Zwanzig
Ein Mann, der früher in Hvolsvöllur gelebt hatte und seinen Namen nicht nennen wollte, hatte sich mit der Zeitung in Verbindung gesetzt und sie davon in Kenntnis gesetzt, was seinerzeit in Hvolsvöllur vorgefallen war, als Halldór dort an der Volks-und Mittelschule unterrichtet hatte. Er hatte sich an den Jungen in der Schule sexuell vergangen und war gefeuert worden.
Pálmi saß am Küchentisch und las den Artikel noch einmal.
Vieles deutet darauf hin, dass der Volksschullehrer Halldór Svavarsson, der am Abend des 16. Januar in seinem Haus ermordet wurde, ein Kinderschänder gewesen ist. Informationen zufolge, die der Zeitung übermittelt wurden, hat er zu Beginn der sechziger Jahre Jungen in der Volksschule in Hvolsvöllur sexuell belästigt und unzüchtiges Verhalten an den Tag gelegt. Dieser Tatbestand konnte jedoch bislang noch nicht verifiziert werden. Erlendur Sveinsson, der die Ermittlungen in diesem Mordfall leitet, hat dies weder bestätigt noch negiert.
Den Informationen zufolge hat der Tote zum wiederholten Male unzüchtiges Verhalten an den Tag gelegt. Er wurde nicht angezeigt, als seine Vergehen bekannt wurden, aber er musste den Ort verlassen. Die Einwohner von Hvolsvöllur schwiegen die Sache tot. Der ehemalige Schulleiter wollte sich nicht dazu äußern, als sich unsere Zeitung gestern Abend mit ihm in Verbindung setzte, und der gegenwärtige Schulleiter erklärte, nichts über diese Vorfälle zu wissen, weil er erst sehr viel später nach Hvolsvöllur gekommen sei.
Experten für solche Art von Delikten halten es für sehr wahrscheinlich, dass Halldór damit fortfuhr, nachdem er nach Reykjavík zog und an der Víðigerði-Schule zu unterrichten begann. Nach Meinung von Dr. Norma J. Andrésdóttir, Expertin für Sittlichkeitsdelikte, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sich solche Vorgänge wiederholen, wenn es einmal zu einer abnormen Verhaltensweise gekommen ist.
Auf der Pressekonferenz der Kriminalpolizei gestern Nachmittag …
Als Pálmi ein leichtes Klopfen hörte, ging er zur Tür und ließ Dagný herein. Es war kurz nach acht, und ihre Kinder waren schon in der Schule. Sie selbst musste erst um zehn Uhr ins Büro.
»Was hat dieser Mann von Daníel gewollt?«, fragte Dagný, gleich nachdem sie hereingekommen war.
»Das weiß der liebe Gott«, antwortete Pálmi.
»Was für eine unglaubliche Berichterstattung. Da kommt irgend so ein Depp daher und erzählt infame Geschichten über diesen Mann, und schon wird er in den Augen der Nation als Kinderschänder abgestempelt.«
»Ich war gestern Abend bei der Kriminalpolizei. Es stimmt alles. Sie sind nach Hvolsvöllur gefahren und der Sache auf den Grund gegangen. Der damalige Rektor der Schule hat ihnen die ganze Geschichte erzählt. Halldór hat sich an den Jungen in der Schule sexuell vergangen. Vielleicht hat er damit in der Víðigerði-Schule weitergemacht, und vielleicht sind einige aus Daníels Klasse ihm zum Opfer gefallen. Vielleicht sogar Daníel selbst.«
»Nicht zu fassen«, sagte Dagný. »Die Sache mit Daníel ist ja schon schlimm genug für dich, und dann jetzt noch so was Grauenvolles.«
Pálmi reichte ihr eine große Tasse, in die er starken Kaffee eingoss, holte dann geschäumte Milch vom Herd und füllte die Tasse damit auf. Er trank seinen Kaffee immer so, und Dagný, die sich früher nichts aus diesem Getränk gemacht hatte, war begeistert von seinem Kaffee. Sie saßen ein Weilchen da, ohne etwas zu sagen. Dagný spürte, dass ihm etwas auf dem Herzen lag. Sie wartete ruhig ab. Schließlich brach Pálmi das Schweigen.
