Elf

Eine Kopie von Daníels Autopsiebericht war an den zuständigen Psychiater geschickt worden und lag auf dessen Tisch, als Pálmi an einem kühlen Montagmorgen eintrat. Draußen war es noch stockfinster. Der Arzt hatte den Bericht kurz überflogen. Darin stand hauptsächlich die Bestätigung dessen, was ohnehin bereits bekannt war. Daníel war sofort tot gewesen, als der Kopf auf die Treppe aufgeschlagen war und der Schädel sich geöffnet hatte, und praktisch jeder Knochen in seinem Körper war gebrochen. Das Hirn war herausgeplatzt. Der Arzt reichte den Bericht an Pálmi weiter, der ihn sorgfältig las. Pálmi hatte den Überblick verloren, bei wie vielen Ärzten Daníel in Behandlung gewesen war. Dieser hier hieß Gunnar und war ein sympathischer Mann mittleren Alters. Seine Bewegungen waren langsam, und er formulierte seine Einschätzungen immer mit viel Bedacht. Er trug eine starke Brille, die seine Augen riesig erscheinen ließ. Pálmi kam es so vor, als würde er mit großen Dorschaugen angestarrt.

»Die Blutuntersuchung hat ergeben, dass Daníel seine Medikamente nicht genommen hat, bevor er starb, möglicherweise über einen längeren Zeitraum hinweg«, erklärte Gunnar. »Das war nicht das erste Mal, wie du weißt. Es dauert immer eine geraume Zeit, bis die Wirkung der Präparate ganz nachlässt, und deren Absetzen ist an und für sich schon eine ausreichende Erklärung für den inneren Aufruhr, in dem er sich in den letzten Tagen befand.«

»Er hat schon früher versucht, sich umzubringen.«

»Selbstmorde sind ein seltsames Phänomen und in jeder Hinsicht unberechenbar. Auch wenn Daníel sich unter diesen Umständen umgebracht hat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, dass es mit seiner Krankheit zu tun gehabt hat. Irgendetwas kann diesen Prozess in Gang gesetzt haben. Suizide können auch bei völlig normalen Personen sozusagen aus heiterem Himmel auftreten, und erst recht bei psychisch Kranken. Jeder von uns denkt irgendwann im Leben an Selbstmord, viele tun das sogar oft, und leider gibt es immer wieder Menschen, die dann tatsächlich Hand an sich legen.«

Der Arzt räusperte sich und blickte Daníel an.

»Wir haben sehr, sehr viele Beispiele dafür, dass vollkommen gesunde Menschen sich anscheinend völlig grundlos das Leben nehmen. Vor einigen Jahren hatte ich zeitweilig eine Patientin auf meiner Station, deren Mann sich erschossen hatte. Bei ihnen schien zuvor alles bestens zu laufen. Sie hatten vier Kinder, drei davon waren bereits flügge und von zu Hause ausgezogen. Die Ehe war glücklich. Sie standen in der Blüte ihres Lebens, beide waren gesund. Sie unternahmen viele Reisen zusammen und hatten einen netten Freundeskreis. Was will man mehr? Er war erfolgreich in seinem Beruf und hatte eine leitende Position inne, war bei der Arbeit mehr als ausgelastet und wurde sehr gut bezahlt. Er hatte nie eine Schusswaffe besessen und konnte damit auch nicht umgehen, aber der Eigentümer der Firma, für die er arbeitete, war ein leidenschaftlicher Jäger und bewahrte zwei Gewehre in seinem Büro auf. Dieser Mann hat dann eines Tages den verschlossenen Gewehrschrank aufgebrochen und die passende Munition gefunden, ist ein Stück aus der Stadt herausgefahren und hat sich eine Kugel durch den Kopf gejagt. Er hinterließ keinerlei Abschiedsbrief. Der Selbstmord kam aus heiterem Himmel. Niemand wusste, warum. Der Mann besaß alles, was man sich wünschen konnte. Trotzdem muss da etwas geschehen sein, weswegen ihm das Leben nicht länger lebenswert erschien.«

»Daníel war völlig aufgelöst, als ich kam.«

»Daníel hatte aufgehört, seine Medikamente zu nehmen. Das ist die einzige Erklärung, die ich habe. Er ist nie zuvor so weit gegangen, obwohl er hin und wieder mal ein bisschen Zoff gemacht hat, wenn man das so nennen darf. Er war schon immer etwas rebellisch veranlagt und hatte seinen Spaß daran, andere Patienten aufzustacheln und sie zur Rebellion gegen das Personal und die Ärzte zu bewegen.« »Er hat euch ›verdammte Schweine‹ genannt.«

