KAPITEL 8

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Bashir hob Ezris reglosen Körper auf und rannte mit ihr zur Krankenstation. Bowers begleitete ihn. Während sie den Gang hinab und in den Turbolift eilten, unterrichtete er Ensign Richter mittels Kommunikator über den Notfall.

Wenige Augenblicke später halfen Richter und Bowers, Ezris fiebrigen, schwitzenden Leib auf den Operationstisch zu legen. Als sie fertig waren, nickte Bashir Bowers knapp zu. Dann, dankbar für die normale Schwerkraft in diesem Nebenraum des Hauptbehandlungszimmers, ließ er seinen Trikorder über Ezri gleiten.

Die Scanresultate waren alles andere als erfreulich.

»Was ist los, Doktor?« fragte Krissten besorgt.

»Ihre Isoboraminwerte sinken rapide.«

Krissten zog ihren eigenen Trikorder und runzelte verwirrt die Stirn. »So etwas habe ich noch nie gesehen. Ist der Symbiont in unmittelbarer Gefahr?«

»Wenn sich nichts ändert, wird er’s in ein bis zwei Stunden zweifellos sein.«

»Was hat das hier verursacht?«

Das war die Frage, deren Antwort er schon zu kennen fürchtete. Bashir wich ihr aus. »Die Trill-Biologie kann komplex sein, Krissten. Führen Sie weitere Scans durch, das volle Programm. Die Laser-Biopsie heben wir uns für den Notfall auf.«

»Aye, Sir.« Sofort machte sie sich an die Arbeit. Wenn Krissten Richter in den vergangenen Jahren eines bewiesen hatte, dann, dass man sich auch während einer Krise voll auf sie verlassen konnte.

Ezri öffnete die Augen und ließ einen Schmerzensschrei hören, der Bashir bis in die Seele fuhr. Der Anzeige über ihrem Biobett zufolge litt sie an starken neurologischen Schäden. Ihr Nervensystem brannte nahezu – und er hatte keine Ahnung, warum.

»Bringen Sie mir den Deltawellenerzeuger«, sagte er. »Sie sollte besser bewusstlos sein.« Er presste das oblatendünne Gerät an Ezris Schläfe, und sie entspannte sich umgehend, wurde still. Ihre Augen fielen zu.

Komm zurück zu mir, Ezri, dachte er und nahm ein Exoskalpell vom Tablett. Bitte. Bashir starrte das OP-Besteck an, als hätte er es noch nie zuvor gesehen. Seine Hand zitterte. Die Erinnerung an sein Beinahedesaster mit dem Gerät trug nicht gerade zu seiner Beruhigung bei.

Geben Sie sich nicht die Schuld, Julian. Das riet sie ihm einst in einer ganz ähnlichen Situation. Damals, als sie noch Jadzia Dax gewesen war und Verad Kalon ihn gezwungen hatte, ihr den Symbionten zu entnehmen. Jadzias Stimme hallte schwach und immer leiser in seinen Gedanken wider. Geben Sie sich nicht die Schuld, Julian. Sie haben alles versucht, was sie konnten.

Er zwang die unwillkommene Erinnerung zurück auf das hohe Regalbrett, auf dem er sie mental abgelegt hatte, und konzentrierte sich auf etwas anderes. Welche Krankheitserreger konnten zur spontanen Trennung von Wirtskörper und Symbiont führen? Sollte Ezris Zustand auf einen von ihnen zurückzuführen sein, existierte vielleicht schon ein Heilmittel!

Voller Hoffnung justierte er seinen Trikorder und suchte nach speziellen Viren. Noch bevor er den ersten Scan beenden konnte, erwachte sein Kommunikator zum Leben. »Doktor, hier spricht Merimark vom Transporterraum.«

Verdammt! »Hat das nicht Zeit, Ensign?«

»Ich fürchte nicht, Sir. Medizinischer Notfall auf dem fremden Schiff. Ich beame die Verwundeten direkt auf die Krankenstation.«

»Verstanden. Wer kommt da auf uns zu?«

»Nog und Shar, Sir.«

Ein Unglück kommt selten allein …, dachte Bashir. Dann sah er, wie zwei Gestalten im Nebenraum Form annahmen.

Bashir blickte zu Nog, der sich auf die Ellbogen gestützt bemühte, eine bequemere Liegeposition zu finden. Von seinem Bett aus konnte er Ezri nicht sehen, die noch immer bewusstlos war.

Ist auch besser so, fand Bashir.

»Ich kann nicht glauben, dass das wirklich passiert«, sagte Nog zum vielleicht hundertsten Mal. Er klang abwesend, emotionslos. Dann biss er die Zähne zusammen, denn Lieutenant Candlewood hatte begonnen, seinen Beinstumpf zu scannen. Die Wunde war immer noch frisch, heilte aber immens schnell. »Ich kann es wirklich nicht glauben.«

Bashir ging es nicht anders. Und doch war Nogs Unglaube momentan nicht seine Hauptsorge.

Sondern Ezri.

Ihr Biobett stand zwischen Nogs und dem am anderen Ende des Stationszimmers – dem, auf dem noch immer der letzte Patient von vorhin schlummerte. Ezris Atem ging keuchend, und sie wurde stündlich blasser. Wieder und wieder war sie kurzzeitig aufgewacht, verwirrt und verängstigt. Zu ihrer aller Glück schlief sie nun aber, sogar ohne Deltawellenerzeuger. Bashir war für jede Gnade dankbar.

Krissten Richter stand an ihrem Bett. »Dr. Bashir«, flüsterte sie nun. »Sie sind schon seit Stunden hier. Gönnen Sie sich mal eine Pause. Ich rufe Sie, sobald sie zu sich kommt.«

Bevor er etwas erwidern konnte, glitt die Tür zur Krankenstation zischend auf. Bashir drehte sich um, rieb sich die Augen.

Commander Vaughn betrat mit sicherem Schritt und todernstem Gesicht den Raum. Shar begleitete ihn. Die Züge des Andorianers waren noch undeutbarer als sonst, falls das überhaupt möglich war.

