Fünfzehn

Im Seniorenheim in Hafnarfjörður saß Helena und erinnerte sich an vergangene Zeiten. Das war nicht ihre Absicht gewesen, aber der Mann, der ihr gegenüber auf dem Stuhl saß, hatte sie mit stichhaltigen Argumenten dazu gebracht. Erst hatte sie ihm gesagt, er solle sie in Ruhe lassen, und ihm die Tür vor der Nase zugeknallt, doch er hatte nicht nachgegeben, und schließlich hatte sie ihn hereingelassen. Er stellte sich vor und sprach von seinem Bruder, der sich umgebracht hatte, nachdem er praktisch sein ganzes Leben lang in einer psychiatrischen Klinik gewesen war. Ihr Bruder Halldór sei sein Lehrer gewesen und habe ihn während der vergangenen Wochen in der Klinik besucht. Pálmi erklärte, die Todesanzeige gesehen zu haben, die sie in die Zeitung gesetzt hatte, und er habe sie ausfindig gemacht, um ihr verschiedene Fragen zu stellen. Er war ein ausgesucht höflicher junger Mann, der sich sehr für die Kjarval-Zeichnung interessierte und Helena über ihr schönes und sauberes Heim Komplimente machte. Augenscheinlich ein Mann, der genau wusste, wie man sich gegenüber fremden älteren Damen benahm, die allein in Seniorenheimen lebten. Es war der gleiche Tag, an dem Daníel beerdigt worden war.

»Die Sache ist die«, hatte Pálmi ihr gesagt, »dass Daníel und ich nie eine enge Verbindung hatten, und ich habe das Gefühl, als sei das meine Schuld. Ich bin ihm immer ausgewichen und habe mir nie die Mühe gemacht, ihn wahrzunehmen oder ihn kennen zu lernen. Obwohl er niemand anderen hatte. Nach dem Tod unserer Mutter habe ich mich womöglich noch weiter von ihm entfernt. Man sollte meinen, dass einen das enger zusammenschweißen würde, aber das hat es nicht getan, und das war meine Schuld. Daníel war krank, er brauchte mich, aber ich habe mich ihm entzogen. Ich habe ihn zwar einmal in der Woche besucht, aber immer nur halbherzig, und ich fühlte mich immer am besten, wenn ich wieder aus der Klinik herauskam. Der Grund dafür war wahrscheinlich etwas, das in unserer Jugend passiert ist. Ich glaube, dass er für mich so etwas wie ein Monster war. Aber mir wird immer deutlicher bewusst, dass ich ihm schon vor langer Zeit hätte vergeben sollen. Jetzt möchte ich versuchen, zu verstehen, was für ein Mensch Daníel war. Wie er war, bevor er erkrankte. Warum er krank wurde. Was für ein Leben er gehabt hat. Ich möchte Daníel verstehen.«

So viel hatte Pálmi über sich selbst gesagt, und Helena hatte gespürt, dass er die Wahrheit sagte und dass er litt, obwohl sie es nicht ganz nachvollziehen konnte. Sie wollte ihm gern helfen, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie. Sie wusste nicht, was für Auskünfte er von ihr erwartete, aber sie war entschlossen, ihm alles zu sagen, was er wissen wollte. Ihm würde sie im Gegensatz zu den beiden Männern von der Kripo nichts vorenthalten. Sie sagte ihm, dass die Polizei zu ihr gekommen sei, um ihr mitzuteilen, dass Halldór ermordet wurde.

»Ermordet? Halldór?«, fragte Pálmi völlig entgeistert.

»Er wurde mitsamt seinem Haus in Brand gesteckt. Kannst du dir so etwas vorstellen?«

»Davon war keine Rede in den Nachrichten.«

»Sie behandeln den Fall als Mord. Was er natürlich auch ist. Sie kamen zu zweit zu mir und haben mir überhaupt nicht zugehört, als ich von meinen Sorgen erzählt habe. Der eine war eigentlich ganz nett, der andere aber ziemlich nervös und gestresst. Ich glaube, der Nette hieß Erlendur. Sie waren von der Kriminalpolizei.«

»Wissen sie, warum er ermordet worden ist, und wer das getan hat?«

»Sie hatten nicht den blassesten Schimmer, als sie mit mir sprachen. Ich habe ihnen von diesen schrecklichen Kindern an der Schule erzählt. Die sind womöglich jetzt einfach aufs Ganze gegangen. Halldór hat sich zum Schluss in der Schule nicht mehr wohl gefühlt. Die Schüler haben ihn gehasst und ihm das Leben zur Hölle gemacht.«

