt. Wenigstens dieses Mal warf er ihr keine Gegenstände an den Kopf. Oder schrie. »Du bist hübsch«, sagte er mit rauer Stimme. Erkannte er sie überhaupt?
Ihr Blick ging zu den schiefen Buchstaben, die er in ihrer Abwesenheit in die Kabinenwand gebrannt haben musste. Neben ein paar archaischen terranischen Worten stand dort: Eine Stimme und weiter nichts.
Sah er sich etwa so? In seinen wenigen klaren Momenten? Ezri hatte Schwierigkeiten, das nachzuvollziehen. Sie hatte gelernt, sein sicheres Urteilsvermögen und seine unumstößliche Menschlichkeit als selbstverständlich anzusehen – so selbstverständlich wie einem Mathematiker ein geometrischer Grundsatz erscheinen mochte. Der Satz dort an der Wand beschrieb sie selbst weitaus eher als ihn.
Nichts als Schein. Rangabzeichen auf einer Uniform, die nicht einmal die richtige Farbe hat.
Sie entsann sich ihrer Counselor-Ausbildung. »Schwindlersyndrom« hatte die Fachliteratur genannt, was sie gerade empfand. Die irrationale Überzeugung einer Person, für ihren Posten trotz langer Berufserfahrung nicht geeignet zu sein. Ezri fand die Diagnose absolut angemessen, und das erschreckte sie am meisten.
Plötzlich bemerkte sie das Laserskalpell auf dem Nachttisch. Das Werkzeug lag scheinbar vergessen auf einer abgegriffenen Ausgabe von Alice im Wunderland, einem von Julians Lieblingsbüchern aus Kindertagen. Es war noch immer aktiviert. Also hielt er Gerätschaften vor ihr verborgen. Oder lag die Schuld bei ihr? Hatte sie nicht gründlich genug gesucht, als sie ihr Quartier auf für Julian gefährliche Objekte durchgegangen war?
Ich bin eine schöne Nummer Eins. Ich kann nicht einmal den Mann, den ich liebe, von scharfen Gegenständen fernhalten.
Sie sah Julian ins kindlich neugierige Gesicht und setzte sich neben ihn. Wie beiläufig ergriff sie das Skalpell und schaltete es aus. Dann nahm sie sich den Hautregenerator.
Es entging ihm nicht. »Hey, die gehören mir«, sagte er trotzig.
Vorsichtig, warnte sie sich. Eine weitere Trotzattacke war das Letzte, was sie jetzt brauchte. Und sie wollte ihn nicht betäuben, denn sie fürchtete, dass nicht mehr viel von ihm übrig sein würde, wenn er erwachte.
»Ist schon gut, Julian«, sagte sie in bemüht fröhlichem Ton. Sie durfte nicht herablassend klingen, sonst provozierte sie ihn noch mehr. »Du hast doch nicht vor, bald zu operieren, oder?«
Erst jetzt viel ihr der kleine Teddybär auf, der zwischen den unordentlichen Laken lag. Ihm fehlte ein Auge, also musste es sich um Kukalaka handeln. Bisher hatte es sie stets amüsiert, dass Julian noch sein Stofftier aus Kindertagen besaß. Dass er es aber mit auf die Reise in den Gamma-Quadranten genommen hatte, war sogar ihr neu.
Dann sah sie das wirre Muster aus hauchdünnen Schlitzen im Bauch des Spielzeugs. Julian musste es verwendet haben, um sich an sein chirurgisches Fachwissen zu erinnern.
»Ich bin Arzt«, sagte er und sah Ezri böse an. »Ich brauche meine Instrumente.«
Sein Benehmen erinnerte sie an ihren Bruder Norvo. Als sie klein waren, hatte er einmal verkündet, ab sofort Dilithium-Minenarbeiter zu sein. Er hatte damals genauso ernst gewirkt.