Vaughn ergriff als Erster das Wort. »Der Versuch einer Kommunikation mit den Fremden hat uns in den letzten Stunden ziemlich auf Trab gehalten, Doktor. Ich bedaure, dass ich erst jetzt dazu komme, hier vorbeizuschauen.«

Bashir brauchte einen Moment, bevor er verstand. Welche Fremden? Erst als sein Blick auf die lange Gestalt auf dem dritten Biobett fiel, begriff er endlich. »Selbstverständlich, die Fremden.« Nun, da er nur noch einen behandeln musste, hatte er das Schwerkraftniveau auf das übliche ein g zurückgestellt. Einzig um das dritte Biobett herum herrschten nach wie vor andere Bedingungen. Krissten hatte keinen Hehl daraus gemacht, wie froh sie über die Rückkehr zur Normalschwerkraft der Erde war.

»Hat schon jemand ihre, ähm, Sprache entschlüsselt?«, fragte Bashir.

Shar schüttelte den Kopf, wodurch seine weißen Dreadlocks, ein krasser Gegensatz zu seiner himmelblauen Haut, hin und her wippten. »Lieutenant Bowers und die Crewmen T’rb und Cassini gehen mir aber zur Hand. Ich denke, wir werden es mit der Zeit schaffen. Der Text, den Sie heruntergeladen haben, könnte sich dabei tatsächlich als hilfreich erweisen.«

»Hat sich hier etwas getan?«, fragte Vaughn und sah zu Ezri.

Bashir blickte zu Nog und entschied, Ezris Diagnose nicht in Hörweite des Chefingenieurs und seiner sensiblen Ohren zu diskutieren. Schlechte Nachrichten würden ihn nur unnötig belasten. Bashir deutete auf sein Büro.

»Fangen Sie mit den schlechten Nachrichten an, Doktor«, bat Vaughn, sobald die Bürotür hinter ihm und Bashir zugeglitten war. Shar hatte sich entschuldigt und war an Nogs Bett getreten.

»Ezri entgleitet uns«, begann Bashir. Entgleitet mir. Mit einem Mal drohte ihn die Erschöpfung zu übermannen, und die Verzweiflung war ihr dicht auf den Fersen. Seufzend ließ er sich auf seinen Schreibtischsessel fallen.

»Inwiefern?«, hakte Vaughn nach. Der Commander blieb auf der anderen Seite des Tisches stehen.

»Das Bauchfell rings um die Symbiontentasche ist massiv entzün-det. Die Neurotransmitter- und Endokrinwerte sind katastrophal, der Thorokrinausstoß nimmt langsam giftige Ausmaße an.«

»Soll heißen?«

»Ezris Körper stößt den Symbionten ab. Es geschieht sehr langsam, aber es geschieht. Ohne jeden Zweifel – und ohne jede Rettung. Ihre Neurotransmitterproduktion ist dramatisch gesunken, und ihr Körper verweigert sogar Isoboramininjektionen.«

»Isoboramin?«, wiederholte Vaughn.

»Ein Neurotransmitter, der nur bei den Trill auftaucht. Ohne eine ausreichende Isoboraminkonzentration, bricht die neurale Verbindung zwischen Wirt und Symbiont zusammen. Dann muss der Symbiont entfernt werden, oder er stirbt.«

Vaughn verschränkte die Arme. »Haben Sie einen Verdacht bezüglich der Ursache?«

Er schüttelte den Kopf. »Mit Sicherheit kann ich momentan nur sagen, woran es nicht liegt. Ich finde weder Anzeichen für Bakterien noch für eine ungewöhnliche viruelle Infektion. Ich habe es mit Metraprovolin, Lethozin und Metrazen versucht – nur für den Fall, dass uns ein Virus entging. Doch ohne Reaktion. Sämtliche Mittel, die wir sonst bei Organtransplantationen verwenden, brachten das gleiche Ergebnis. Auch die Stimulanz der Neurotransmitterproduktion erwies sich als Sackgasse. Ich habe es sogar mit Bethanamin versucht.«

»Noch ein Neurotransmitter?«

»Ein Hemmstoff. Bethanamin ist eine kaum gebräuchliche Trill-Arznei, mit der es bereits gelang, einen Symbionten vom Wirt zu trennen. Allerdings misslang mir die Anwendung bei Ezri, und auch das kann ich mir nicht erklären. Kurz gesagt, hat keine meiner Anstrengungen bisher große Wirkung gezeigt. Es ist, als wäre ihr Körper ein Computer, dessen Programmierung sich nach der Inbetriebnahme nicht mehr ändern lässt.«

»Könnte die Begegnung der Sagan mit dem fremden Objekt etwas hiermit zu tun haben?«

»Darauf kann ich noch keine definitive Antwort geben. Ich weiß nur, dass Ezris Isoboraminwerte im freien Fall sind. Die Nervenverbindungen zwischen ihr und Dax schwinden. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass ihr Körper den Symbionten abstößt. Und ich kann den Vorgang nicht aufhalten.« Frustriert hieb er mit der Faust auf den Tisch, dann schwieg er. Tief in seinem Gedächtnis hörte er das Versprechen, das er Jadzia gab, als Verad sich kurzzeitig den Dax-Symbionten angeeignet hatte: Sie werden nicht sterben. Hören Sie? Ich lasse nicht zu, dass Sie sterben. Nur vier Jahre später hatte er es brechen müssen. Und nun drohte sich die Tragödie zu wiederholen. Es schien unvermeidlich zu sein.

Vaughn hatte begonnen, auf und ab zu gehen, und riss ihn so aus seinen trüben Gedanken. »Ich fragte ‚Was nun?‘, Doktor«, wiederholte der Commander. »Sie werden sicherlich nicht aufgeben.«

Obwohl Bashir den Kopf schüttelte, fühlte er sich zutiefst und vollends besiegt. »Der Symbiont zeigt Anzeichen einer beginnenden ischämischen Nekrose. Je schwächer Ezris Körper wird, desto schwächer wird der Symbiont. Ich fürchte, mir gehen die Optionen aus.« Was ich brauche, ist ein Wunder.