»Irgendwie ist das alles seltsam mit Daníel«, sagte er. »Egal, wie ich mich anstrenge, ich habe keine normalen Erinnerungen an ihn aus der Zeit, bevor er krank wurde. Egal, was ich versuche, ich sehe ihn nur in bruchstückhaften und zusammenhanglosen Erinnerungsfetzen vor mir, die mir gar nichts sagen. Verstehst du, was ich meine?«
Dagný schwieg.
»Ich habe immer nur diesen frühzeitig gealterten Daníel in der psychiatrischen Klinik vor Augen. Er war eigentlich die meiste Zeit über sehr nett zu mir. Manchmal hat er überhaupt nichts gesagt. Manchmal redete er stundenlang über sich selbst, über die Klinik und das Personal, und dann noch dieser ganze astrologische Quatsch. Unglaubliche Wahnvorstellungen. Und er hat geraucht wie ein Schlot. Ich muss gestehen, dass ich ihm nie wirklich zugehört habe. Ich habe es die ganze Zeit vermieden, ihm nahe zu sein. Ich hab nur das getan, was ich für meine Pflicht hielt, nicht mehr und nicht weniger. Ich habe ihn besucht, habe mit den Ärzten gesprochen, ich habe Daníel auch mal zu mir nach Hause geholt, ich habe alles, was ihn betraf, mitverfolgt, aber Daníel stand mir nie näher als alle anderen leblosen Dinge um mich herum. Er war nur so etwas wie eine Aufgabe für mich. Etwas, was Mama mir hinterließ, als sie starb. Ich habe mir oft gewünscht, dass es ein Ende nehmen würde, und jetzt, nachdem es tatsächlich zu Ende ist, hänge ich irgendwie vollkommen in der Luft, ich begreife gar nichts und bereue alles so sehr. Ich hatte nicht einmal den Mut, ihn im Sarg anzusehen. Als sein alter Freund sich herunterbeugte und ihn zum Abschied küsste, tat er genau das, was ich hätte tun sollen, und ich habe seitdem extreme Schuldgefühle. Es war, als würde jemand mich anschreien: Was ist eigentlich los mit dir, Pálmi? Er war doch dein einziger Bruder! Sonst ist niemand mehr aus unserer Familie übrig, und er starb, bevor ich mich überwinden konnte, ihn kennen und lieben zu lernen. Das Schlimme ist bloß, dass ich davon überzeugt bin, dass ich es nie getan hätte, auch wenn er hundert Jahre alt geworden wäre. Ich hätte es nie geschafft. Jetzt ist mir auf einmal klar geworden, dass nicht Daníel mich brauchte, sondern umgekehrt, ich brauchte ihn. Aber das habe ich erst begriffen, nachdem ich ihn verloren hatte. Ich habe mich immer nur als mitleidigen Samariter gesehen, der seine Pflicht tat und manchmal ein bisschen mehr. Seine Pflicht tat! Als ob man dazu da wäre, irgendwelche Pflichten zu erfüllen! Ich habe einfach darauf gewartet, dass er starb.«
»Es hat doch keinen Sinn, sich mit solchen Selbstvorwürfen zu quälen«, sagte Dagný.
