Siebenundvierzig
Als Erlendur und Sigurður Óli am Tor vorfuhren, war dort niemand zu sehen. Sigurður Óli stieg aus und versuchte, es zu öffnen, was nicht gelang. Erlendur drückte auf die Hupe, aber nichts geschah. Sie hatten die ganze Zeit, bis der Verkehr wieder in Gang kam, schweigend im Auto gesessen. Zwischen ihnen war noch nichts bereinigt.
»Müssen wir wirklich da rüberklettern?«, rief Erlendur, der die Scheibe heruntergelassen hatte.
»Hier kommt niemand rüber«, antwortete Sigurður Óli. Das Tor war so konstruiert, dass es keine Möglichkeit gab, es zu überwinden. Ebenso machten die hohen Mauern das Haus zu einer uneinnehmbaren Festung.
»Wir brauchen Verstärkung«, sagte Erlendur und griff zu seinem Handy. Sie hatten sich nicht bei Sævar Kreutz angemeldet, weil sie ihn überraschen wollten. Im gleichen Augenblick, als Erlendur die Nummer gewählt hatte, hörten sie Motorengeräusche auf der anderen Seite des Tors, das sich auf einmal wie von unsichtbarer Hand gesteuert öffnete. Autoscheinwerfer rasten auf sie zu und an ihnen vorbei zum Tor hinaus. Es war ein großer Jeep, der keine Probleme mit den Schneemassen hatte, er fuhr einfach neben der Straße, um an Erlendurs Auto vorbeizukommen. Durch das Schneetreiben glaubte Erlendur an dem blauen Hemd zu erkennen, dass der Fahrer ein Mann von einem Sicherheitsdienst war. Außer ihm schien sich ein Passagier auf dem Rücksitz des Jeeps zu befinden, der aber nur undeutlich zu sehen war. Er erschrak, als kurz ein kleines, leichenblasses Gesicht an der Scheibe auftauchte und ihn in stummer Verwunderung anstarrte, bis der Wagen in Schnee und Dunkelheit verschwunden war. Erlendur hatte das Gefühl, er hätte dieses Gesicht schon einmal gesehen. Statt umzudrehen und hinterherzufahren, tippte er jetzt eine andere Nummer ein und gab Anweisungen, dass sämtliche Zufahrtsstraßen zum Flughafen gesperrt und kontrolliert werden sollten und dass ein Mann namens Sævar Kreutz festzunehmen sei, falls er versuchen würde, das Land zu verlassen. Das Gleiche galt für Erik Faxell. Erlendur hatte nicht die geringste Chance, bei diesen Straßenverhältnissen eine Verfolgungsjagd mit dem Jeep aufzunehmen. Er ließ auch die Verkehrspolizei einschalten, um nach einem dunkelgrünen Pajero-Jeep zu fahnden, und gab die Zulassungsnummer durch.
Sigurður Óli setzte sich wieder ins Auto, und sie fuhren vor dem Gebäude vor.
»Glaubst du, dass er das war?«, fragte Sigurður, als die sich dem Haus näherten.
»Das konnte ich nicht erkennen.«
Sie parkten das Auto beim Haupteingang, der halb offen stand. Wer auch immer an ihnen vorbeigerast war, er hatte auf jeden Fall offenbar das Haus in aller Hast verlassen müssen. Vor dem Haus stand ein schwarzer amerikanischer Dodge Ram – ein Jeep der teuersten Ausführung. Sie betraten das Haus, das völlig menschenleer zu sein schien, und kamen zunächst in den riesengroßen Festsaal. Sigurður Óli wies Erlendur darauf hin, dass da offensichtlich ein Gemälde an der Wand fehlte.
»Falls du irgendwo einen Aufzug siehst, damit kommen wir in den Keller«, sagte Erlendur.