»Das war nichts Neues, und das weißt du selber auch«, konterte der Arzt. Er hatte sich bislang mehr oder weniger an einen sachlich-wissenschaftlichen Ton gehalten, aber jetzt hob er die Stimme etwas. »Daníel ist hier im Spital ebenso wie die anderen Patienten nie schlecht behandelt worden. Es ist ganz normal, dass uns unterstellt wird, wir würden unsere Patienten schlecht behandeln. Wir bieten eine ideale Angriffsfläche, aber ich bin davon überzeugt, dass die Belegschaft hier durchweg hervorragend ist.«

»In den letzten Wochen hat er Besuch bekommen, wahrscheinlich von seinem früheren Volksschullehrer. Er hieß Halldór. Sonst hat er von niemandem außer mir Besuch bekommen. Die beiden haben ausführlich miteinander geredet, und seitdem hat er, wie mir gesagt wurde, angefangen, sich seltsam zu benehmen.«

»Darüber weiß ich nichts.«

»Hat er dir gegenüber diesen Halldór erwähnt?«

»Nein. Er kam alle zwei Wochen zu einem kurzen Behandlungstermin zu mir, aber ich habe keine Veränderung an Daníel feststellen können; vielleicht hat das Personal, das tagtäglich Umgang mit ihm hatte, etwas bemerkt. Über Besucher hat er nie mit mir gesprochen, und ich wusste nichts von diesem Halldór.«

»Hat Daníel Trilofon bekommen?«

»In den letzten Jahren ständig. Es handelt sich um kein besonders starkes Mittel, aber richtig dosiert hilft es. Außerdem bekam er Artan, um die Nebenwirkungen zu reduzieren. Du solltest vielleicht auch wissen und kannst es auch diesem Bericht entnehmen, dass Daníel wahrscheinlich nicht mehr sehr lange zu leben hatte.«

»Was meinst du damit?«

»Gibt es in deiner Familie Herzkrankheiten?«

»Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht.«

»Daníels Herz hätte es nicht mehr lange gemacht. Es war das Herz eines alten Menschen, eigentlich völlig marode. Meines Erachtens wäre er vermutlich innerhalb der nächsten zwei, drei Jahre gestorben.«

»Gibt es eine Erklärung dafür?«

»Er hatte kein starkes Herz, und die Mittel, die er bekommen hat, trugen nicht dazu bei, es zu stärken. Trilofon hilft, aber es hat Nebenwirkungen in Bezug auf die Herzmuskeltätigkeit.«

»Er hat manchmal Krämpfe davon bekommen.«

»Daníel hat gelegentlich die zugeteilte Dosis nicht geschluckt, sondern aufbewahrt und dann alles auf einmal genommen. Eigentlich wissen wir nicht, wie er das geschafft hat. Wenn er dann eine dreifache oder vierfache Dosis einnahm, kam es zu Vergiftungserscheinungen. Er bekam Krämpfe, verlor das Bewusstsein, und sein Blutdruck stürzte in den Keller. Daníel sehnte manchmal diese Art von tiefer Bewusstlosigkeit herbei.«

»Daran kann ich mich gut erinnern. Das waren die einzigen Male, wo er wirklich friedlich war. Er hat hin und wieder über dieses Gefühl der Betäubung gesprochen.«

»Trilofon ist natürlich das reinste Gift, das will ich gerne zugeben. Zahnschäden sind die Folge, die Nervensignale werden abgeschwächt und anderes mehr. Aber es hält die Krankheit in Schach. Daníel ist lange hier in der Klinik gewesen, aber erst seit zwei Jahren bei mir in Behandlung, deswegen kenne ich seine Krankengeschichte nicht so gut. Aber ich kann dir, glaube ich, guten Gewissens versichern, dass er sich in den letzten beiden Jahren nicht schlecht gefühlt hat.«

In Daníels Zimmer herrschte immer noch dasselbe Chaos wie vor zwei Tagen, als Pálmi zu seinem wöchentlichen Besuch gekommen war. Bettwäsche, Zeitungen, Zeitschriften und Kleidung lagen über den Boden verstreut, und der Kleiderschrank war völlig demoliert. Nur eines war nicht angerührt worden: der Stapel sorgfältig gebügelter und exakt zusammengefalteter weißer Hemden auf einem Schränkchen in der Ecke. Das Waschbecken war kaputt und der Spiegel darüber zerbrochen. Tisch und Stuhl waren umgeworfen worden. Daníel hatte nicht viele persönliche Besitztümer gehabt. Einige Bücher aus der Bibliothek der Klinik lagen im Zimmer verteilt.