»Weißt du, warum?«

»Halldór sagte mir, dass alte Lehrer oft in einer schwierigen Situation sind, und er bedauerte es, nicht früher aufgehört zu haben. Aber das konnte er einfach nicht. Es war, als hätte er bis zum bitteren Ende Lehrer sein wollen. Halldór war, abgesehen von allem anderen, bestimmt ein guter Lehrer.«

»Weswegen wollte er immer noch weiter unterrichten?« »Ich glaube, dass Halldór unter großen Schuldgefühlen litt, die mit dem Alter immer stärker wurden. Er glaubte irgendwie, dass er für etwas, das er vor vielen Jahren seinen Schülern angetan hat, büßen könnte, indem er weiterhin unterrichtete und die Kinder nach Kräften förderte. Ich wollte den Polizisten nichts von alledem erzählen, aber wahrscheinlich habe ich ihnen schon zu viel gesagt, als ich erwähnte, dass Halldór als Kind missbraucht worden ist. Sie haben noch mehrmals nachgefragt, aber aus mir haben sie kein Wort mehr herausgekriegt.«

Pálmi, der Helena gegenübersaß, schwieg.

»Ich habe kaum darauf reagiert, als sie mir erzählten, dass Halldór ermordet worden sei. Mir ist von Kindesbeinen an beigebracht worden, nicht über Dinge zu schwatzen und zu lamentieren. Halldór war kein schlechter Mensch. Er hätte mir bestimmt mehr darüber gesagt, was er in seiner Jugend durchgemacht hat, wenn er nicht andersrum gewesen wäre. Seit er ein kleiner Junge war, hat er das die ganze Zeit mit sich herumgetragen und nie einer Menschenseele davon erzählt. Er hat mir nur gesagt, dass er unendlich darunter gelitten hätte. Kurz nachdem er in der Víðigerði-Schule angefangen hatte, kam irgendetwas hoch. Er war gerade wieder von Hvolsvöllur nach Reykjavík gezogen, wo er die ersten Jahre nach dem Studium unterrichtet hatte. Ich glaube, dass da irgendetwas vorgefallen ist.«

»Ich kann mich dunkel an Halldór erinnern«, sagte Pálmi. »Daníel und ich sind beide in diese Schule gegangen, ich allerdings viel später. Halldór hat mich nie unterrichtet, aber ich kann mich an ihn als Lehrer dieser Schule erinnern.«

»Es hat ihm so viel Spaß gemacht, zu unterrichten. Er liebte die Arbeit mit den Kindern, und ich glaube, dass er ein guter Lehrer war. Natürlich sind solche Vergehen unverzeihlich, aber Halldór war nicht von Grund auf schlecht. Das Leben hatte ihn nur schlecht behandelt.«

»Was meinst du damit, dass etwas vorgefallen ist?«

»Er belästigte die Kinder sexuell.«

»Waren es Mädchen, bei denen er zudringlich geworden ist?«, fragte Pálmi vorsichtig.

»Mädchen?«, sagte Helena ein wenig erstaunt. »Nein, es ging um die Jungen.«

Sie entschloss sich, Pálmi ausführlicher von Halldór zu erzählen.

»Er war Jahrgang 1929. Seine Mutter hieß Friðgerður und gab Svavar Héðinsson als Vater an. Mein Vater war ein bekannter Mann, er war sowohl passionierter Reiter als auch als Bergsteiger. Svavar wurde zwar als Kindsvater ins Kirchenbuch eingetragen, aber er hat die Vaterschaft weder abgestritten noch zugegeben und sich nie um dieses Kind gekümmert. Ich hatte immer meine Zweifel, ob die Vaterschaftsangabe stimmte, aber Halldór war fest davon überzeugt, und deswegen zog er mich als seine Halbschwester ins Vertrauen. Friðgerður stammte aus den Westfjorden, war aber schon in jungen Jahren von dort weggezogen und arbeitete anschließend als Magd in der Landwirtschaft in Südisland. Sie hielt es nirgendwo lange aus. Viele haben sie für beschränkt gehalten. Sie war wirklich eigen, und es war nicht leicht, mit ihr auszukommen. Sie hatte keinen besonders guten Ruf, weil sie sich ungehobelt benahm und ziemlich gehässig sein konnte. Sie galt als verdorben. Meist endeten die Dienstverhältnisse mit Schimpf und Schande. Zweimal verklagte sie ihre Dienstherren wegen Vergewaltigung, aber die Fälle kamen nie vor Gericht. Irgendwas stimmt da nicht mit dieser Friðgerður, sagten die Leute. Es hat ganz den Anschein, als würde sie es darauf anlegen, in Schwierigkeiten zu geraten.«

»Und Halldór?»