Vaughn schien diese Informationen gedanklich zu analysieren. Mehrere Augenblicke verstrichen, bevor er etwas erwiderte. »Wie viel Zeit bleibt ihr?«

»Bei dem Tempo, in dem sie derzeit Giftstoffe produziert, höchstens noch ein paar Stunden. Gleiches gilt für den Dax-Symbionten, sofern wir ihn nicht entnehmen.«

Vaughn war sichtlich nicht bereit, sich geschlagen zu geben. »In Ordnung. Da kein anderer Trill an Bord ist, steht eine Transplantation nicht zur Debatte. Es sei denn …«

»Sir?«

»Könnten wir sie in Stasis versetzen? Mitsamt dem Symbionten?«

»Ein Stasisfeld würde den Zusammenbruch ihres neuronalen Netzes nicht aufhalten. Es könnte ihn sogar beschleunigen.«

»Verstehe.« In Vaughns Stimme schwang immer noch ein wenig Hoffnung mit. »Trill-Symbionten sind bereits in Menschen implantiert worden, korrekt?«

Bashir nickte zögerlich. »Gelegentlich. Und immer nur für sehr kurze Zeit. Diese Notlösung würde den Symbionten aber nicht retten. Selbst wenn wir gestern bei maximaler Warpgeschwindigkeit nach Trill aufgebrochen wären, würde die Reise ganze Wochen zu lang dauern.«

»Könnten wir ihn nacheinander in mehrere Menschenwirte implantieren?«

»Die Wirte würden das vermutlich überstehen, der Symbiont allerdings auf keinen Fall. Eine Reihe derartiger Transplantationen würde ihn zu sehr belasten, da keine ausreichende Rekonvaleszenz gewährleistet ist. Um überhaupt eine Chance zu haben, muss der Dax-Symbiont nach Trill zurückkehren, in die Höhlen von Mak’ala. Oder an den nächstgelegenen Ort ähnlicher Beschaffenheit. Und zwar binnen Stunden nach der Trennung vom Wirtskörper.«

Vaughn schien sofort zu begreifen. »Falls der Symbiont noch schwächer wird, werden Sie ihn früher oder später von Ezri trennen müssen.«

Bashir nickte. Ihm war, als wäre er innerlich hohl geworden.

»Also wird sie, unabhängig vom etwaigen Überleben des Symbionten …« Vaughn brach ab.

»Ezri wird sterben, sofern kein Wunder geschieht.« Die Worte drangen aus Bashirs Mund, und doch kamen sie ihm fremd vor. So. Ich habe es endlich ausgesprochen.

»Sie deuteten eine Alternative zu den Höhlen von Mak’ala an«, murmelte Vaughn und strich sich nachdenklich über den Bart.

»Merimark und Leishman bauen bereits ein portables Becken für den Symbionten. Ähnlich dem, in dem ich Dax im vergangenen Jahr aufbewahrte – nach Jadzias Tod. Aber das garantiert uns nichts. Der Symbiont ist bereits beunruhigend schwach.«

Vaughn wirkte ernüchtert. »Klingt, als hätten Sie eine Entscheidung zu fällen.«

Es fiel Bashir schwer, sich zu konzentrieren. Er brauchte einen Moment, bevor er etwas erwidern konnte. Ob sich der Stress der letzten Stunden nun bemerkbar machte? Wie lange war er jetzt wach? »Entweder warte ich bis zur letzten Minute auf eine Wunderheilung für Ezri und Dax«, sagte er, »oder ich gebe wenigstens dem Symbionten eine winzige Chance auf ein neues Leben.«

Einem, in dem ich wahrscheinlich keine Rolle mehr spiele. Zum ersten Mal wurde Julian bewusst, wie hart die ersten Tage seiner Beziehung zu Ezri für Worf als Jadzias Witwer gewesen sein mussten.

»Auf Ezris Kosten«, bemerkte Vaughn. Doch es lag keine Kritik in diesen Worten. Vaughns lebhafte blaue Augen schienen in die Ferne zu blicken, zu anderen Zeiten, anderen Toden, anderen unfreiwilligen und doch unvermeidlichen Kapitulationen. In einer sanften, väterlichen Geste legte er Bashir die Hand auf die Schulter. »Es tut mir sehr leid, Julian.«

»Mir auch.« Die Worte klangen furchtbar banal, aber ihm fielen keine anderen ein.

»Wie geht es Nog?«, fragte Vaughn nach einem Moment der Stille.

Der Doktor rang sich ein schwaches Lächeln ab, dankbar für den Themenwechsel. Es war eine Erleichterung, die Last der Entscheidung, die auf seinen Schultern lag, ablegen zu dürfen – und sei es nur auf Zeit. »Ich zeig’s Ihnen«, sagte er und führte Vaughn zurück ins Nebenzimmer zu Nogs Biobett. Shar stand neben dem jungen Ingenieur, der aufrecht sitzend ein Padd zu lesen schien.

Als Vaughn sah, was neben dem Bett auf einem Tisch lag, konnte er seine Überraschung nicht verbergen: Nogs linkes Bein, abgetrennt am Knie.

»Hallo Captain«, grüßte der Ferengi und schien instinktiv aufstehen zu wollen. Dann erst merkte er, wie unsinnig sein Bemühen war und nickte in Richtung der verwaisten Prothese. »Verzeihen Sie die Umstände, Sir. Shar informierte mich gerade über die andauernden Reparaturen an Bord des fremden Schiffes.«

Vaughn schien bemüht, Nogs abgetrenntes Bein nicht anzustarren, scheiterte aber. »Shar, Senkowski und Permenter haben dort alles im Griff. Um die Problemfälle hatten Sie sich ja bereits gekümmert.«

Shar nickte Nog bestätigend zu. »Die Fremden werden in etwa einem Tag aufbrechen können.«

»Bis dahin ruhen Sie sich aus und hören auf Dr. Bashir«, sagte Vaughn zu Nog. »Verstanden, Lieutenant?«

Dieser grinste und reichte Shar das Padd. Bashir erhaschte einen Blick auf den Bildschirm und sah allerhand technische Schemata. Dann verschwand es hinter dem Rücken des Andorianers.

Bashir deutete auf das Bein. »Nog, darf ich?«

»Nur zu, Doc. Bringen Sie’s aber zurück, wenn Sie mit ihm durch sind. Ich finde es beruhigend, das Ding in der Nähe zu wissen. Auch wenn ich’s vielleicht nicht länger benötige.«

Bashir hielt die Prothese hoch, damit Vaughn sie betrachten konnte. Der Commander nahm sie und drehte sie in den Händen. Er wirkte verwirrt. Shar hingegen schien die Situation nicht weiter zu kümmern, dabei hatte er Nog und sein abgetrenntes Bein doch überhaupt erst auf die Krankenstation gebracht.

»Was ist passiert?«, fragte Vaughn.