»Es ist aber wahr, Dagný. Ich war im Grunde genommen irgendwie froh, als er gesprungen ist. Kannst du dir das vorstellen? Froh. Zu was für einem Scheusal bin ich eigentlich geworden? «
»Das hast du bestimmt nie gedacht.«
»Ich habe diese Vorstellungen oft unterdrücken müssen. Sie kamen aber immer wieder hoch. Du weißt bestimmt, auf was für blödsinnige Gedanken man kommt, wenn etwas Tragisches passiert. Man hört von jemandem, der viel zu früh gestorben ist, und das Herz setzt einen Schlag aus; man ist froh, dass es einen nicht selbst erwischt hat. Idiotische Gedanken, die vermutlich aber eine Art spontane Reaktion sind. Ich weiß es nicht. Diese Gedanken über Daníel lassen mich nicht los.«
»Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest. Ich weiß nur, dass du kein bisschen froh über Daníels Tod warst.«
»Vielleicht war ich das auch nicht, aber ich bin mir eben nicht sicher, verstehst du. Er lag auf einmal in der Luft, dieser Gedanke: Jetzt ist es vorbei. Keine weiteren Besuche in der Klinik. Keine Umstände mehr wegen Daníel. Aber es hat sich herausgestellt, dass es überhaupt keine Erleichterung war, sondern ganz im Gegenteil: Jetzt liegt eine schwere Last auf mir. Endlich nach all diesen Jahren habe ich an Daníel wie an einen Menschen gedacht und es geschafft, mich selbst zu durchschauen. Wenn ich mich doch nur erinnern könnte, wie er war, als wir klein waren. Ich habe das nie so intensiv versucht wie jetzt, aber da ist nichts. Ich habe Daníel komplett aus meinem Leben ausgeblendet. Findest du das nicht merkwürdig? Meinen eigenen Bruder.«
Dagný antwortete nicht. Pálmi hatte nie zuvor mit ihr über solche Dinge gesprochen.
»Ich glaube, ich bin die ganze Zeit auf der Flucht gewesen. Mama hat immer behauptet, dass aus mir etwas werden würde. So wie alle Mütter hat sie felsenfest an mich geglaubt, wahrscheinlich auch deswegen, weil ich ihre einzige Hoffnung war. Vielleicht ist Hoffnung nicht das richtige Wort, ich war eher das einzig Normale, was ihr noch geblieben war. Nicht, dass ich auch nur annähernd normal wäre«, sagte Pálmi lächelnd. »Mama hat es schwer gehabt, und sie erträumte sich für mich eine Zukunft, die besser war als das, was sie kannte. In der Schule habe ich nie Probleme gehabt, so war es nicht, aber ich bin auch immer den Weg des geringsten Widerstands gegangen. Habe mich nie irgendwelchen Herausforderungen gestellt. Und in der Universität dasselbe. Meine Freunde studierten Medizin, aber ich wählte Geschichte. Dafür interessiere ich mich wirklich, aber dieses Fach kann man auch so anpacken, dass es völlig verantwortungsfrei ist. Die Projekte, mit denen ich mich abgebe, werden mit Sicherheit keine Meinungsverschiedenheiten verursachen. Ich vermeide es, irgendjemanden vor den Kopf zu stoßen, ich will niemandem zu nahe treten. Du lieber Himmel, ich könnte ja in eine wissenschaftliche Kontroverse hineingezogen werden, es könnte womöglich jemand meine akademischen Qualifikationen in Zweifel ziehen! Mir fehlt jegliche Initiative.«
»Jetzt sei aber mal nicht zu selbstkritisch. Du hast immerhin ein gut laufendes Antiquariat», warf Dagný ein.
»Ja, ich bin knapp über dreißig und betreibe ein Antiquariat. Mit was für Problemen muss man sich da denn auseinander setzen? Huch, es ist zu wenig Wechselgeld in der Kasse. Ich verkaufe ein Buch und schlage ein bisschen mehr drauf, als mir genügen würde, um ein gutes Auskommen zu haben. Das ist doch kein Leben, da könnte man genauso gut tot sein. Ich habe mich lebendig begraben. Und das zeigt sich alles an meinen Kontakten zu Daníel. Siehst du, ich verwende das Wort Kontakte, wenn ich über Daníel rede. In Bezug auf ihn verhielt ich mich nämlich genauso. Ich ging den einfachsten Weg, indem ich gar nichts tat und zu verdrängen versuchte, dass er existierte. Es widerstrebte mir, mich mit Daníel auseinander zu setzen, mit seiner Krankheit und dem, was er mir in meiner Kindheit angetan hat. Ich habe ihn völlig ausgeblendet. Das war einfacher, als mich anständig um ihn zu kümmern. Stattdessen habe ich mich verhalten wie eine komplette Null.«
Der Kaffee stand unberührt in den Tassen und war inzwischen kalt geworden. Dagný sah Pálmi an, aber der schaute mit abwesendem Blick an ihr vorbei auf die Wand hinter ihr, so, als stünden dort seine Verfehlungen geschrieben. »Und ich war immer der Meinung, du wärst so selbstsicher und selbstbewusst«, sagte Dagný schließlich. »Hier im Haus trägst du die Nase so hoch, als seist du eine große Nummer.« Sie lachte verlegen.