»Ja, Julian. Aber Ärzte bewahren ihre Instrumente in der Krankenstation auf.« Sie steckte sie in ihre Tasche. »Ich bringe sie dorthin, während du dich hier ausruhst.«
»Ich muss mich nicht ausruhen.« Als er vom Bett aufstand, verlor er fast das Gleichgewicht. »Ich muss auch zur Krankenstation.«
Nie zuvor hatte sie ihn so gesehen. »Ich glaube, das ist keine gute Idee, Julian.«
Er schubste sie beiseite und trat zur Tür, die sich prompt zischend öffnete. »Ich muss nach einem Patienten sehen.« Dann sah er zu Kukalaka zurück. »Einem richtigen Patienten. Ich muss … eine Behandlungsmethode festlegen.«
Sacagawea, schoss es ihr durch den Kopf. Er sprach von ihrem D’Naali-Gast. »Julian, du musst hierbleiben. Du bist nicht in der Verfassung, dich um einen Patienten zu kümmern. Ensign Richter und Ensign Juarez können ihm alles geben, was er benötigt.«
Für einen langen Augenblick sah er sie an, als stünde er kurz vor einem Wutausbruch. Doch als er endlich sprach, war seine Stimme überraschend ruhig und sanft. »Du verstehst das nicht, Ezri. Der Patient, den ich behandeln muss, bin ich.«
Plötzlich wurde ihr etwas klar. Welche Fähigkeiten das fremde Objekt ihm auch genommen hatte, sein Mut und seine Willenskraft – seine emotionale Intelligenz – konnte es ihm nicht rauben, zumindest nicht ganz. Und dies war nicht der Zeitpunkt, um sich der Macht der Kathedrale zu ergeben. Nicht solange ihre Geheimnisse ungelüftet blieben.
Julian bat um nichts weiter als ein wenig Würde. Vielleicht ist das das Einzige, was uns niemand wirklich nehmen kann.
Tränen stiegen Ezri in die Augen, als sie die Gedanken an ihren eigenen Verlust zu verdrängen versuchte. Gleichzeitig verblüfft und beschämt von Julians Mut, traf sie eine Entscheidung. »Lass mich dich zur Krankenstation begleiten.« Einen Moment später schritten sie gemeinsam den Korridor entlang.
Für ein paar flüchtige Minuten fühlte sie sich nicht länger wie eine Schwindlerin. Und sie wünschte sich, sie könnte daran glauben, dass das Gefühl von Dauer sein würde.
Nog betrat die Brücke, und Shar folgte ihm. Nog genoss es, sein Gewicht auf sein linkes Bein zu verlagern. Es wirkte nicht weniger stabil als das alte. Gewöhn dich nicht zu sehr daran, warnte er sich selbst. Dann musste er ob der Absurdität der gesamten Situation lachen.
Ensign Tenmei saß an der Ops-Konsole und sah hinüber. Sie lächelte und nickte. Auch Commander Vaughn drehte sich zu den Neuankömmlingen um, einen erwartungsvollen Ausdruck im Gesicht. »Haben Sie einen Weg um die Blockade herum gefunden?«
Nog schüttelte den Kopf, enttäuscht von sich selbst. »Nicht direkt, Sir. Daran arbeiten wir noch.«
»Aber wir haben etwas anderes entdeckt, Captain«, ergänzte Shar. »Es betrifft den fremden Text. Wir fanden, wir sollten es Ihnen sofort mitteilen.«
Vaughn hob die Brauen. »Also haben Sie ihn übersetzt.«
»Teilweise.« Shar nickte. »Ich glaube, wir haben ein Stück des Werdegangs des Objektes entschlüsselt … Eine Art Ursprungsgeschichte.«
»Fahren Sie fort«, bat Vaughn und strich sich nachdenklich über den silberfarbenen Bart.
»Allem Anschein nach befand sich das Oort-Wolken-Artefakt einst auf der Oberfläche eines bewohnten Planeten«, sagte Shar.
Bowers, dessen Neugierde offensichtlich geweckt war, kam von der Taktik herüber. »Und wo befindet sich dieser Planet jetzt?«
»An mehreren Orten, soweit wir beurteilen können«, antwortete Nog. »Und zwar in vielen kleinen Stücken.«
»Die Ursprungswelt des Objektes wurde wohl schon vor Äonen zerstört«, sagte Shar. »Im Zuge einer großen, planetenweiten Katastrophe.«
»Welche Ursache hatte sie?«, wollte Vaughn wissen.