Pálmi fing an aufzuräumen, um einen besseren Überblick zu bekommen, und die Habseligkeiten seines Bruders zusammenzusuchen. Die Bücher waren ganz unterschiedlicher Art, einige Romane von Thomas Mann und der dritte Band der Dokumentation von Lúðvík Kristjánsson über die Fischerei in Island. Eine billige Ausgabe mit den Gedichten von Jónas Hallgrímsson mit einem Vorwort von Tómas Guðmundsson, außerdem Gedichte von Örn Arnarson. Pálmi entdeckte einige Bücher, die er ihm geliehen hatte, und legte sie beiseite.

In der kleinen Schreibtischschublade lag Daníels Brieftasche. Pálmi hatte gar nicht gewusst, dass er so etwas überhaupt besaß oder dass er jemals Geld zur Verfügung gehabt hatte. Von seiner Behindertenunterstützung, die auf ein Konto überwiesen wurde, ging das meiste für Süßigkeiten und Zigaretten drauf. Er hatte sich immer geweigert, mit Beschäftigungstherapeuten zu arbeiten; die Patienten konnten sich mit Handarbeit ein paar Kronen dazuverdienen. In der Brieftasche befand sich ein Schwarzweißfoto von ihrer Mutter, das Pálmi nie zuvor gesehen hatte. Es war Sommer, und ihre Mutter stand in einem weißen Kleid in irgendeinem Garten, lächelte in die Kamera und hielt die Hand über die Augen, weil die Sonne blendete. Daníel stand an ihrer Seite, vielleicht gerade mal zwei Jahre alt, ein pummeliger und fröhlicher kleiner Bursche. Pálmi starrte lange auf das Bild. Es gab nur wenige Fotos von ihrer Mutter, als sie jung war, und von den beiden Brüdern erst, als sie im Schulalter waren.

Daníel war ein hübscher Junge mit rundlichem Gesicht und hellen Locken gewesen, die bis auf die Schultern herabfielen. Auf dem Foto trug er einen Matrosenanzug, der sich immer noch in Pálmis Kleiderschrank befand. Ihre Mutter hatte diesen Matrosenanzug geliebt, erinnerte sich Pálmi. Sie hatte ihn oft aus dem Schrank genommen und gestreichelt, nachdem Daníel in die Klinik gebracht worden war. Der Vater hatte ihn einmal von einer Auslandsreise mitgebracht. Auch Pálmi war als kleiner Junge noch damit herausgeputzt worden.

Er fand außerdem diverse andere Kleinigkeiten, darunter alte Sammelbilder von Hollywood-Schauspielern, die vor vielen Jahren den Kaugummipäckchen beigefügt waren. Daníel hatte sie ziemlich lange gesammelt. Es gab drei Stapel davon in einem Schuhkarton, die mit einem dicken Gummiband zusammengehalten wurden. Pálmi erkannte zuoberst in einem Stapel Marlon Brando als Zapata mit einem enormen Schnauzbart und einem breitkrempigen Sombrero auf dem Kopf. Marlon Brando sah wie immer melancholisch aus, so, wie man ihn kannte. Der Bildhintergrund war feuerrot.

Dann fand er ein Klassenfoto, das er nie zuvor gesehen hatte. Es war unter dem Bett auf dem Fußboden gelandet, als das Zimmer auf den Kopf gestellt worden war. Es hatte keinen Rahmen und schien auch nie einen gehabt zu haben. Das Bild war vergilbt, und die Ecken waren abgegriffen. Obwohl es der Länge nach geknickt worden war, war alles gut zu erkennen. Die Klasse war in drei Reihen aufgestellt worden, und der Fotograf hatte die Kinder sich der Größe nach aufstellen lassen. Die größten Jungen standen in der obersten Reihe, die Mädchen saßen auf dem Boden. Ganz rechts in derselben Reihe saß außerdem Daníel. Er war der Einzige, der nicht in die Kamera blickte, als das Bild aufgenommen worden war. Er schaute zu seinem Lehrer auf, der kerzengerade rechts neben der Klasse stand.

Pálmi nahm diese armseligen Besitztümer an sich und verließ das Zimmer, ging den langen grünen Korridor entlang und blieb bei den Patienten, die an der Tür rauchten, stehen. Er zog die beiden Zigarettenschachteln aus der Tasche, die er für diesen Anlass gekauft hatte, und schenkte sie ihnen. Dann öffnete er die Tür und trat in den nasskalten Januarmorgen hinaus. Falls er gehofft hatte, Erleichterung zu verspüren, ließ sie zumindest noch auf sich warten.