Zweiunddreißig

Elínborg hatte eine der Krankenschwestern ausfindig gemacht. Sie hieß Guðrún Klemenzdóttir. Zehn Leute waren damit beschäftigt gewesen, eine Liste mit den Namen der Krankenschwestern zu erstellen, die zwischen 1930 und 1935 geboren waren. Fünfzig Namen waren insgesamt notiert worden, und jeder Mitarbeiter hatte fünf Namen zugewiesen bekommen. Guðrún befand sich ganz oben auf Elínborgs Liste.

Guðrún Klemenzdóttir lebte allein in einem Wohnblock im Westend von Reykjavík. Sie arbeitete immer noch als Krankenschwester und war gerade von einer Schicht nach Hause gekommen, als Elínborg klingelte.

»Ja«, sagte eine metallisch klingende Stimme in der Gegensprechanlage.

»Guðrún Klemenzdóttir?«

»Ja. Wer ist da?«

»Mein Name ist Elínborg, ich bin von der Kriminalpolizei. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich dir gern ein paar Fragen stellen wegen eines Falles, den wir bearbeiten.«

Der Lautsprecher blieb stumm.

»Guðrún? Bist du noch da?«

»Entschuldige bitte, komm herauf«, sagte Guðrún. »Ich habe schon seit einigen Tagen mit euch gerechnet.«

Sie drückte auf den Türöffner, und Elínborg betrat ein gepflegtes Treppenhaus. Als sie auf Guðrúns Etage angekommen war, sah sie die Tür zu ihrer Wohnung offen stehen und trat vorsichtig ein. Guðrún stand am Kleiderschrank in der Diele und zog sich gerade einen Mantel an. Sie war nicht sehr groß und ein wenig mollig, hatte schlohweiße, dünne Haare und ein freundliches Gesicht. Sie sah genauso aus wie die liebe Großmutter aus einem Märchen, dachte Elínborg.

»Seit vielen Jahren habe ich vorgehabt, zu euch zu kommen«, erklärte sie. »Ich möchte lieber bei euch als in meiner Wohnung über diese Sache reden.«

»Selbstverständlich«, erwiderte Elínborg und spähte in die Wohnung hinein, die ziemlich vernachlässigt aussah. Die Möbel waren alt und verschlissen. Ein großer Bücherschrank bedeckte eine ganze Wand im Wohnzimmer, in dem die Bücher wahllos herumstanden oder -lagen. Auf dem senfgelben Teppichboden gab es eine deutliche Trittspur von der Küche ins Wohnzimmer. Die Luft war stickig, es roch nach einem Gemisch aus Kochfisch und Haarspray. »Darf ich dich noch um einen Augenblick Geduld bitten«, fragte Guðrún, die jetzt den dicken Wintermantel angezogen und sich einen Hut aufgesetzt hatte.

»Aber selbstverständlich«, erwiderte Elínborg, die immer noch an der Tür stand.

»Ich war gerade dabei, das Wasser etwas aufzuwärmen, als du geklingelt hast. Wärmst du das Leitungswasser nicht auch auf?«, fragte sie Elínborg, die überhaupt nicht begriff, wovon sie redete.

»Ich finde, es ist so kalt, wenn es direkt aus dem Kran kommt«, sagte Guðrún zur Erklärung, »vor allem im Winter. Deswegen gebe ich es immer in einen kleinen Kessel und wärme es auf, um den Durst zu löschen. Tust du das nicht?«

»Nein«, sagte Elínborg.

Guðrún ging in die Küche und Elínborg sah, wie sie eine Kochplatte abschaltete, den Kessel zur Hand nahm und Wasser in ein Glas goss. Sie schien keine Eile zu haben und kehrte erst nach einiger Zeit wieder aus der Küche zurück.

»Dann gehen wir jetzt wohl am besten«, sagte sie. »Wenn man das bloß schon eher hinter sich gebracht hätte.«

Nachdem Guðrún den Mantel ausgezogen, den Hut abgenommen und einen Kaffee hingestellt bekommen hatte, nahm sie in Erlendurs Büro Platz und bat ihn um eine Zigarette.

»Wie heißt du?«, fragte sie Erlendur, als sie einander gegenübersaßen und rauchten.