»Wir vermuten, das Objekt selbst war die Ursache«, antwortete Nog. »Was es auch tat, erzeugte genügend Energie, um es hierher zu befördern – in den Randbezirk des Systems.«
Vaughn deutete auf den Hauptmonitor, der noch immer das ewig trudelnde Objekt zeigte. »Es ist mächtig genug, um einen ganzen Planeten zu zerstören?«
»Ich glaube, es gibt nicht viel, was seine Fähigkeiten übersteigt«, sagte Shar. »Der Text erwähnt eine Urrasse, vielleicht die Vorfahren der D’Naali und der Nyazen. Diese soll das Objekt gebaut haben, um ‚die Früchte ungesehener Reiche zu ernten‘.«
Bowers runzelte die Stirn. »Ungesehener Reiche?«
»Vielleicht Paralleluniversen«, schlug Vaughn vor. »Womöglich haben wir es mit einer Art interdimensionalem Energiesammler zu tun.«
»Das ist auch unsere Vermutung«, bestätigte Nog. »Wir glauben, es wurde errichtet, um Energie aus höherdimensionalen Räumen abzuziehen, und aus den parallel zu uns verlaufenden Universen.«
Bowers wirkte beeindruckt. »Das würde erklären, warum dieses Ding immer nur teilweise aus dem Normalraum fällt.«
»Und es könnte erklären, warum die Sagan so seltsame Quantenresonanzmuster liefert«, ergänzte Tenmei. »Das Shuttle muss die Fingerabdrücke einiger dieser anderen Universen tragen.«
Shar nickte, das Gesicht düster. »Wenn das Objekt tatsächlich ein Energiesammler ist, erklärt sich dadurch auch der Energieverlust der Sagan.«
»Was, glauben Sie, wurde aus seinen Erbauern?«, fragte Vaughn, den Blick auf das fremde Objekt auf dem Monitor gerichtet.
Bowers stutzte nachdenklich. »Und wie sollen sie es geschafft haben, Informationen über das Ende ihrer Welt in den Text zu integrieren, nachdem diese bereits über den Jordan gegangen war?«
»Das beschäftigt mich ebenfalls«, gestand Nog. »Laut den übersetzten Fragmenten müssen sich einige Personen während der Katastrophe innerhalb des Artefaktes befunden haben. Ein paar Überlebende, die den Text dann auf den neuesten Stand brachten.«
Shar sah auf sein Padd. »Die Überlebenden könnten noch mehrere Generationen überdauert haben«, sagte er dann. »Vielleicht waren sie sogar die Vorfahren der D’Naali, der Nyazen oder beider Völker. Was auch geschah, ist in mythologischen Formulierungen verborgen, von daher können wir es kaum mit Sicherheit sagen. Aber es scheint, als hätten diese Wesen durch ihren Versuch, angrenzende Dimensionen anzuzapfen, Mächte entfesselt, die ihre Heimatwelt vernichteten.«
»Das Artefakt überstand die Katastrophe, weil es sich im Auge des Sturms befand«, sagte Vaughn.
Shar nickte. »Exakt.«
»Die Kräfte, die den Planeten zerstörten, schleuderten es hierher«, ergänzte Nog. Die Vorstellung dieses Objekts, das von Milliarden eisigen Oort-Wolken-Fragmenten und anderen Himmelskörpern abprallte, hatte etwas von einem besonders komplexen Dom-Jot-Stoß. Auf interdimensionaler Ebene.
Vaughn erhob sich vom Kommandantensessel. »Gute Arbeit, meine Herren. Mr. Bowers, Sie haben die Brücke. Mr. Nog, Sie und Ihre Leute setzen die Suche nach einem Weg um diese Blockade herum fort.«
»Aye, Sir.« Nog musste ein Lächeln unterdrücken. Aus einem Grund, den er nicht benennen konnte, fühlte er sich, als stünde er kurz vor einem Durchbruch. Doch er wusste, dass ein guter Ingenieur so etwas erst mit seinem Captain besprach, wenn er es überprüft hatte.
Dieser war bereits auf dem Weg zum Turbolift. »Shar, Sie kommen mit mir.«
Shars Antennen hoben sich vor Verwunderung, als er Vaughn folgte. »Sir?«
»Ich will wissen, ob Sacagawea Ihre Übersetzung ergänzen kann«, erklärte Vaughn und warf einen letzten Blick in Richtung des Objekts. »Vielleicht kennt er sogar einen Weg, wie wir da hineinkommen.«
Als Vaughn die Krankenstation betrat, bot sich ihm ein schmerzlicher Anblick. Julian Bashir war nur noch ein Schatten seiner selbst. Sein Haar war zerzaust und sein Gesicht unrasiert. In seinen dunklen Augen lag nahezu kindliche Angst, und dennoch bemühte er sich, seinen D’Naali-Patienten zu untersuchen, der teilnahmslos auf einem der Biobetten saß.
