KAPITEL 11

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»Na, Sie gehören nicht gerade zu meinen Stammkunden«, sagte Vic. Er wirkte leicht überrascht. »Was bringt Sie an diesem schönen Nachmittag in meinen Schuppen?«

Einen Moment lang sah Taran’atar die holografische Nachbildung eines Menschen schweigend an. Seinen auf Energiefluktuationen, wie sie etwa getarnte Jem’Hadar verrieten, geschulten Sinnen entgingen die etwa zwanzig Personen nicht, die sich im Restaurantbereich und auf der Tanzfläche von Vic Fontaines Lounge aufhielten. Jedoch nur eine von ihnen, ein grauhaariger Mann, der allein an einem kleinen Ecktisch trank, schien wirkliche Substanz zu besitzen. Taran’atar beschloss, ihn im Auge zu behalten.

»Meine Beine«, beantwortete er dann Vics Frage. Der Mann im Frack entblößte die Zähne, was Menschen und Vorta als freundliche Geste auffassten. Taran’atar hatte nie gern auf Zähne gestarrt, seien es menschliche oder die der Vorta.

»Und ich dachte, Frank und Dean hätten den trockensten Humor von ganz Vegas … Die werden sich über Ihre Konkurrenz nicht gerade freuen, mein Bester.«

Taran’atar wusste nicht, was er von den Bemerkungen des Holo-Menschen halten sollte. »Heißt das, ich bin in diesem Lokal nicht willkommen?«

»Ich gestehe, ich hätte Sie lieber in ’nem Frack gesehen«, sagte Vic und deutete auf seine eigene schwarz-weiße Garderobe, bevor sein Blick über die dunkle und pragmatische Kleidung des Jem’Hadars glitt. »Oder in einem Jackett. Na, immerhin tragen Sie schwarz.«

Wochen waren vergangen, seit Taran’atar zuletzt über sein Äußeres nachgedacht hatte. »Colonel Kira befahl mir, etwas anderes als meine Dominion-Uniform zu tragen. Und es ist der Wille des Gründers, den Sie Odo nennen, dass ich jeden Befehl des Colonels befolge.«

Vics Lächeln wurde immer schräger. »Ich hatte schon als Sie reinkamen das Gefühl, dass Sie ein richtiger Partylöwe sind. Also, was kann ich für Sie tun?«

Plötzlich erkannte Taran’atar, dass er nicht wusste, wie er sein Anliegen in Worte fassen sollte. Schließlich sagte er: »Viele Stationsbewohner schätzen Ihren Rat.«

Vic machte eine ihn selbst degradierende Geste mit den Schultern. »Ich sag ihnen bloß, was ich sehe. Aber das wollen sie nicht immer hören.«

Taran’atar nickte. »Vermutlich schenken Ihnen deshalb so viele Humanoide Glauben.«

»Ach, Junge – Glaubensfragen überlass’ ich den Ohrringtypen, capice? Ich bin nur ein Entertainer.«

»Man sagte mir, Ihre Intervention habe Nogs Tod verhindert.«

Vics Brauen schossen nach oben. Zumindest für den Moment schien er nach Worten zu suchen, was irgendwie uncharakteristisch für ihn wirkte. »Letztes Jahr«, begann er endlich, »nachdem er sein Bein verlor, war Nog ziemlich tief unten. Während er heilte, verbrachte er viel Zeit hier bei uns.«

Taran’atar hatte nicht vergessen, dass Jem’Hadar für Nogs Verwundung verantwortlich waren. Und auch Nog hatte es nicht vergessen, wie er kurz vor seinem Aufbruch in den Gamma-Quadranten bewies. »Das heißt wohl, dass er nach dem Verlust seines Beins emotional aufgewühlt war.«

Vic nickte. »Und wie.«

»Quark sagte mir, Sie persönlich hätten Nog vom Sterben abgehalten.«

»Ich half ihm schlicht schrittweise zurück in die Wirklichkeit. Das Ja zum Leben musste Nog schon selbst sagen. Er lernte, auch in einem großen bösen Universum an bessere Zeiten zu glauben. Und um die zu erfahren, musste er nichts weiter tun, als rauszugehen und wieder am Leben teilnehmen.«