Sie durchquerten den Saal und stießen am anderen Ende des Saals auf einen breiten, hell erleuchteten Gang, der ein Kreisrund zu bilden schien und leicht abschüssig war. Sie waren auf der Hut und gingen vorsichtig den Gang entlang. Auf einmal hörten sie eine menschliche Unterhaltung und Schritte. Sie konnten nicht verstehen, was gesagt wurde, deswegen blieben sie stehen und lauschten. Vier Asiaten kamen ihnen entgegen. Obwohl sie sich augenscheinlich beeilten, kamen sie nicht schnell vorwärts, denn einer von ihnen war sehr alt. Er war in irgendeine asiatische Nationaltracht gekleidet, die anderen sahen nach Leibwächtern aus. Sie hielten inne, als sie Erlendur und Sigurður Óli sahen, und warfen einander Blicke zu, als würden sie darauf warten, was die anderen zu unternehmen gedächten. Erlendur sah Sigurður Óli an.
»Wer ist das denn?«
»Keine Ahnung, aber die sprechen bestimmt kein Isländisch.«
»Red du mit ihnen, sag ihnen, wer wir sind, und bitte sie, nicht sofort zu gehen«, sagte Erlendur.
»We are from the Icelandic police. We will have to ask you to stay in the house. One of us will stay with you. We are not armed and we will be grateful for your cooperation.« Kaum hatte er das ausgesprochen, zog einer der Koreaner einen kleinen Revolver hervor und richtete ihn auf Erlendur und Sigurður Óli. Die Asiaten schienen sich an ihnen vorbeidrängen zu wollen und kamen näher, als der Greis etwas in seiner Sprache zu ihnen sagte und stehen blieb. Der Mann mit dem Revolver steckte ihn wieder ein.
»Bleib du hier bei ihnen«, wies Erlendur Sigurður Óli an und telefonierte wieder nach Verstärkung.
Erlendur schob sich an der Gruppe vorbei und ging weiter den Gang entlang. Er verbeugte sich knapp und blickte dem Greis in die Augen, der ebenfalls den Kopf senkte. Kurze Zeit später war Erlendur beim Aufzug angekommen und sah, dass er im Keller feststeckte. Er wusste, dass es noch einen anderen Aufzug in den Keller gab, aber die Pläne des Hauses hatten nicht zu erkennen gegeben, ob auch eine Treppe in den Keller führte. Er versuchte sich zu erinnern, wo der andere Lift sein musste, rannte den Gang entlang, der ihn aber im Kreis führte, sodass er bald wieder in der Eingangshalle des Hauses stand. Wieder durchquerte er den großen Empfangssaal und fand an dessen Ende eine Tür, die in ein großes Büro führte. Er ging davon aus, dass es sich um Sævar Kreutz’ Büro handelte. Er sah keine Aufzugtüren, aber als er die Wände des Zimmers abcheckte, um eine eventuelle Geheimtür zu finden, entdeckte er sie hinter dicken Samtgardinen. Die Tür öffnete sich geräuschlos, nachdem er den Knopf betätigt hatte, und er betrat den Aufzug, der langsam nach unten glitt. Erlendur gelangte in einen riesigen, hell erleuchteten Raum voller Apparate und Geräte, mit denen er nichts anfangen konnte. Vorsichtig bewegte er sich vorwärts und fragte laut, ob jemand da drinnen sei, aber er erhielt keine Antwort. Am Ende des Raums befanden sich drei Türen, von denen eine anscheinend aufgebrochen worden war. Als er das Zimmer betrat, sah er vier große zylindrische Glasbehälter, die auf Holzsockeln standen. Die Flüssigkeit war so trübe, dass er nicht erkennen konnte, was diese Behälter enthielten, aber in dem einen schien sich etwas zu befinden, das wie ein Bein und ein Arm aussah. Als er näher herantrat, kam es ihm so vor, als starre ihn aus einem der Behälter ein Kindergesicht an.
Erlendur wich entsetzt zurück und stieß an einen Stahltisch auf Rollen. Der Tisch kippte um und einige Stahltabletts gingen zu Boden und tanzten mit schepperndem Geräusch um ihn herum. Aus den Augenwinkeln sah er, wie ein Mann sich ihm ganz langsam näherte. Der Mann trat langsam auf ihn zu und reichte ihm die Hand, um ihm wieder auf die Beine zu helfen.
»Wer bist du?«, fragte er, indem er aufstand, immer noch geschockt von dem, was er in dem Glaszylinder erblickt hatte.