Ezri und Ensign Richter standen nicht weit davon entfernt und sahen gequält zu, wie der Arzt mit einem medizinischen Trikorder vor Sacagawea herumfuchtelte. »Du hast dich gut um ihn gekümmert, Julian«, sagte Ezri gerade. Es klang eigenartig. »Er wirkt … wirklich gesund.«
Vaughn räusperte sich und lenkte die Aufmerksamkeit der beiden Frauen so auf sich. »Ich würde gerne kurz mit unserem Gast sprechen.«
Bashir drehte sich um und sah Vaughn an, als würde er ihn nicht kennen. Die Vorstellung, sich selbst derart zu verlieren, traf Vaughn bis ins Mark. Mit seinen über hundert Jahren fragte er sich mitunter durchaus, ob eines Tages die Senilität auf ihn wartete. Gab es ein schlimmeres Schicksal?
»Selbstverständlich nur mit Ihrer Erlaubnis, Doktor«, ergänzte er, den Blick ausschließlich auf Bashir gerichtet. Dies war noch immer Bashirs Station, aktueller Zustand hin oder her, und Vaughn wollte dem Arzt seine Würde lassen, ohne herablassend zu wirken.
Bashir ließ seinen Trikorder sinken und nickte stumm.
Als Vaughn auf das große, dürre Wesen zutrat, sah es ihn aus undeutbaren, faustgroßen Augen an. Shar, der seinem Captain gefolgt war, blieb schweigend zurück und beschränkte sich darauf, das Geschehen zu beobachten.
»Wir brauchen Ihre Hilfe«, begann Vaughn.
Der Kopf des Wesens näherte sich dem seinen, als wäre er auf einer Art Kran befestigt. »Schuld/Verpflichtung ich habe«, sagte es, und der Universalübersetzer verwandelte seine undeutbaren Laute in Worte. »Mit Freuden erwidere ich selbiges. Welchen Wunsch/Bedürfnis haben Sie?«
»Ihre Gegner hindern uns daran, uns der … Kathedrale zu nähern. Wir müssen einen Weg finden, sie zu umgehen.«
Der Mund des Wesens verzog sich zu etwas, das Vaughn als Lächeln interpretierte. »Verständnis. Sie benötigen/erbitten Zugang zum Inneren der Kathedrale/Anathema.«
»So ist es.«
Bisher war es Vaughn nicht gelungen, von Sacagawea einen Grund für die erbitterte Feindschaft zwischen dessen Volk und den Nyazen zu erfahren. Entweder verstand ihr Gast Vaughns Fragen nicht, oder er behielt die Antworten absichtlich für sich. Vaughn hoffte nur, dass Sacagawea sich bezüglich des Artefakts als ergiebigere Informationsquelle erweisen würde.
Sacagawea streckte einen seiner langen, astähnlichen Finger aus und deutete zunächst auf Bashir, dann auf Ezri. »Zugang Sie ersehnen/erbitten, wegen dieses Paars. Berührt von der Kathedrale/Anathema beide sind. Verstellt in ihrer Weltlichkeit als Konsequenz/Resultat. Und beide abbauen/verschlimmern stetig, pro Zeiteinheit.«
Erstaunlich, dachte Vaughn, als ihm der Sinn hinter den gewundenen Aussagen des Fremden gewahr wurde. Ezri und Richter standen da und starrten Sacagawea aus großen Augen an.
»Woher kann er wissen, dass Julian und Ezri durch den Kontakt mit dem Objekt verändert wurden?«, fragte Shar. Er klang völlig verblüfft.
Auch Vaughn, dessen Neugierde gerade auf Warpgeschwindigkeit beschleunigte, wollte die Antwort darauf wissen. Doch er empfand auch ein unwiderstehliches Verlangen, mehr über das Objekt selbst zu erfahren. »Die Kathedrale hat besondere Bedeutung für Ihr Volk, nicht wahr?«, fragte er. »Und für die Nyazen.«
»Quelle aller Dinge ist Kathedrale/Anathema. Gefürchtet/geachtet von allen D’Naali. Gefürchtet/geachtet von allen Nyazen. Doch Nyazen wünschen Ausschließlichkeit. Verlangen/Ersehnen Kathedrale/Anathema einzig für Nyazen. Diese Ausschließlichkeit können D’Naali nicht gewähren/achten.«
»Weiß überhaupt jemand im Gamma-Quadranten, wie man teilt?«, fragte Ezri mit einem Anflug von Galgenhumor.
Bevor Vaughn reagieren konnte, glitt die Tür zur Krankenstation auf, und ein sichtlich aufgeregter Nog trat ein.
»Lieutenant?«, fragte Vaughn.