»Demnach übertrieb Quark, als er Ihre Fähigkeiten beschrieb.«

»Ich bemühe mich, nicht zu viele Gedanken an meine Kritiker zu verschwenden, Kumpel. Die Leute denken, was immer sie denken wollen – über mich und jeden anderen. Und vermutlich soll’s genau so sein.«

Taran’atars Verwirrung wuchs mit jedem Wort. »Also erheben Sie keinen Anspruch auf besondere psychotherapeutische Talente. Obwohl andere Ihnen diese zusprechen.«

»Jeder muss an irgendwas glauben. Sie zum Beispiel glauben, die Gründer seien Götter, richtig?«

Taran’atar ließ sich die Frage kurz durch den Kopf gehen. »Nein. Die Gründer stellen für die Jem’Hadar keine Glaubensfrage dar.«

»Ach ja? Wieso?«

»Weil die Gründer Götter sind

Vic zuckte erneut mit den Achseln. »Wer blöd fragt …«

Plötzlich wurde sich Taran’atar einer Bewegung an dem entlegenen Ecktisch bewusst. Der Mann mit den eisenfarbenen Haaren, den er zuvor schon bemerkt hatte, war aufgestanden und trat nun auf ihn zu. Sofort fielen Taran’atar drei Dinge an ihm auf: Er war deutlich größer und breiter als es im Sitzen den Anschein gemacht hatte, er trug ebenfalls so einen schwarz-weißen Anzug, und er war definitiv kein Hologramm.

»Kennen Sie beide sich?«, fragte Vic, als der große Mann sie erreicht hatte. »Ich könnte mir vorstellen, dass Sie einiges gemeinsam haben.«

Endlich erkannte Taran’atar ihn wieder.

»Das hier ist so ziemlich der letzte Ort im ganzen Quadranten, an dem ich erwartet hätte, auf einen Jem’Hadar zu treffen«, sagte der Humanoide schlicht. Zu Taran’atars Erleichterung schien er nicht daran interessiert, seine Hand zu schütteln. An diese seltsame Geste hatte er sich noch immer nicht gewöhnt.

»Ich wusste nicht, dass sich Capellaner für menschliche Populärkultur interessieren«, sagte Taran’atar. »Sie sind Leonard James Akaar, Fleet Admiral, Sternenflotte. In dieser Kleidung habe ich Sie zunächst nicht erkannt.«

Akaar trank einen Schluck aus seinem Glas, bevor er etwas erwiderte. »Ich bemerkte vor langer Zeit, dass die menschliche Geschichte sowie die Kultur sehr faszinierende Facetten haben. Wie sagt man auf der Erde? ‚Andere Länder, andere Sitten.‘ Im Moment interessiert mich jedoch etwas ganz anderes: Was veranlasst einen Soldaten des Dominion, von den historischen Annehmlichkeiten einer der Gründungswelten der Föderation zu kosten?«

»Ich bin nicht als Soldat hier. Meine aktuelle Mission ist eine friedliche. Mir wurde aufgetragen, alles mir Mögliche über die Völker des Alpha-Quadranten zu lernen.«

»Ja, ich wurde über die Aufgabe informiert, die Odo Ihnen übertrug.« Akaar hob das Glas und prostete Vic zu, der der Unterhaltung aufmerksam lauschte. »Mr. Taran’atar, Sie werden Vic als scharfsichtigen Gastgeber kennenlernen. Und es stimmt: Sie und ich haben wirklich viel gemeinsam. Obwohl ich gestehen muss, dass es mich überrascht, zu sehen, wie entspannt wir in der Gegenwart des jeweils anderen bleiben.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Taran’atar.

Akaar runzelte die Stirn. »Das meinen Sie doch wohl nicht ernst. Verraten Sie mir: Wie viele Jem’Hadar habe ich während des Krieges Ihrer Meinung nach getötet?«

»Das entzieht sich meiner Kenntnis.« Es lag keine Emotion in Taran’atars Worten. Im Krieg blieben Dinge wie diese nun einmal nicht aus. Nun, da er vorüber war, hatten sie keine Bedeutung mehr.

»Zehntausende«, sagte Akaar. »Hunderttausend vielleicht, oder noch mehr. Manchmal stand ich dabei auf der Brücke eines Raumschiffes, manchmal im Strategiezimmer einer Raumstation, manchmal im Flottenhauptquartier. Einige tötete ich auch aus nächster Nähe, mit Handphasern oder meinem dreiklingigen Kligat.« Obwohl er nun schwieg, sah er Taran’atar auffordernd an.