»Halldór war ihr einziges Kind. Er ist bei ihr aufgewachsen und mit ihr von Hof zu Hof gezogen, aber Mutterliebe ist ihm nie zuteil geworden. Ganz im Gegenteil. Er hat seinen Vater nie kennen gelernt, wenn denn mein Papa überhaupt sein Vater gewesen ist. Als Halldór sieben war, verdingte sich Friðgerður bei zwei Bauern in den Ostfjorden, die gemeinsam den Hof bewirtschafteten. Sie waren unverheiratet und kinderlos, lebten ziemlich isoliert, und man sprach nicht gut über sie. Bei denen war Friðgerður drei Jahre lang, und die ganze Zeit wurde der kleine Halldór von ihnen missbraucht. Das begann praktisch, gleich nachdem die Mutter mit ihm dorthin gezogen war. Halldór musste leichte Arbeiten verrichten, er holte die Kühe von der Weide und fütterte die Kälber. Eines Abends im Kuhstall haben die Brüder ihn in eine Ecke gedrängt und ließen ihn … Allmächtiger, das bringe ich nicht über die Lippen«, rief Helena aus. »Es ist so grauenvoll! Denk bloß, drei ganze Jahre lang!«

»Und was war mit Friðgerður?«, fragte Pálmi, nachdem sie eine Weile schweigend dagesessen hatten. »Hat sie nichts unternommen, um das zu unterbinden? Und von diesem Hof wegzukommen – oder was auch immer?«

Helena liefen die Tränen über die Wangen. »Mit ihr hat wirklich etwas nicht gestimmt«, sagte sie schließlich nach einigem Schweigen. »Nach dem, was Halldór mir erzählt hat, hat sie nie einen Versuch gemacht, das zu verhindern, diese verfluchte Schlampe.«

Wieder saßen sie eine lange Zeit schweigend da. Man hörte nichts als das Ticken der alten Wanduhr. Schließlich stand Pálmi auf und fragte, ob er Kaffee für sie machen sollte. Helena, die auf dem Sofa saß, nickte. »Sei so lieb.« In der kleinen Kücheneinheit fand Pálmi das, was er brauchte, tat Filter und Kaffee in die Kaffeemaschine auf dem Küchentisch, holte zwei Tassen aus dem Schrank und fand Zucker sowie Milch, die er in ein kleines Milchkännchen goss. Er stellte alles auf ein Tablett und wartete, bis der Kaffee durchgelaufen war. Als er zurück ins Wohnzimmer kam, hatten beide sich wieder gefangen. Er füllte die Tassen. Helena fragte, ob er nicht etwas Schmalzgebäck dazu wollte, im Schrank neben dem Herd habe sie immer einen kleinen Vorrat davon.

»Vielen Dank«, sagte er und holte die Tüte. Anschließend tranken sie Kaffee, aßen von dem Gebäck und lauschten der tickenden Wanduhr.

»Was ist aus diesen Brüdern geworden?«, fragte Pálmi.

»Sie sind schon lange tot.«

»Und Friðgerður?«

»Zum Schluss hat sie es glücklicherweise auch nicht mehr bei denen ausgehalten. Wahrscheinlich hat sie es zum Schluss selbst satt gehabt. Vielleicht ist da auch noch so was wie eine Spur von Ehrgefühl in ihr hochgekommen. Sie ist danach in Reykjavík gelandet, ungefähr zu der Zeit, als die englischen Truppen im Zweiten Weltkrieg Island besetzten. Sie hat sich mit den Soldaten eingelassen und ist sogar zu Geld gekommen. Sie und Halldór lebten in einer Kellerwohnung, sie konnte ganz gut von diesen Einkünften leben, und sie verdiente sogar noch besser, als die Amis kamen. Aber es hat ein schlimmes Ende mit ihr genommen. In dem Winter, als der Krieg zu Ende ging, wurde sie vor einer Militärbaracke in Camp Knox erfroren aufgefunden. Niemand wusste, was passiert war. Sie war leicht bekleidet und wurde zuletzt auf einer Tanzveranstaltung für die Soldaten gesehen, aber niemand wusste, wie sie in die Barackensiedlung gekommen war, oder besser, wem sie dorthin gefolgt war. Die Soldaten wurden bald darauf abgezogen, und der Sache wurde nie auf den Grund gegangen. Ich glaube, alle fanden damals, dass es sich gar nicht lohnte, wegen eines Flittchens, das vor einer Ami-Baracke erfroren war, viel Aufhebens zu machen.«