»Die Nase hoch«, wiederholte Pálmi.
»Ich glaube, du urteilst viel zu streng über dich selbst. Churchill war auch Historiker, vergiss das nicht«, sagte Dagný und lächelte. »Zwischen dir und Daníel bestand ein großer Altersunterschied, und das hat es für euch beide viel schwieriger gemacht, das ist immer so. Er war krank und nicht selten ein schwieriger Patient, und du standest ganz allein da und musstest die Verantwortung tragen. Ich glaube, du hast das Herz auf dem rechten Fleck, und wenn du die Sache mal realistisch betrachtest, wirst du bestimmt sehen, dass es in Wirklichkeit gar nicht anders hätte laufen können. Ich habe eine Schwester, die fünf Jahre älter ist als ich, und ich habe fast gar keine Verbindung zu ihr, außer dass wir uns an Feiertagen treffen. So ist das Leben. Soll man nur dasitzen und sich den Kopf darüber zerbrechen, oder sollte man sich nicht lieber um das kümmern, was man hat, und aufhören, zu spekulieren, was man nie gewesen ist und nie werden wird. Wenn ich alles bereuen würde, was ich im Leben gemacht und allem nachtrauern, was ich unterlassen habe, würde ich wahnsinnig werden.«
»Das ist aber ein bisschen mehr als nur Nachtrauern. Das ist irgendwie Gefühllosigkeit und Rückgratlosigkeit, ein Armutszeugnis. Irgendwas, wodurch einem alles und jeder gleichgültig wird.«
Im Wohnzimmer klingelte das Telefon. Pálmi stand langsam auf und hob ab. Er sagte ein paar Mal ja und es endete damit, dass er sich zu etwas bereit erklärte.
»Das war dieser Sigurður Óli von der Kriminalpolizei. Sie haben Sigmar, aber sie bekommen kein Wort aus ihm heraus. Er hat aber gefragt, ob er mit mir reden könnte. Ich muss gleich los.«
Pálmi traf Vorkehrungen, dass er erst nach dem Mittagessen ins Antiquariat musste. Er wurde abgeholt und zum Hauptquartier in Kópavogur gebracht. Sigmar, Erlendur und Sigurður Óli saßen in einem kleinen Verhörzimmer. Erlendur ging zunächst mit Pálmi auf den Korridor und informierte ihn, wie sie Sigmar gefunden hatten. Es war einfach gewesen, nachdem sich herausgestellt hatte, dass er bei der Polizei kein Unbekannter war. Er hatte in regelmäßigen Abständen für diverse kleinere Straftaten eine Art kumulative Strafe bekommen, nichts davon war wirklich gefährlich oder aufsehenerregend: Urkundenfälschung, Scheckbetrug, Einbrüche in Kioske. Er war ein Versager auf der ganzen Linie, auch was seine kriminelle Laufbahn betraf. Er hatte seit seiner Jugend keinen festen Wohnsitz mehr gehabt und war in der Stadt ziemlich bekannt, weil er nicht selten in unterschiedlich angetrunkenem Zustand durch die Straßen Reykjavíks wankte und sich mit anderen Pennern herumtrieb. Die Kollegen von der Polizei hatten ihn sofort aufgespürt, nachdem sie von der ehemaligen Schule den vollen Namen erhalten hatten. Sie fanden ihn im Haus für Resozialisation, in dem er sich seit einigen Wochen aufhielt, nachdem er eine kürzere Gefängnisstrafe abgesessen hatte.
Jetzt saß er da und rauchte eine Zigarette, die Erlendur ihm gegeben hatte, und als Erlendur und Pálmi zurück in den Raum kamen, bestand er darauf, mit Pálmi allein zu sprechen. Erlendur erklärte, dass das nicht möglich sei.
»Steht er unter Verdacht?«, fragte Pálmi.