Vic verzog das Gesicht, als sei eine Spannung in der Luft, die er nicht ertrug. »Jungs, sagt mir bitte, dass ihr nicht vorhabt, meinen Laden auseinanderzunehmen. Die Band hat sich immer noch nicht vollständig von Worfs Aufstand im vergangenen Jahr erholt. Und ich zahle den Rausschmeißern nicht annähernd genug, als dass sie sich mit einem von euch anlegen würden.«

Akaar lachte tief und rau. Er hob seine rechte Faust an die linke Brusthälfte und streckte die Hand dann in Vics Richtung aus. »Beruhigen Sie sich, Vic. Wie Mr. Taran’atar bin ich mit offenem Herzen und offener Hand hergekommen.«

»Ich interessiere mich für Ihre Erfahrungen während des Dominion-Krieges«, sagte Taran’atar. »Aber weshalb sprechen Sie mich auf die von Ihnen getöteten Jem’Hadar an?«

»Weil meine alten Ohren hörten, wie Sie beide über Glaubensdinge sprachen, und das weckte meine Neugierde. Wissen Sie, warum ich hierherkam, Mr. Taran’atar?«

»In diese Lounge?«

»Auf diese Raumstation.«

»Sie zählen zu den Föderationswürdenträgern, die Zeugen von Bajors Föderationsbeitritt sein werden.«

Akaar nickte. »Ein Ereignis, das ebenfalls eine Tat des Glaubens darstellt. Wann immer sich eine Welt der Föderation anschließt, ist dies ein sehr ernster Anlass. Eine Zeit der Freude und des Nachdenkens. Eine Zeit des Glaubens.«

Taran’atar entsann sich, wie sorgfältig die Vorta des Dominion vorgegangen waren, damit die Rohstoffe eines jeden neu annektierten Planeten optimal genutzt wurden und den Gründern halfen. Allerdings war dies stets sehr schlicht vonstatten gegangen, ohne Zeremoniell und Fanfarenklang. Nur mit den Riten und Worten, wie sie bei der täglichen Ausgabe des Ketracel-White üblich waren. »Abermals verstehe ich Sie nicht«, sagte er. Vor lauter Frust über sein fehlendes Geschick bei der Erfassung von Dingen, die diesen Bewohnern des Alpha-Quadranten instinktiv zuzufliegen schienen, wurde er regelrecht wütend.

Akaar seufzte, als sei ihm gerade der Versuch misslungen, einem stumpfsinnigen Kind etwas Offensichtliches zu vermitteln. »Ich glaube«, fuhr er fort, »dass die Jahre der Wandlung, die nach dem Ende der Besatzung durch die Cardassianer begannen, Bajor auf den Eintritt in unsere Weltenkoalition vorbereiteten. Ich vertraue darauf, dass am Ende unserer Bemühungen ein unzertrennbares Band zwischen Bajor, der Erde, Vulkan, Andor und anderen Föderationsplaneten existieren wird.«

»Mir fällt auf, dass Sie Ihre eigene Welt nicht nennen«, bemerkte Taran’atar.

Akaar hob eine einzelne Braue. »Ganz recht. Capella ist noch nicht so weit, nicht nach einem Jahrhundert voller Bürgerkriege. Meine Landsleute müssen noch viel über den Frieden lernen.«

»Interessant. Noch vor sieben Jahren befand sich Bajor in einem Zustand permanenter militärischer Unterdrückung und Guerillakriege. Dennoch nimmt die Föderation es vor Capella auf. Erzürnt Sie dies nicht?«

Akaar kniff die Augen zusammen. Für einen Moment fragte sich Taran’atar, ob er sich verteidigen müsste. Doch der Admiral bewegte sich nicht vom Fleck. »Sollte Bajor ein produktives Mitglied der Föderation werden, ist es Wegbereiter für andere Kandidaten, die sich noch frisch an die Geißel des Krieges erinnern. Ich vertraue darauf, dass Bajors Triumph eines Tages auch Capellas sein wird. Vielleicht nicht während meiner Lebensspanne, aber eines Tages.«