»Nogs Körper scheint es zu verweigern«, antwortete Bashir. Schweigend ließ er die Worte sacken. Vaughns erhobene Brauen machten deutlich, dass auch der Commander den roten Faden erkannte, der sich ihnen bot: den der körperlichen Abstoßung. »Und das ist noch nicht alles.«

Vaughn reichte das Bein an Nog zurück. »Sie sagten gerade, sie benötigten es nicht länger. Wie darf ich das verstehen?«

Grinsend hob Nog die Bettdecke und wickelte den Verband langsam von seinem Beinstumpf. Bashir sah zu Vaughn und Shar, gespannt auf ihre Reaktionen. Shar riss nur leicht die Augen auf und neigte die Antennen neugierig vor. Vaughns Kinnlade fiel hingegen so schnell herunter, als sei sie ein Nickel-Eisen-Meteor.

Aus Nogs Stumpf entsprang ein Unterschenkel – noch klein, aber perfekt geformt. Binnen der vergangenen Stunde war er um mehrere Zentimeter gewachsen.

Es dauerte eine Weile, bis der perplexe Vaughn die Sprache wiederfand. »Können Sie … das erklären, Doktor?«

»Momentan bin ich ratlos«, antwortete Bashir und schüttelte den Kopf. »Sogar die verbrannten Oberschenkelnerven bilden sich neu.«

»Ich bin versucht, das als Wunder zu bezeichnen«, murmelte Vaughn. Sein Blick traf auf Bashirs. »Und wo wir eines finden, sollten wir nach weiteren suchen.« Was er meinte, lag auf der Hand: Ezri.

»Ich wünschte, ich könnte es mir leisten, auf Wunder zu hoffen, Captain«, gab Bashir zurück. »Doch leider muss ich mich mit der Wirklichkeit begnügen.«

Abermals öffnete sich die Tür zur Station. Merimark und Leishman traten ein und brachten einen Behälter mit, den sie mit Antigravs transportierten. Er war einen Meter lang und einen halben tief. Neben Ezris Biobett stellten sie ihn behutsam ab.

»Da wären wir: Ein medizinischer Transportbehälter für einen Trill-Symbionten«, verkündete Merimark und sah unsicher zur bewusstlosen Ezri. »Sobald Sie den Befehl geben, ist er einsatzbereit, Doktor.«

Bashir wusste, dass Kaitlin Merimark zu Ezris engsten Freunden an Bord der Defiant zählte. Sie nun so zu sehen, konnte für die junge Frau nicht leicht sein. »Danke, Ensign«, sagte er. Dann wandte er sich Vaughn zu. »Ich werde Nogs Zustand schnellstmöglich genauer durchleuchten. Momentan muss ich mich allerdings dringenderen Aufgaben widmen.«

Vaughn nickte. »Demnach haben Sie sich entschieden?«

Bezüglich Ezri. Der Zusatz blieb ungesagt und hing doch bedrohlich in der Luft. »Ja«, antwortete Bashir. »Für die einzig mögliche Alternative.«

»Ich verstehe«, sagte Vaughn. »Kommen Sie, Shar. Gehen wir zurück an die Arbeit.«

Der Andorianer nickte. Eine untypische Anspannung schien auf seinen Zügen zu liegen. Was er wohl über Ezris Zustand dachte? Bashir wünschte sich die Zeit, jedes Besatzungsmitglied vorab zu informieren. Zeit, damit Ezri sich persönlich von allen verabschieden konnte. Doch die hatte er nicht mehr. Er hatte sie verschwendet – mit seinen zwecklosen Versuchen, Ezri und den Symbionten zu retten.

Niedergeschlagen sah er Vaughn und Shar nach, als sie die Station verließen.

Ezri würde keinen großen Abschied wollen, redete er sich ein. Sie würde ein neues Leben beginnen, sobald Dax nach der Rückkehr von der Mission Gamma die Trill-Heimatwelt erreichte. Dann blieb ihr alle Zeit der Welt, sich mit alten Weggefährten in Verbindung zu setzen.

Zumindest wünschte er es ihr. Und sich.

»‚Noch reicht die Zeit, zu suchen eine neu’re Welt‘«, murmelte er. Dann bemerkte er Nogs fragenden Blick.

»Was ist los, Doc?«

Bashir begriff, dass er Nog vor der Wahrheit abgeschirmt hatte, um ihn zu schützen. Seufzend gab er nach und sammelte seine Gedanken. »Sie verdienen es, zu erfahren, was wirklich mit Ezri geschehen wird.«

Was die einzig mögliche Alternative ist.

Zum vielleicht ersten Mal in seinem gesamten Leben wünschte sich Julian Bashir, er wäre tot. »Ensign Richter«, rief er. »Bereiten Sie Ezri Dax bitte auf einen operativen Eingriff vor.« Dann wandte er sich wieder an Nog und begann, ihm so sanft wie möglich klarzumachen, dass Ezri schon sehr bald sterben würde.

Die Frau, die ich liebe, wird sterben.

Sie hatten Ezri zurück in den kleinen OP-Bereich gebracht, wo sie nun langsam wieder zu sich kam. Ihre Augen öffneten sich, und sie lächelte. Obwohl sie blass und fiebrig war, kam es Bashir vor, als hätte sie noch nie hübscher ausgesehen.

Es ist das letzte Mal. Das letzte Mal, dass ich dieses Lächeln sehen werde.

Sein Herz schlug wie wild, wie ein Hammer auf den Amboss. Trotzdem kämpfte er den Sturm in seinem Inneren nieder und erklärte ihr, was geschehen würde. Ezri lauschte konzentriert und nahm die Kunde weitaus gefasster hin, als Nog und Krissten es getan hatten. Anfangs verwirrte ihn dieser Gleichmut, doch dann begriff er, dass Dax bereits acht Wirtstode hinter sich hatte.

»Ich verstehe, Julian«, sagte Ezri sanft. »Ich liebe dich. Und ich weiß, dass du tust, was immer getan werden muss … um Dax zu retten.«

Abermals hörte er Jadzias Stimme. Ein Echo in einem Brunnen, der sechs Jahre tief war. Geben Sie sich nicht die Schuld, Julian. Sie haben alles versucht, was Sie konnten.

Er hätte alles darum gegeben, diesen Worten glauben zu können.