»Verzeihung, Sir. Ich hoffe, ich unterbreche nichts Wichtiges.«
»Schon gut. Was ist der Grund Ihres Kommens?«
Nog grinste. »Ich glaube, ich weiß endlich, wie wir die Blockade der Nyazen umgehen können.«
Vaughn wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als sich Sacagawea Nog zuwandte. »Berührt von Kathedrale/Anathema auch dieser ist. Weltlichkeit so verstellt wie die anderen.«
Vaughn war, als müssten sich seine Eingeweide verknoten. Das Wesen hatte jeden, der vom Objekt beeinträchtigt war, eindeutig identifiziert. »Nog«, sagte er. »Als Sie Sacagawea über das Artefakt befragten, sagten Sie ihm da, wer alles Teil der Sagan-Mission war?«
»Nicht direkt, Sir«, antwortete Nog peinlich berührt. »Ich meine, ich sagte ihm, dass ich an Bord war und Begleiter hatte. Aber ich nannte keinerlei Namen.«
»Und was hat er gesagt?«, wollte Vaughn wissen.
»Nicht viel, das einen Sinn ergeben hätte. Hauptsächlich, dass alle ‚Betroffenen‘ gemeinsam zum Artefakt gehen müssten.«
Vaughn wandte sich wieder an Sacagawea. »Was meinen Sie mit dieser ‚verstellten Weltlichkeit‘?« Inzwischen hatte Shar einen Trikorder geöffnet und wedelte damit vor Ezri und Julian herum.
»Verstellt«, sagte Sacagawea in einem Tonfall, der auf Vaughn leicht ungeduldig wirkte. »Ungebunden. Treibend/Verloren zwischen Welten. Ist deutlich genug/ausreichend, urteile ich.«
Vaughn trat einen Schritt zurück, schüttelte den Kopf. Die Erklärungen des Fremden waren so undurchschaubar wie der als Kohlensack bekannte Nebel in der südlichen Milchstraße.
Shar beendete seinen Scan von Nog und schloss den Trikorder wieder. »Ich glaube, ich begreife zumindest im Ansatz, was uns unser Besucher mitzuteilen versucht, Captain. Es scheint, als nähmen die eigenartigen Quantenresonanzmuster, die die Mitglieder der Shuttlebesatzung aufweisen, stündlich zu.«
Vaughn gefiel Sacagaweas Erklärung besser. Die war zumindest poetischer. »Erklären Sie das.«
»Wenn die Quantenresonanzmuster einer Person zu stark von der Normalität abweichen, kann es vorkommen, dass diese Person nicht länger mit der Quantensignatur unseres Universums kompatibel ist. Stellen Sie sich vor, Sie würden aufgrund einer Störung auf Quanten-ebene aus unserem Universum ‚entwurzelt‘ und blindlings in eine alternative Welt gestoßen werden.«
Vaughn entsann sich, etwas Derartiges in den Missionsunterlagen gelesen zu haben, mit denen er seine Reise nach DS9 an Bord der Enterprise verkürzt hatte. Vor vielleicht sechs Jahren war ein Mitglied aus Jean-Luc Picards Besatzung einem solchen Schicksal ausgesetzt gewesen. »Zeigen die Teammitglieder denn Anzeichen einer solchen Entwurzelung?«
Shar seufzte, aufgrund des Mangels an verlässlichen Informationen offensichtlich frustriert. »Nicht dass ich wüsste. Doch wer kann sagen, wie sich die Situation entwickelt?«
Vaughn warf Nog einen Blick zu. Der Ferengi verlagerte sein Gewicht nervös von einem Bein aufs andere. Die Unterhaltung war ihm eindeutig unangenehm, und er schien Ezri und Bashir absichtlich nicht anzusehen.
»Vielleicht verweisen diese Quantensignaturwerte auch auf etwas anderes«, wandte sich Vaughn wieder an Shar. »Anstatt in eine Art Parallelwelt zu gelangen, verwandeln sich die Betroffenen eventuell nach und nach in parallele Versionen ihrer selbst. Etwa in einen Julian Bashir, dessen Gene nie verändert wurden.« Er nickte Nog zu. »Wie der aus dem Alternativuniversum, das Ihr Vater und Ihr Onkel letztes Jahr besuchten.«
Ezri nickte. »Oder in eine Ezri Tigan, die nie mit Dax vereinigt wurde.«
»Oder in einen Nog, der auf seinen Onkel hörte und statt der Sternenflottenakademie eine Wirtschaftsschule besuchte«, ergänzte Nog und starrte nachdenklich auf sein linkes Bein.