»Erlendur Sveinsson.«

»Kenne ich vielleicht deine Eltern?«

»Mein Vater hat zuletzt in einem Stahlverarbeitungsbetrieb gearbeitet. Meine Mutter hieß Theódóra und war Verkäuferin in einem Kolonialwarenladen in der Innenstadt. Die hast du vielleicht gekannt.«

»Hier kennt jeder jeden, wie du weißt. War sie in dem Geschäft in der Hafnarstræti?«

»Ein ganze Weile.«

»Ich glaube, ich kann mich an sie erinnern. Eine sehr nette und gut aussehende Frau. Du bist nicht nach ihr geraten.« »Können wir vielleicht zur Sache kommen?«

»Ja, natürlich. Also, wir waren damals zu zweit, Rannveig und ich. Sie lebt nicht mehr, die Arme. Sie bekam Lungenkrebs, und dann hat es nur sechs Monate gedauert. Sie hat natürlich geraucht wie ein Schlot. Sie ist vor einem Jahr gestorben. Wir waren eng befreundet, und ich habe sie regelmäßig im Krankenhaus besucht. Wir haben oft darüber gesprochen, was da seinerzeit passiert ist, und über die Jungen. Kurz vor ihrem Tod sagte sie mir, sie wünsche sich, dass ich mit jemandem darüber spreche und erzähle, welchen Anteil wir an diesem Versuch hatten.«

Erlendur hörte schweigend zu.

»Rannveig war die Schwester von Sævar Kreutz.«

»Moment mal, Sævar Kreutz? Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.«

»Er besitzt die Fentiaz-Pharmawerke. Wahrscheinlich weiß kaum jemand, dass er eine Schwester hatte.«

»Sævar Kreutz, der in Deutschland …«, sagte Erlendur wie zu sich selbst, ohne den Satz zu Ende zu bringen. »Der sich aus dem Familienunternehmen zurückgezogen hat und in Zusammenarbeit mit deutschen Partnern eine eigene Firma gegründet hat. Er kommt kaum noch nach Island, höchstens ein paar Wochen im Jahr. Ein mehr als mysteriöser Mann.«

»Rannveig und ich kennen uns seit unserer Ausbildung, und wir haben jahrelang am Nationalkrankenhaus zusammen gearbeitet. Sie kam eines Tages zu mir und bat mich um einen Gefallen. Es handelte sich um eine ganz besondere Aufgabe, die angeblich sehr gut bezahlt würde. Angeblich war es auch keine große Sache, aber aus irgendwelchen Gründen musste es in aller Heimlichkeit geschehen. Unsere Aufgabe war in der Tat sehr obskur. Wir mussten insgesamt vier Mal abwechselnd in die Víðigerði-Schule gehen, und zwar im Winter 67/68, um da einigen Jungen, die zu uns geschickt wurden, Blutproben zu entnehmen. Niemand durfte wissen, was wir in der Schule machten. Wir waren angewiesen worden, uns so unauffällig wie möglich zu bewegen, rasch zu arbeiten und die Schule unverzüglich wieder zu verlassen und mit niemandem darüber zu sprechen. Ich fand das irgendwie spannend und habe gar nicht darüber nachgedacht, was wir da überhaupt gemacht haben, und für wen. Wir durften nur das Allernotwendigste mit diesen kleinen Jungen reden, und wir haben ihnen Schokolade gegeben, um sie abzulenken. Für Schokolade hätten sie alles gemacht, weil sie wahrscheinlich nicht viel davon zu Hause bekommen haben. Sie waren ziemlich ärmlich gekleidet.«

»Ist dir nie in den Sinn gekommen, dass du an etwas beteiligt warst, was diesen Jungen schaden könnte?«, fragte Erlendur.

»Nein. Also zumindest nicht am Anfang. Ich habe Rannveig vollkommen vertraut. Sie war ein durch und durch guter Mensch und meine beste Freundin. Ich hatte überhaupt keinen Verdacht, dass da irgendetwas nicht stimmen könnte. Natürlich war es naiv von mir, so zu denken. Aber so war es. Wahrscheinlich hat Rannveig mir damals nur dieselben Lügen erzählt, die Sævar Kreutz ihr aufgetischt hatte, nämlich dass es sich um ganz simple Blutgruppenuntersuchungen handelte, die er aber nicht auf offiziellem Wege durchführen wollte, also mit der Zustimmung von Schule, Eltern und Behörden. Es musste laut Rannveig so unkompliziert und unbürokratisch wie möglich vonstatten gehen, und eigentlich habe ich nicht weiter darüber nachgedacht.« »Was hast du mit den Blutproben gemacht?«

»Rannveig hat sie immer genommen. Das ging aber nur ein Schuljahr lang, danach war alles wie früher. Ich habe zwar immer an diese Jungen denken müssen, aber ich habe gemerkt, dass Rannveig nicht darüber reden wollte. Und tatsächlich haben wir erst ganz zuletzt, als es mit ihr zu Ende ging, darüber gesprochen.«