»Julian?«

»Ja?«

»Ich will nicht wach sein, wenn du … die Verbindung trennst. Nicht wie Curzon. Das war anders.«

Als Curzon der Symbiont entnommen wurde, war der Wirt bei Bewusstsein gewesen und hatte auf ein sehr langes, sehr erfülltes Leben zurückgeblickt.

»Ich verstehe«, flüsterte Bashir. Die Worte blieben ihm fast im Hals stecken.

»Ich will nicht … nicht geleert werden wie damals, als Verad den Symbionten nahm.« Sie verstummte. Bashir sah Tränen auf ihren Wangen.

Julian, gestand Jadzia in den entlegenen Gängen seines Erinnerungshauses. Ich habe Angst.

»Ich verstehe«, wiederholte er und spürte, wie eine einzelne, dicke Träne sein Gesicht hinabrann. Gleich darauf folgte eine zweite. Er nahm Ezris Hand, drückte sie sanft, und Ezri erwiderte die Geste. Dann beugte er sich vor und küsste sie auf den Mund.

»Ich bin bereit, Julian«, sagte sie schließlich, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten.

Er zog sich die Operationsmaske auf, blinzelte die Tränen weg und nahm das Exoskalpell vom Tablett neben dem OP-Tisch.

Auf sein Nicken hin befestigte Krissten den Deltawellenerzeuger vorsichtig an Ezris Schläfe. »Ensign Juarez steht bereit, um den Behälter mit der künstlichen Umgebung zu aktivieren«, sagte sie leise. Als er von Ezris Zustand erfuhr, hatte Edgardo darauf bestanden, wieder zum Dienst zu erscheinen. Sein Bein sei genügend geheilt, behauptete er.

Ezris Lippen formten ein stummes Ich liebe dich. Dann lächelte sie Bashir an.

»Adieu, Ezri«, sagte er.

Noch immer lächelnd, glitt sie in die Ohnmacht.

Auf sein Zeichen aktivierte Krissten das sterile Kraftfeld. Bashir hob das Exoskalpell mit der behandschuhten Hand und war dankbar, dass es ihm diesmal nicht zu entgleiten schien. Schweigend öffnete Krissten Ezris Operationsumhang und legte ihren Unterleib frei. Dann ließ Bashir die Spitze des Skalpells nahezu zärtlich darübergleiten. Eine dünne, rote Linie blieb zurück.

Einen Moment später kam der Körper des Symbionten zum Vorschein, ein braunes, klumpig wirkendes Objekt, das im hellen Licht des Raumes feucht glitzerte. Er bewegte sich, glitt langsam in Bashirs ausgestreckte Hand und aus Ezri hinaus. Die augen- und gliederlose Kreatur erinnerte in ihrer Hilflosigkeit an einen Kaiserschnitt, den Bashir vor Jahren vorgenommen hatte. Doch dieses »Baby« hier brachte bedeutend mehr Wissen und Lebenserfahrung mit, als er je besitzen würde.

»Wir werden ungewöhnlich vorgehen müssen«, sagte er zu Krissten und hob den Symbionten an, um ihn näher zu betrachten. Schon jetzt wies die feuchte, bernsteinfarbene Haut an den Stellen, die noch mit Ezri verbunden waren, Anzeichen von nekrotischem Gewebe auf. »Die nervliche Nabelschnur ist bereits derart beeinträchtigt, dass wir die Nervenstränge in bestimmter Reihenfolge trennen müssen, um das Risiko eines neuroleptischen Schocks zu verringern.«

»Verstanden«, sagte Krissten. Die Operationsmaske ließ ihre Stimme leiser klingen.

»Den Neurokortikaltrenner bitte.«

Sie nahm ihm das Exoskalpell ab und reichte ihm den gewünschten Gegenstand. Er hielt den Symbionten sicher in der linken Hand und fuhr mit der Spitze des silbernen Geräts an eine Stelle, die etwa sechs Zentimeter vom Körper entfernt an der Nabelschnur lag. Ezris Körper zuckte reflexartig, als der Trenner seine kleine Polyduranium-Spitze in ihm vergrub.

»Ich habe soeben die grobmotorischen Nervenstränge getrennt«, meldete Bashir. Seine Stimme kam ihm flach und blechern vor. Er fühlte sich, als stünde er neben sich, wäre ein Student im ersten Lehrjahr und wohnte mit seinem Kurs einer Operation im Trainingshospital der Medizinischen Abteilung der Sternenflotte bei.

Er wusste, dass er ohne diesen emotionalen Abstand nicht hätte weitermachen können. »Der Trenner erreicht nun die Feinmotorik-stränge.« Ezris Finger zuckten spasmisch, als das zweite Nervenbündel durchtrennt wurde. Er zog den Trenner zurück und schloss kurz die Augen.

Ich töte sie. Ich hätte sie genauso gut aus einer Luftschleuse werfen können.

»Die Werte des Symbionten sind niedrig, aber stabil«, sagte Krissten. »Keinerlei Anzeichen eines neuroleptischen Schocks.«

Bashir zwang seine Selbstzweifel beiseite, öffnete die Augen und konzentrierte sich erneut auf seine Aufgabe. Er trennte die monopolaren Nervenzellen, die den neurophysiologischen Austausch zwischen Ezris und Dax’ Nervensystem koordinierten. Dann schnitt er durch die Glialzellen-Verbindungen, musste allerdings kurz innehalten und sich die richtige Reihenfolge ins Gedächtnis rufen. Haupt-, Neben- und danach die weiteren Netzknoten – ja, so war es korrekt.

Fast geschafft. Ich will fertig werden, bevor ich dieses Ding gegen mich selbst richte.

Als Nächstes glitt der Laser in die RDNAL-Organelle, ein Gebilde, das aus einer langen Röhre bestand, die im Kern des Strangs aus Nervenfasern lag. Bashir trennte sie entzwei und versiegelte das Ende auf Ezris Seite. Die eigenartige Nabelschnur fiel auf ihren Unterleib, als sei sie ein unachtsam beiseitegeworfenes ODN-Kabel.

Abermals suchte ihn Jadzias Stimme heim. Ich habe mich noch nie so leer gefühlt. Er zwang sich, die Erinnerung zu ignorieren – Ezri zu ignorieren, die vor ihm lag, halb tot und halb lebendig, und doch für immer verloren war.