»Wir bekommen nichts aus ihm heraus«, erwiderte Erlendur. »Er weigert sich, irgendetwas zu sagen.«
»Schneidet ihr nicht alles mit, was hier drinnen gesagt wird?«
»Das können wir machen.«
»Wäre es dann nicht ganz in Ordnung, dass er mit mir allein redet, wenn er unbedingt darauf besteht, und ihr nehmt alles auf Band auf?«
Erlendur überlegte.
»Das ist zwar ziemlich ungewöhnlich«, sagte er zu Pálmi, »aber in diesem Fall werde ich eine Ausnahme machen.« Dann gingen er und Sigurður Óli hinaus, und Pálmi setzte sich auf den Stuhl, der Sigmar gegenüberstand.
»Ich habe vergessen, mich bei dir dafür zu bedanken, dass du zu Daníels Beerdigung gekommen bist«, sagte Pálmi.
»Du brauchst dich nicht bei mir zu bedanken. Danni war mein Freund.«
»Wie geht es dir?«
»Frag besser nicht.«
»Mir wurde gesagt, dass du mit mir reden willst. Ist es wegen Daníel?«
»Ja, Daníel. Wir waren gute Freunde, Danni und ich.«
»Auf dem Parkplatz am Friedhof glaubte ich zu hören, dass du etwas über die Lebertranpillen gerufen hast. Stimmt das?«
»Die Lebertranpillen. Richtig genial. Wir waren total versessen darauf. Es war bloß kein Lebertran in diesen Pillen, die wir damals in der Schule gekriegt haben.«
»Ihr habt also keine normalen Lebertranpillen bekommen?«
»Nein, die haben uns irgendein Gift eingetrichtert, das uns verrückt machte. Total verrückt machte.«
»Was meinst du damit?«, fragte Pálmi, der nicht so recht wusste, wie er auf Sigmars Äußerungen reagieren sollte. Der saß da und hatte dieselben schäbigen Klamotten an wie bei Daníels Beerdigung. Er blickte sich gehetzt um und vermied es, Pálmi anzusehen. Der ganze Raum stank nach Urin.
»Verrückt, ich meine, so verrückt wie Danni. Wir wurden süchtig, nach Alkohol und Dope, und einige schnappten über. Keiner von uns ist davongekommen, Danni war nicht der Einzige. Hast du was über die anderen aus unserer Klasse gehört? Weißt du, wie viele Selbstmord begangen haben oder in der Klapse gelandet sind?«
Pálmi starrte Sigmar an und traute seinen Ohren nicht. Ihm fiel ein, dass Daníel auch über ›die anderen‹ geredet hatte. Wenn er aus dem Paradies vertrieben worden ist, woher waren dann die anderen gekommen? So oder so ähnlich hatte er sich ausgedrückt. Pálmi schüttelte den Kopf. Hinter der verspiegelten Scheibe standen Erlendur und Sigurður Óli und lauschten aufmerksam.
»Willst du damit wirklich andeuten, dass euch da jemand irgendein Giftzeug gegeben hat, das euch zu Junkies gemacht hat? Wie kommst du auf so eine Idee? Was sollte das bewirken?«
»Die Sache ging auf, weil er pervers war. Deswegen haben sie ihn unter Druck setzen können, und er musste das tun, was sie von ihm verlangten. Er hat die Pillen ausgeteilt. Er ging von Pult zu Pult, und er hat sie uns jeden Tag gegeben. Und dazu sein ekelhaftes Lächeln gelächelt.«
»Von wem redest du da? Von Halldór?«
»Es hieß immer, dass wir die schlimmste und schlechteste Klasse in der ganzen Schule wären. Nicht nur in diesem Schuljahr, sondern in der gesamten Geschichte der Schule. Versager. Totale Luschen. An uns war Hopfen und Malz verloren. Uns wurde immer unter die Nase gerieben, dass aus uns nie etwas werden würde. Die Lehrer sagten uns glatt ins Gesicht, dass wir absolute Nieten wären und nie die Chancen nutzen könnten, die uns das Leben bieten würde. Das Leben bieten würde! In dem Winter damals waren wir aber auf einmal Superschüler und kriegten in allen Fächern Supernoten und waren die Besten. Kein Mensch hat das kapiert. Später landeten dann alle in