»Weißt du, was Sævar Kreutz mit diesen Blutproben gemacht hat?«

»Rannveig sagte, dass er an einem Forschungsprojekt arbeitete, das geheim bleiben musste, aber es sei etwas völlig Harmloses. Rannveig hat auch nicht mehr gewusst als ich, glaube ich. Wir haben uns wahrscheinlich beide nicht ganz wohl dabei gefühlt. Und dann sahen wir im Sommer darauf die Fotos in den Zeitungen.«

»Was für Fotos?«

»Wir kannten sie. Sie sagten uns immer ihre Namen, damit wir die Reagenzgläser beschriften konnten, und ich kann mich noch heute an alle Namen erinnern. Zwei von ihnen starben im darauf folgenden Sommer, und es kamen Nachrufe in den Zeitungen. Agnar bekam ganz unerwartet einen Herzanfall, und Gísli starb bei einem Arbeitsunfall auf dem Land. Ich fand, dass es ein äußerst merkwürdiger Zufall war, weil es genau nach diesem Winter passierte, trotzdem habe ich mir nicht wirklich Gedanken gemacht. Aber in den folgenden Jahren tauchten immer wieder die Namen dieser Jungen und Fotos von ihnen in den Zeitungen auf. Jetzt zuletzt Daníel, der die ganze Zeit in der Psychiatrie war und zum Schluss Selbstmord verübt hat. Vielleicht haben alle diese Todesfälle sogar ganz normale Erklärungen, an die Hoffnung habe ich mich immer geklammert, aber trotzdem hat mich der Gedanke verfolgt, dass ich vielleicht an etwas beteiligt war, was ihr Unglück heraufbeschworen hat.«

»Du bist aber nicht früher mit diesen Informationen an die Öffentlichkeit getreten?«

»Ich habe häufig mit dem Gedanken gespielt und war einige Male kurz davor, mich auf den Weg zu machen, aber genauso oft ließ ich es auch wieder bleiben. Wie ich schon sagte, es konnte ja auch ganz natürliche Erklärungen geben. Und Sævar Kreutz ist ein Mann, dem man nicht etwas unterstellt, worüber man im Grunde genommen gar nichts weiß. Das wirst du vermutlich bald selber herausfinden. Mehr habe ich dir nicht zu sagen, und deswegen gehe ich jetzt. Falls du mich noch einmal brauchst, darfst du dich gern mit mir in Verbindung setzen.«

»Moment, Moment«, sagte Erlendur. »In Bezug auf diese Ermittlung bestimme ich, wie es weiterzugehen hat, und nicht du. Und ich bin der Meinung, dass du uns noch ein wenig mehr zu sagen hast.«

»Uns was sollte das sein?«, fragte Guðrún.

»Das weißt du natürlich besser als ich.«

»Wie bitte? Worüber redest du eigentlich?«

»In was für einer Art von Beziehung standest du zu Sævar Kreuz?«

»Beziehung? Davon kann keine Rede sein.«

»Eine vernünftige Frau wie du schleicht sich mit Nadeln und Spritzen einige Male in eine Schule in Reykjavík hinein und achtet darauf, dass sie von niemandem gesehen wird. Zapft den Jungen Blut ab, schenkt ihnen Schokolade und weiß die ganze Zeit, dass sie etwas macht, wovon niemand was wissen darf. Du kriegst ein paar fadenscheinige Erklärungen von deiner Freundin, alles paletti. Das Blut wird abgeliefert, und alles ist so, als sei nichts geschehen. Ich vermute, dass da noch etwas ganz anderes dahinter steckt. Ich glaube, du hast Sævar Kreutz gekannt.«

»Das ist absurd«, sagte Guðrún, klang aber nicht sehr überzeugend.

»Hast du ihn persönlich gekannt?«

»Ich habe nicht mehr zu sagen.«

»Du hast das keineswegs nur deiner Freundin Rannveig zuliebe getan, nicht wahr?«

»Was willst du damit andeuten?«

»Ich bin überzeugt davon, dass du Sævar Kreutz gekannt hast.«

Guðrún seufzte und schwieg eine ganze Weile.