»Damals ist Halldór sechzehn oder siebzehn gewesen, nicht wahr?«, fragte Pálmi.

»Ja. Er stand damals schon auf eigenen Beinen. Er arbeitete als Laufbursche für ein Feinkostgeschäft, bediente dort aber auch im Laden. Er wollte seinen Vater und seine Geschwister ausfindig machen. Der alte Svavar hat ihm keinerlei Beachtung geschenkt. Halldór hat ihn ein einziges Mal zu Hause aufgesucht, Papa war damals schon weit über siebzig. Aber ich glaube, das war ein ziemlich schmählicher Empfang. Außer mir hat sich niemand von uns Halbgeschwistern um Halldór gekümmert, aber ich wollte ihm helfen. Er war ein höflicher und zurückhaltender junger Bursche, aber sehr angespannt. Irgendwie kam er mir wie das reinste Nervenbündel vor. Er wollte unbedingt etwas studieren und ging an die Pädagogische Hochschule, an der er ein gutes Examen gemacht hat. In Reykjavík bekam er keine Stelle, deswegen ging er aufs Land und begann zuerst als Lehrer in Hella und dann in Hvolsvöllur. Als dann in den Jahren nach dem Krieg Reykjavík immer größer wurde, weil die Leute vom Land in die Stadt strömten, mussten ständig neue Schulen eingerichtet werden, und entsprechend wuchs der Bedarf an Lehrern. Halldór hat dann bei der Víðigerði-Schule angefangen. Sein Gehalt war nicht schlecht, und er hatte Freude an der Arbeit. Heutzutage sind die Gehälter wohl erbärmlich, und alle beklagen sich über den schlechten Unterricht. Wie stellen sich die Leute das eigentlich vor?«

»Er hat nie geheiratet?«

»Halldór war ein kaputter Mensch, obwohl man es ihm nicht angemerkt hat.«

»Hat er mit dir darüber gesprochen, was er sich in Hvolsvöllur zuschulden kommen ließ?«

»Nein, das wollte er nicht. Aber es war so ernst, dass irgendjemand ihn später deswegen unter Druck setzen konnte. Man hat ihn richtiggehend erpresst. Er hat irgendwann mal gesagt, dass er ausgenutzt wurde.«

»Weißt du, was er damit genau gemeint hat?«

»Nein, ich habe keine Ahnung.«

»Als ich in der Volksschule war, bekamen alle Kinder jeden Tag Lebertrankapseln verabreicht. Davor wurde der Lebertran den Schulkindern in flüssiger Form eingetrichtert, löffelweise oder direkt aus der Flasche, aber viele ekelten sich vor dem Geschmack, und man konnte die Kinder kaum dazu bewegen, ihn zu schlucken. Einige haben auch alles wieder ausgekotzt. Außerdem war es unhygienisch, denn bei allen wurde derselbe Löffel verwendet. Deswegen ging man dazu über, Lebertran in kleinen Kapseln zu verteilen. Die waren sogar leicht gezuckert und schmeckten gar nicht schlecht, man bekam eine pro Tag. Auf dem Lehrerpult stand immer ein ganzes Glas voll davon. Das sollte der Gesundheitsvorsorge dienen. Inzwischen ist das aber längst abgeschafft worden. In der großen Pause bekamen wir eine Kapsel vom Lehrer ausgehändigt, und er passte auf, dass wir sie auch schluckten. Wir waren ziemlich versessen auf diese Lebertranpillen, und manchmal haben wir uns sogar heimlich über das Glas auf dem Lehrerpult hergemacht. Hat Halldór jemals mit dir über diese Lebertranpillen gesprochen?«

»Niemals«, antwortete Helena. »Nicht ein einziges Mal.«