»Mein Name ist Kristján«, antwortete der Mann, »ich liege hier in dem vierten Behälter. Möchtest du sehen, wie ich war, als ich klein war?«
Erlendur folgte ihm wieder zu dem vierten Glaszylinder. »So was können die einem antun, diese verfluchten Schweine. Wir haben gedacht, es ginge um Experimente, aber die haben uns geklont«, sagte Kiddi Kolke.
»Geklont?«, sagte Erlendur fassungslos. »Geklont? Hat Sævar Kreutz Menschen geklont?«
»In Zusammenarbeit mit dieser deutschen Firma. Der Kreutz-Konzern hat so ein Versuchslabor eingerichtet, und Sævar hat ihnen die Blutproben von den Jungs aus meiner Klasse übergeben.«
»Das ist doch nicht möglich. Sævar hat Menschen geklont?«, sagte Erlendur tonlos.
»Sie waren im Begriff, einem Milliardär aus Korea seinen eigenen Klon zu verkaufen. Er wollte das ewige Leben! Der Markt reguliert das Angebot, verstehst du? Für Geld kann und darf alles gemacht werden. Sogar das ewige Leben kann man sich kaufen.«
»Moment mal, heißt du Kristján?«, fragte Erlendur. »Bist du dann der, der Kiddi Kolke genannt wurde?«
»Und du bist wahrscheinlich von der Kriminalpolizei, Erlendur, oder wie? Pálmi und ich sind hier etwa vor einer Stunde angekommen, und Sævar Kreutz hat uns einen Vortrag gehalten.«
»Wo ist Pálmi?«
Pálmi ist hier im Zimmer nebenan. Er ist auf der Suche nach Danni. Nach Daníel, seinem großen Bruder.«
»Daníel?«, wiederholte Erlendur entgeistert. Ihm war immer noch nicht richtig klar, um was es hier eigentlich ging. »Arbeitet hier sonst niemand?«, fragte er und blickte sich um.
»Außer dem Sicherheitsmenschen und dem alten Koreaner haben wir niemanden gesehen. Erik Faxell, mit dem musst du sprechen. Der hat gesagt, dass Sævar Kreutz hier viele Jahre lang regelmäßig Besuch von Angehörigen des Kreutz-Konzerns bekommen hat, Gruppen, die sich für kürzere oder längere Zeit bei ihm aufhielten. Erik hat behauptet, sie wären im Auftrag des Pharma-Konzerns da, aber sie waren ganz bestimmt an diesem Experiment beteiligt.«
Gemeinsam verließen sie das Zimmer und betraten das nächste, das wesentlich größer war. Es hatte den Anschein, als hätte man hier versucht, die Natur und die wirkliche äußere Welt zu imitieren, aber überzeugend wirkte es nicht. An der einen Wand war ein Riesenbild von einer gebirgigen Landschaft, und vor dem Bild waren Steine und Sand aufgeschichtet worden. Der Himmel war strahlend blau mit weißen, flauschigen Wattewölkchen, und oben an der Decke fungierte ein großes grelles Licht als Sonnenersatz. An einer anderen Wand sah man Pflanzen, Bäume und kleine Sträucher. Straßen und Bürgersteige waren auf den Fußboden gemalt worden. An einer anderen Stelle hatte man natürliche, moosbewachsene Lavabrocken angeschüttet, und mit einem verborgenen Beamer wurden Naturfilme an eine Wand projiziert.
Erlendur und Kiddi Kolke verließen den Raum und gingen in den nächsten, in dem es wie in einem Kindergarten aussah. Kleine Tische und Stühle und helle Farben an den Wänden und Kinderzeichnungen, Matratzen, um darauf herumzutollen – und Klettergerüste. Kiddi Kolke rief nach Pálmi, bekam aber keine Antwort. Sie riefen ein zweites Mal, aber erst, als sie näher traten, hörten sie eine schwache Antwort. Ganz hinten in der Ecke des Raums saß Pálmi mit einem kleinen Jungen auf dem Schoß, der kaum älter als zwei Jahre war. Die hellen Haare ringelten sich in dichten Locken auf die Schultern hinunter.
»Ihm scheint nichts zu fehlen«, sagte Pálmi und ließ seine Blicke von Erlendur zu Kiddi Kolke wandern. »Er hat alle Finger und Zehen, Arme, Beine und Augen, Ohren, Nase und Zunge. Das ist Daníel, mein großer Bruder. Das ist Danni.«