»Er war ein Unmensch«, sagte sie schließlich wie zu sich selber. »Rannveig hat uns miteinander bekannt gemacht. Ich habe ihn einmal zusammen mit ihr besucht. Attraktiv war er auf den ersten Blick, das muss ich zugeben, ein großer, schlanker Mann, aber etwas war da mit ihm. Das wurde mir aber erst klar, als es schon zu spät war. Er benutzt Menschen und wirft sie weg, sobald er sie nicht mehr gebrauchen kann. Rannveig hatte schon lange vor ihrem Tod die Verbindung zu ihm völlig abgebrochen. Lange Zeit hat sie nicht zugeben wollen, wie er in Wirklichkeit war, aber irgendwann hatte auch sie kein Verständnis mehr für ihn aufbringen können, und sie haben sich immer weiter voneinander entfernt. An diesem ersten Abend, als wir zu Besuch kamen, tat er so, als sei ich die Traumprinzessin seines Lebens. Er überschüttete mich mit Komplimenten und flirtete mit mir wie ein Hollywoodcharmeur, und ich fiel darauf herein. Ich war schon über dreißig und unverheiratet. Ich habe nie geheiratet. Ich verliebte mich an diesem Abend in Sævar Kreutz. Da ihm so viel daran gelegen war, dass wir für ihn arbeiteten, kam er aber bald zur Sache und erzählte uns von diesen Blutgruppenuntersuchungen und dass er nicht darauf warten könne, bis sich die Mühlen der Bürokratie in Bewegung setzten. Ich glaube, Rannveig hat damals auch zum ersten Mal davon gehört. Ich war so eingenommen von diesem Mann, dass ich alles für ihn getan hätte.«

»Also war es nicht Rannveig, die dir von diesem mysteriösen Projekt erzählt hat?«

»Diese Variante ist angenehmer für mich. Wahrscheinlich habe ich mir das selber so oft vorgesagt, dass ich zum Schluss selbst daran geglaubt habe. Alles ist besser als die Wahrheit.«

Erlendur bot ihr noch eine Zigarette an und gab ihr Feuer. »Ich habe mich ein paar Mal mit ihm getroffen, er war immer der gleiche Charmeur, aber irgendwie spürte ich bald, dass er unverbindlich blieb. Er war immer distanziert, auch wenn er liebenswürdig war oder sich so gab. Nach diesem Winter, als alles vorbei war, hörte er plötzlich auf, sich bei mir zu melden. Ich versuchte, ihn anzurufen, ich habe ihm sogar einen Brief geschrieben, aber auf einmal war er völlig verändert, er war kalt und abweisend. Als ich schließlich zu ihm nach Hause gegangen bin, hat er mir gesagt, ich solle alles vergessen. ›Forget it‹, sagte er an der Tür zu mir und knallte sie mir vor der Nase zu. Forget it.«

»Seid ihr miteinander ins Bett gegangen?«, warf Erlendur ein.

»Ist das wirklich notwendig?«

»Manchmal ist meine Arbeit ziemlich unerfreulich.«

»Ja, wir haben miteinander geschlafen. Und dann stand ich da vor seinem Haus und begriff überhaupt nichts. Ich klingelte noch einmal und hämmerte an der Tür, aber er ließ sich nicht mehr blicken. Danach habe ich ihn nie wieder getroffen. Es hätte nicht schlimmer sein können, wenn er mich vergewaltigt hätte.«

»Deswegen hast du nie zuvor jemandem davon erzählt.«

»Sævar Kreutz hat eine besondere Gabe dafür, einen dazu zu bringen, dass man über diese Bekannschaft Stillschweigen bewahrt.«

Guðrún war aufgestanden. Sie gab Erlendur die Hand und stand schon in der Tür, als sie sich langsam wieder umwandte und nachdenklich sagte: »Rannveig hat ganz bestimmt nichts über dieses Forschungsprojekt gewusst, davon bin ich überzeugt. Sie hat nie darüber geredet, aber irgendwann einmal war sie ganz niedergeschlagen und erklärte mir gegenüber, dass ihr Bruder wohl verrückt geworden sei. Ihrer Meinung nach befasste er sich mit Dingen, mit denen niemand experimentieren sollte. Mehr wollte sie nicht sagen, aber ich kann mich erinnern, wie schockiert sie über ihren Bruder war. Ich glaube, dass sie danach nie wieder mit ihm gesprochen hat.«

Nachdem Guðrún gegangen war, kam Sigurður Óli in Erlendurs Büro, und Erlendur berichtete ihm, was er von Guðrún erfahren hatte. Er bat Sigurður Óli, das noch für sich zu behalten. Der Fall hatte ganz andere Dimensionen erhalten, die ebenso unangenehm wie heikel waren.

»Was waren noch die Buchstaben, die Sigmar zu schreiben versucht hat?«, fragte Sigurður Óli und nahm sein kleines Notizbuch heraus. »E und A. Glaubst du, dass er das auf seinen Bauch geschrieben hat?«

»Was?«, fragte Erlendur.

»Fentiaz.«

»Sigmar hat möglicherweise alles herausgefunden. Aber wie?«

Erlendur und Sigurður Óli verbrachten den Rest des Tages damit, Nachforschungen anzustellen, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen durften. Am Abend hatten sie diverse Informationen über Sævar Kreutz und Fentiaz in den Händen.