»Der Symbiont ist nun vollständig vom Wirt getrennt«, meldete er. »Seine Werte haben sich nicht verändert.«

Krissten drehte sich zu Pfleger Juarez um, der inzwischen schweigend an der Tür stand. »Edgardo, bitte halten Sie den Behälter bereit.«

Juarez kam näher, um den Symbionten in das rechteckige Gebilde zu bringen, das in der Ecke des Raumes stand.

»Krissten, bitte bereiten Sie ein Hypospray vor. Zwanzig ml Isoboramin. Ich werde es direkt in das Ende der Schnur injizieren, die mit dem Symbionten verbunden ist.«

Sie zögerte kurz, nahm das Hypospray und reichte es Bashir. Dann hielt sie den Symbionten, während der Arzt es sanft an die abgetrennte Stelle presste und die Dosis verabreichte.

Erleichterung erfüllte Bashir, als Krissten Dax endlich an Juarez weiterreichen konnte. Dieser trug den Symbionten sofort zu dem offenen und mit Flüssigkeit gefüllten Behälter in der Ecke.

Als Krissten wieder zu Bashir sah, lag eine Frage in ihren Augen.

»Ja?«, hakte er nach, schaute dabei aber zu Ezri hinab. Er sah, wie sich ihr Brustkorb langsam hob und senkte, lauschte ihren leisen Atemzügen.

»Wir haben dieses Medikament schon einmal angewandt«, sagte Krissten. »Allerdings ohne Wirkung. Warum injizieren wir es erneut?«

Bashir schüttelte leicht den Kopf. »Das war Isoboramin, Krissten. Diesmal habe ich aber Boramin verwendet. Es sollte die Nekrose des Symbionten abwehren und ihn vor einem verzögerten neuroleptischen Schock schützen, bis er in der künstlichen Umgebung lagert.«

»Nein, Doktor.«

Nie zuvor hatte sie ihm so direkt widersprochen. Bashir sah sie an. Ihre Augen waren groß, und sie schien einer Panik nahe.

»Wie bitte, Ensign?« Er wollte sich seine Verwirrung nicht anmerken lassen, konnte sie aber nicht ganz verbergen.

»Doktor, Sie haben kein Boramin verabreicht, sonder Isoboramin.«

Ihm war, als hätte man ihn ins Gesicht geschlagen. »Was?«

»Dieses Hypospray enthielt zwanzig ml Isoboramin, Sir. Wie Sie befohlen haben.«

Die Erkenntnis kroch seine Wirbelsäule hinauf, kälter als die Winde an den Tenaran-Eisklippen auf Trill. Boramin. Isoboramin. Irgendwie hatte er sie verwechselt. Die beiden Substanzen hatten ähnliche Bezeichnungen, waren aber so verschieden wie Sauerstoff und Fluor. Sein Fehler konnte gravierende Folgen haben, und das wusste er.

Bashir sah zu, wie Juarez neben dem medizinischen Transportbecken des Symbionten in die Knie ging, um Dax in die lebenserhaltende purpurfarbene Flüssigkeit zu legen. Mitten in der Bewegung hielt Juarez inne und runzelte die Stirn.

Hilflos sah er zu Bashir und Krissten. »Er … windet sich.«

»Oh, verdammt.« Bashir rannte zu ihm, den Trikorder gezückt, und scannte den Symbionten schnell. »Eine Überdosis Isoboramin. Der Symbiont erleidet einen neuroleptischen Schock.«

»Ich dachte, Isoboramin sei die Grundlage der Trill-Symbiose«, sagte Juarez.

»Richtig«, erwiderte Bashir, immer noch entsetzt über das Ausmaß seines Fehlers. »Aber die Symbionten vertragen es nicht in hohen Dosen.«

»Gibt es einen Gegenwirkstoff?«, fragte Krissten.

Vorsichtig nahm Bashir die Kreatur aus Juarez’ Händen. Der Symbiont zuckte, als müsste er gleich zerplatzen. Es dauerte einen Moment, bis Bashir die Frage gedanklich fassen konnte. Warum fiel ihm das Denken immer schwerer? »Ja«, antwortete er schließlich. »Zum Glück gibt es ein Gegenmittel.«

Krissten schnappte sich ein neues Hypospray und wartete auf seine Befehle. Doch plötzlich wurde ihm klar, dass er diesmal kein Skalpell fallen lassen musste, um das Leben eines Patienten zu gefährden. Diesmal genügte schon ein Blackout.

»Doktor?« Krissten klang allmählich panisch.

Bashirs Kopf dröhnte. Ihm war, als litte er unter akutem Raktajino-Entzug. Er schloss fest die Augen und zwang den Schmerz, zu vergehen. »Lassen Sie mich kurz nachdenken«, bat er – bemüht, seine eigene Sorge nicht zu zeigen. Die kleine, hilflose Kreatur, die das Wesen der Frau enthielt, die er liebte, wand sich zitternd in seinen Armen. Er spürte intuitiv, dass ihr Tod kurz bevorstand.

»Doktor?«, wiederholte Krissten drängend.

Er ignorierte sie. Seine Gedanken waren weitergewandert, drehten sich um Nogs neues Bein und Vaughns Kommentar, dass es sich dabei um ein Wunder handele. Und um das kathedralenhafte fremde Objekt, das dessen Ursprung sein musste.

Gibt es einen besseren Ort, um nach Wundern zu suchen, als eine Kathedrale?

Mit einem Mal war er geistig nicht länger in der Krankenstation. Nicht länger auf der Defiant. Nicht einmal mehr im Gamma-Quadranten. Sein geistiges Auge öffnete sich und sah das endlose Jetzt der Erinnerungen. Vor ihm standen vier hohe, rotbraune Säulen, über denen sich eine dreißig Meter messende Kuppel erstreckte. Das ganze Bauwerk glitzerte im Licht der Nachmittagssonne, die vom wolkenlosen Wüstenhimmel schien.