Vertrauen. Glauben. Das Konzept wurde immer verwirrender. »Aber wird Vertrauen nicht einzig dann benötigt, wenn für den Glauben an die Existenz einer Sache keinerlei faktische Basis besteht?«

Akaar trank den restlichen Inhalt seines Glases und sah Taran’atar an. »Präzise. Wir können nicht im Voraus wissen, was geschehen wird – so gründlich wir uns auch vorbereiten. Nehmen Sie abermals Bajor. Manche glauben, die Bajoraner sollten der Föderation erst beitreten, wenn sie eigenständig Frieden mit ihren alten Feinden, den Cardassianern, geschlossen haben. Aber die deutliche Mehrheit glaubt, es sei schon jetzt zur Mitgliedschaft bereit und der Friede mit Cardassia ein automatischer Nebeneffekt der Föderationstreue. Beide Parteien handeln aus Überzeugung. Weil sie glauben.«

Taran’atars Neugierde war geweckt. »Und welcher Seite schenken Sie Glauben, Admiral?«

Ein rätselhaftes Lächeln erschien auf Akaars Gesicht. »Es ist nicht meine Natur, abzuwarten, wenn Taten vonnöten sind. Ich halte Bajor für absolut föderationstauglich, heute schon. Aber kein Capellaner, der mein Alter erreichen durfte, glaubt daran, dass Frieden unvermeidlich ist.«

Dies war die erste eindeutig sinnvolle Bemerkung, die Taran’atar bisher von ihm gehört hatte. Und sie gab ihm die Chance, ein weiteres Rätsel anzusprechen, das ihn bereits eine Weile beschäftigte. »Warum fragten Sie mich nicht, wie viele Menschen ich während des Krieges tötete?«, fragte er leise.

Mit einem Mal verfinsterte sich Akaars Miene, und Vic wirkte wieder besorgt. »Vielleicht sollten wir’s für heute Nachmittag mit der Politik gut sein lassen«, schlug das Hologramm vor.

Taran’atar fragte sich, ob er abermals eines der undefinierbaren sozialen Tabus des Alpha-Quadranten gebrochen hatte. Sie schienen überall zu sein, wie Subraumminen. Und doch entschloss er sich, nachzuhaken. »Vielleicht wird es Sie beruhigen, zu wissen, dass ich während des Krieges nie im Alpha-Quadranten war. Ich kämpfte nie gegen die Föderation oder ihre Verbündeten.«

Aus Akaars finsterem Gesichtsausdruck wurde ein nachdenklicher. Er nickte. »Vielleicht wird es das.« Dann stellte er sein leeres Glas auf das Tablett eines vorbeigehenden Kellners und setzte zum Aufbruch an.

Taran’atar spürte, dass ihm eine wichtige Gelegenheit für immer zu entgleiten drohte. »Darf ich Ihnen eine letzte Frage stellen, Admiral?«

Akaar hielt inne und nickte knapp.

»Wären Sie ebenso über meine friedliche Mission erfreut, wenn ich während des Krieges Tausende Ihrer Leute getötet hätte?«

Die Frage schien den Capellaner mit dem eisenfarbenen Haar zu überraschen. Er rang sichtlich mit ihr. Dann sagte er: »Ich weiß es nicht. Aber ich glaube. Und wer glaubt, braucht keine Gewissheit.« Damit verabschiedete er sich von Vic und Taran’atar.

Stumm und nachdenklich stand der Jem’Hadar neben dem Sänger. Schließlich brach Vic das Schweigen. »Ich hoffe, Sie haben Ihre Antworten gefunden.«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Taran’atar.

»Setzen Sie sich. Denken Sie darüber nach. Und lassen Sie mich Ihnen etwas bestellen. Quark sagt, Sie hätten eine Vorliebe für Root Beer mit Schuss.«

Taran’atar nickte ernst. »Das ist korrekt.« Und Quark ist sehr gesprächig.

Vic erwiderte das Nicken, trat zu einer Kellnerin und hielt plötzlich inne. »Ach, übrigens«, sagte er über seine Schulter hinweg. »Tut mir leid, dass ich Ihnen unterstellt habe, Sie würden meinen Laden auseinandernehmen, wie Worf es damals tat.«

»Vielleicht«, sagte Taran’atar, »sollten Sie einfach mehr Vertrauen in Ihre Gäste haben.«