Shar schien den Gedanken im Kopf hin und her zu wälzen. »Das wäre denkbar. Aber bei derart unberechenbaren Fluktuationen in den Quantenresonanzwerten kann ich ein plötzliches, dauerhaftes Verschwinden der Betroffenen nicht ausschließen.«
»Herrlich«, seufzte Vaughn. Dann sah er zu Sacagawea. »Wie … rückverstellen wir diese Weltlichkeit?«
»Eindringen in Kathedrale/Anathema«, antwortete dieser. »Nur dort können die vier Befallenen gelöst/hergestellt werden. Nur die vier dürfen eindringen. Andere würden verstellt, grausames Schicksal.«
Vier?
»Moment mal«, sagte Nog, dem der Fehler ebenfalls aufgefallen war. »Es waren nur drei Personen an Bord der Sagan.«
Vaughn sah, wie Ezri stumm den Kopf schüttelte. Sie hob die Hand und deutete auf eine fahrbare Krankentrage am anderen Ende des Raumes. Darauf befand sich der Behälter mit dem Symbionten. Offensichtlich stand eine Untersuchung bevor.
Und Vaughn verstand: Vier Befallene.
»Oh«, stieß Nog hervor.
»Die vier Befallenen brauchen/müssen Eindringen in Kathedrale/Anathema«, fuhr Sacagawea fort. »Solange Zeit ist/bleibt/andauert.«
»Bevor’s zu spät ist«, übersetzte Vaughn flüsternd. Obwohl er nichts als die Worte des D’Naali und sein eigenes Bauchgefühl hatte, ahnte er, dass der Schlüssel zu allem irgendwo in den rätselhaften Tiefen des fremden Objekts liegen musste.
Entweder dort oder nirgendwo.
»Okay«, sagte Ezri. »Jetzt müssen wir also nur noch die Blockade umgehen.«
»Keine Alternative zu Waffenentladung möglich«, warf Sacagawea ein.
Er meint, uns bleibt keine andere Wahl als der Kampf. Allmählich kam sich Vaughn wie eingesperrt vor. Irgendwo musste es doch ein Win-Win-Szenario geben! »Ein Kampf ist nicht die beste Option«, sagte er schließlich. »Dafür zielen schon viel zu viele Nyazen-Torpedorohre auf uns.«
»Angenommen, wir fänden einen Weg hindurch«, sagte Ezri, »welches Recht hätten wir, ihn zu beschreiten? Die Nyazen erheben Anspruch auf das Artefakt. Und sie haben uns bereits unmissverständlich, ähm, gebeten, weiterzuziehen.«
»Das sehe ich anders, Lieutenant«, warf Vaughn ein und drängte ihre Bedenken sanft beiseite. »Über die Rechtmäßigkeit eines Besitzanspruchs der Nyazen scheint keine Einigkeit zu herrschen. Zumindest laut den D’Naali. Und da beide Völker in der Lage sind, durchs All zu reisen, greift die Oberste Direktive nicht.« Also liegt es an mir, den Gordischen Knoten zu durchschlagen.
»Was werden Sie tun?«, wollte Ezri wissen.
Vaughn musste nicht aufsehen, um sich der Aufmerksamkeit aller Umstehenden sicher zu sein. Entsprechend sorgfältig wählte er seine nächsten Worte. »Ich werde mir meinen Weg schon erkämpfen – falls ich es muss! Danach stelle ich mich auch gern der Flotte. Aber zuvor will ich sichergehen, jede Alternative versucht zu haben.«
Ezri und Ensign Richter wirkten erleichtert. Sacagawea war so undeutbar wie eh und je, auch wenn Vaughn glaubte, er höre aufmerksamer zu, als es den Anschein hatte. Bashir sah schlicht verwirrt aus, gab sich aber eindeutig Mühe, Tapferkeit auszustrahlen – vielleicht für Ezri.
Nog machte ein Gesicht, als läge ihm etwas auf dem Herzen.
»Ich will ungern darauf herumreiten, Captain«, sagte Shar mit finsterer Miene, »aber unsere Alternativen sind erschreckend überschaubar. Ein Kampf könnte unausweichlich sein.«
Plötzlich grinste Nog so breit, dass seine Zähne zum Vorschein kamen. »Warum sollte man um Zugang zum Haupteingang kämpfen, wenn man sich einfach durch die unbewachte Hintertür hineinschleichen kann?«
Vaughn erwiderte das Grinsen. Alle Anwesenden, einschließlich Sacagawea, sahen den Chefingenieur erstaunt an.