Kurz nachdem seine Eltern ihn zur genetischen Aufwertung nach Adigeon Prime gebracht hatten, stellte Bashir fest, dass er Methoden entwickeln musste, um der Informationsflut Herr zu werden, die sein agiler Geist aufzunehmen und zu speichern begonnen hatte. Mit acht Jahren verschlang er die Biografie Leonardo da Vincis und fand darin einen nützlichen Gedächtnistrick. Mit gleicher Sorgfalt, die er seinen beeindruckenden Meisterwerken zuteilwerden ließ, hatte Leonardo in seinem Geist eine gewaltige, detailreiche Kathedrale errichtet, einen Dom für seine Gedanken. Jedes Vestibül, jede Galerie, Treppe, Vorhalle und Kammer war im Geist des vielseitigen Künstlers gespeichert. Jede Skulptur und jedes Gemälde waren exakt positioniert, jedes Regal, jedes Buch, ja, jede Buchseite mit äußerster Anstrengung an ihren Platz gedacht und für spätere Verwendung gelagert.

Wann immer Leonardo eine spezifische Information abrufen wollte, die er zuvor in seiner »Kathedrale der Erinnerung« gespeichert hatte, musste er nur die Augen schließen, die weiten Korridore der großen Basilika abschreiten und den Raum aufsuchen, in dem sie sich befand.

Der junge Julian Bashir hatte eine weitaus simplere, wenn auch durchaus beeindruckende Architektur für seine eigene mentale Kirche gewählt – die der Hagia Sophia, Istanbuls Kathedrale aus dem sechzehnten Jahrhundert. Obwohl seitdem viele Jahre vergangen waren, hatte er nie die Notwendigkeit verspürt, sich ein größeres, komplexeres Gebäude zu ersinnen. Vielleicht ging das auf die Vorliebe seines Vaters für die Architektur der Barock- und Rokoko-Zeit zurück.

In dem eigenständigen Universum innerhalb seiner Gedanken eilte Bashir nun die steinernen Stufen der Hagia Sophia hinauf, rannte durch das offene Tor, das Vestibül und ins Zentrum des Bauwerks. Jahre waren verstrichen, seit er zuletzt derart direkt auf diesen Gedächtnistrick angewiesen gewesen war. Bashir hatte längst gelernt, seine mentalen Fähigkeiten subtiler zu nutzen – Wissen war für ihn zu einer nahezu fehlerfreien, fast autonomen Körperfunktion geworden. Wie Atmen.

Doch nun musste er zurück. Es ging nicht mehr anders. Er wandte sich nach rechts und sah die Treppe, die er mit zehn Jahren errichtet hatte – in dem Alter, in dem er begonnen hatte, auch medizinische Informationen in seiner Geisteskathedrale abzulegen. Jede Stufe knarrte unter seinen Schritten. Er wusste noch, dass er diese Details bewusst eingebaut hatte, als Test für seine mentalen Fähigkeiten. Lächelnd setzte er seinen Aufstieg fort. In wenigen Momenten würde er wissen, wie er Dax’ Leben retten konnte.

An der Spitze der Treppe befand sich eine schwere Eichentür. Bashir drückte dagegen, aber sie war von innen verschlossen.

Er stutzte. Sie sollte nicht verschlossen sein.

Mit beiden Fäusten schlug er gegen das Holz – und die Tür verschwand! Bashir stolperte und fiel kopfüber in einen großen, gewundenen Raum. Vom Boden bis zur Decke erstreckten sich überall massiv aussehende hölzerne Bücherregale, und warmes Sonnenlicht fiel durch die mit dünnen Vorhängen versehenen Fenster.

Eine dunkelhaarige Frau trat hinter einem der näher gelegenen Regale hervor und auf ihn zu. Sie war ein Mensch, dem Anschein nach Mitte dreißig. Lächelnd streckte sie die Hand aus und half Bashir auf die Beine.

Es dauerte einen Moment, bis er sie wiedererkannte. »Dr. Lense?« Die Frau hatte ihn darum gebracht, Abschlussredner seines Jahrgangs an der Akademie sein zu dürfen. Ihr nun wieder zu begegnen – hier in seiner ganz privaten Erinnerungskathedrale –, verwirrte und beunruhigte ihn gleichermaßen.

Elizabeth Lense lächelte. »Keine Sorge, Julian. Es ist nur natürlich, dass Sie meine Anwesenheit irritiert.«

»Sie sind also telepathisch begabt. Kein Wunder, dass Sie mich an der Akademie überflügeln konnten.«

Ihr Lachen war so angenehm wie eine warme Dusche. »Ich war besser als Sie, weil auch das beste Gedächtnis mitunter Fehler macht. Außerdem muss ich Ihre Gedanken nicht lesen, Doktor. Ich bin ein Produkt von ihnen.«

Sofort kam er sich töricht vor. »Natürlich. Und warum hat mein Verstand gerade diesen Moment ausgewählt, um Sie, äh, heraufzubeschwören?«

»Mich heraufzubeschwören? Julian, ich bin auch kein Geist. Ich schätze, Sie denken an mich, weil ich Sie an irgendetwas erinnere.«

Selbstverständlich. Ich weiß es wieder. Sie dient mittlerweile auf der U.S.S. da Vinci. Einem Schiff, das nach dem Mann benannt ist, der mich hierzu inspirierte.

Ihr Lächeln wurde beunruhigend breit. »Eines ist gewiss, Julian. Sie werden nie wieder eine präganglionische Faser mit einem postganglionischen Nerv verwechseln.«

Die einzige Examensfrage, die er falsch beantwortet hatte. Dieser Fehler hatte ihn um das Privileg gebracht, die Abschlussrede halten zu dürfen. Leonardo hin oder her – sein damaliges Versagen war auf ewig in seinem Gedächtnis gespeichert.

Bashir zwang seine Gedanken zurück zum eigentlichen Problem. Dax lag im Sterben. Ein Heilmittel existierte, und wenn der Symbiont es nicht binnen der nächsten ein bis zwei Minuten erhielt, wären neun Leben vernichtet.

Und warum?, fragte Bashir sich wütend. Weil ich mich verwirren und ablenken ließ.

Er schob sich an Lense vorbei und trat auf ein drei Meter hohes Regal aus dunklem Tropenholz zu.

Verwirrt bemerkte er, dass die Bücher in völliger Unordnung waren. Es schien, als hätte sie jemand nahezu stapelweise herausgenommen, durchgeblättert und völlig planlos zurückgestellt. Manche standen weitab von ihrem eigentlichen Platz, andere wirkten abgewetzt und zeigten deutliche Gebrauchsspuren.

Julian zuckte zusammen, als plötzlich Lenses Hand auf seiner Schulter lag. »Bitte erklären Sie mir etwas«, sagte seine Studienkollegin von einst. »Warum sind Sie den ganzen Weg bis hierher gekommen, nur um nachzuschlagen, dass zehn ml Endomethalamin zwanzig ml Isoboramin bei Trill-Symbionten aufheben?«

Endomethalamin! Als er das Wort hörte, fiel es ihm wieder ein. Natürlich!

»Doktor!« Das war Krisstens Stimme.

Die Gedankenkathedrale verwehte wie Rauch, und Bashir fand sich in der Krankenstation wieder. Dort, wo nach wie vor Ezri vor ihm lag, die kaum noch atmete. Krissten und Juarez starrten ihn an, die Gesichter voller Sorge. Und nun spürte er auch wieder den sich windenden Symbionten in seinen Händen.

»Doktor, geht es Ihnen gut?«, fragte Krissten. So besorgt hatte sie nicht mehr geklungen, seit die Jem’Hadar die Station angegriffen hatten. »Wir müssen dem Symbionten das Gegenmittel verabreichen!«

Bashir nickte und war wieder voll und ganz bei der Sache. »Das Gegenmittel ist …« Für einen Sekundenbruchteil entglitt ihm die Information, dann fiel sie wieder an ihren Platz. »… Endomethalamin. Bitte verabreichen Sie zehn ml Endomethalamin, Krissten. Direkt in den nabelschnurartigen Auswuchs des Symbionten.«

Er hielt das bebende Wesen fest, während Krissten die Arznei verabreichte. Einen Moment später beruhigte Dax sich. Krissten nahm ihren Trikorder und prüfte seine Werte. Dann nahm sie ihn und legte ihn mit Juarez’ Hilfe in den Transportbehälter. Sie aktivierten den Verschlussmechanismus und die seitlich angebrachten Biomonitore. Es dauerte einen Augenblick, bis sie sicher sein konnten, dass der Symbiont nicht länger gefährdet war.

Was nicht mein Verdienst ist.

Plötzlich entsann sich Bashir der Frage, die die falsche Elizabeth Lense ihm im Inneren der Gedächtniskathedrale gestellt hatte. Warum hatte er nicht einfach den Computer befragt, um die zu Dax’ Rettung erforderliche Information zu erhalten? Es wäre die bedeutend einfachere Lösung gewesen. War er schon zu sehr an sein patentes Erinnerungsvermögen gewöhnt? Hatte er ihm zu blind vertraut?

Oder geschah gerade etwas weitaus Fundamentaleres? Verging sein Urteilsvermögen parallel zu seiner Brillanz?

Eine noch beunruhigendere Frage folgte diesen auf dem Fuße: Was, wenn mein gesamter Intellekt schwindet?

Der besorgniserregende Verdacht schwappte über ihn wie eine Nebelschwade von Argelius II, und mit ihm kam die Müdigkeit. Sie und eine traurige, trostlose Gewissheit. Er wusste nun über alle Zweifel hinaus, dass er dem bizarren, unvorhersehbaren Einfluss des fremden Objektes nicht entgangen war. Auch er war an Bord der Sagan gewesen, als sie den Dimensionsriss überquerte. Genau wie Nog. Genau wie Ezri.

Ezri.

Er trat an ihr Biobett, auf dem sie lag wie die totgeweihte Prinzessin in einem Märchen. Doch kein Kuss war stark genug, um sie zu erwecken. Bashir nahm Ezris Hand in seine. Sie war kalt und feucht. Ein Blick auf Ezris Werte zeigte, dass sie zwar schwach, für den Moment aber stabil war.

Er beugte sich über sie und küsste sie sanft. Wie im Märchen. »Adieu, meine Liebste«, flüsterte er.

Plötzlich schlug sie die Augen auf und lächelte ihn an.

»Ezri?«

Ihre Stimme war kaum hörbar, aber fest. »Dax … ist fort …«

Er traute seinen Augen nicht. Derart geschwächt und nah am Tod, konnte sie das Bewusstsein nicht wiedererlangen! Fast beiläufig nahm er zur Kenntnis, dass Krissten herbeigeeilt kam und Ezris Werte überprüfte.

»Doktor, sehen Sie sich das an!«, sagte sie, einen verblüfften Aus-druck auf dem Gesicht.

Bashir sah zu den Monitoren oberhalb des Biobettes. Jeder einzelne Wert – neural, kardiovaskulär, pulmonal – war beträchtlich gestiegen. So unmöglich es war, Ezri wurde stärker. Sie näherte sich dem Normalzustand, als wäre sie nie mit einem Symbionten vereinigt gewesen.

»Der Symbiont«, sagte sie. Ihre Stimme war fester, ihr Gesicht allerdings ein Spiegel der Verzweiflung. »Julian, wie geht es dem Symbionten?«

Endlich registrierte er, dass sein Mund offen stand. Tränen schossen in seine Augen. »Dem Symbionten geht es gut«, antwortete er und klang, als wäre er im Stimmbruch. »Er ist in Sicherheit, in künstlicher Umgebung. Aber du … Ezri, ich glaube, wir können dich doch noch retten.«

Das ist unmöglich, korrigierte er sich. Vereinigte Trill erholten sich nicht mehr, wenn sie ihre Symbionten verloren, so einfach war das.

Abermals lächelte sie ihn an und sah dabei so müde aus, wie er sich fühlte. »Jetzt stehe ich schon zum zweiten Mal an der Schwelle des Todes, seit wir in den Gamma-Quadranten kamen. Wenn ich sie schon überqueren muss, will ich stark genug sein, um es auf eigenen Beinen tun zu können, Julian.« Ihr Lächeln schwand nicht einmal, als der Schlaf sie erneut übermannte.

Vielleicht habe ich Vaughns Wunder gefunden, dachte Bashir. Allmählich wagte er, es zu glauben. Oder war Ezris Überleben ohne Symbiont etwa weniger wundersam als Nogs sich regenerierendes Bein? Handelte es sich überhaupt um Wunder? Bashir fragte sich, ob das fremde Objekt eine Art fortschrittlicher medizinischer Einrichtung war – das Produkt einiger brillanter, unfassbarer fremder Geister.

Mit einem Mal forderte die Erschöpfung ihren Tribut. Direkt neben Ezris Biobett brach er zusammen. Als er auf dem Boden aufschlug, wetteiferten das fremde Raumobjekt und Istanbuls Hagia Sophia vor seinem geistigen Auge um seine Aufmerksamkeit.