der Scheiße. Die meisten sind schon tot, Danni kam in die Klapse und Kiddi Kolke verschwand eines Tages von der Bildfläche und ist nie wieder aufgetaucht. Skari stand ständig unter Stoff, und Aggi fiel urplötzlich mausetot in einen Tümpel, er war gerade erst dreizehn. Mensch, überleg mal, dreizehn Jahre, knallte hin und bums, aus. Gísli verbrachte den Sommer auf einem Bauernhof und war auf einmal auch tot. Alle sind weg vom Fenster. Ágúst hat sich die Pulsadern aufgesäbelt, Óttar verschwand spurlos, der ist einfach zum Strand gegangen und rausgeschwommen. Der war schon immer gut im Schwimmen. Sie haben seine Schuhe am Strand gefunden, die standen da genauso ordentlich herum wie in der Schule. Wir haben uns alle ohne Ausnahme mit Dope kaputtgemacht und keiner kam davon. Wir waren verrückt nach diesen Pillen. Aber komischerweise hatten die kein Interesse an den Mädchen, deswegen haben nur die Jungs diese Pillen bekommen. Wir waren Versuchskarnickel. Und dann kamen immer diese Krankenschwestern und haben uns Blut abgezapft. Wir kamen überhaupt nicht auf die Idee, das mit den Pillen in Verbindung zu bringen, die haben ja schließlich auch nie ein Wort mit uns geredet, diese zwei Krankenschwestern, die immer abwechselnd in der Schule auftauchten. Alle zwei Monate, glaube ich.«
Pálmi starrte Sigmar an, der dahockte und verworrene Sätze von sich gab. Im Nebenzimmer warfen Erlendur und Sigurður Óli sich einen Blick zu, um dann wieder auf Sigmar zu schauen.
»Willst du damit sagen, dass euch irgendein Mittel eingegeben worden ist, das euch kaputtgemacht hat? Das hört sich an wie eine Ausgeburt der Phantasie.«
»Genau! Und was für eine Phantasie! Wenn wir davon erzählt hätten, hätte man sich über uns schlappgelacht, das war uns völlig klar. Jetzt ist niemand mehr übrig außer mir. Ihr solltet mal untersuchen, was aus all den Jungs aus meiner Klasse geworden ist. Falls ihr das völlig normal findet, was mit denen passiert ist, dann ist ja alles in schönster Ordnung.«
In diesem Augenblick kam Erlendur zurück in den Raum. »Hast du Halldór umgebracht?«, fragte er und schaute Sigmar durchdringend an.
»Wenn ich ihn umgebracht hätte, dann hätte ich ihn auch in Brand gesteckt und zugesehen, wie er verschmort wäre und geschrien und sich gequält hätte, und ich würde noch nicht einmal auf ihn gepinkelt haben, um ihm zu Hilfe zu kommen.«
Erlendur und Pálmi blickten einander an, und dann auf Sigurður Óli, der jetzt auch hereinkam.
»Wer hat sich an Halldór gerächt?«, fragte Erlendur, aber Sigmar schwieg.
»Und woher weißt du das alles über Halldór?«, fragte Pálmi, bekam aber ebenfalls keine Antwort. Sigmar saß im Verhörzimmer und starrte mit trotziger Miene vor sich hin.
»Woher weißt du, dass kein Lebertran in den Kapseln war?«, fragte Erlendur. »Von wem hast du diese Informationen?«
Sigmar schwieg.
»Woher weißt du das über diese Pillen?«, fragte Sigurður Óli.
Keine Antwort.
»Warum willst du uns nicht sagen, woher du es weißt?«, fragte Erlendur. »Erst quasselst du hier was von Pillen und Dope, und dann machst du die Klappe nicht mehr auf. Man könnte glatt glauben, du willst uns auf den Arm nehmen. Oder gibt es möglicherweise jemanden, der dir verbietet, uns etwas zu sagen?«
Immer noch saß Sigmar schweigend da. Sie sahen Pálmi an, dessen Blicke auf Sigmar geheftet waren.
»Kannst du uns nicht verraten, woher du all das über die Pillen weißt, Sigmar?«, fragte Pálmi. »Weißt du zum Beispiel, was da drin war, wenn es kein Lebertran war?«
Sigmar schaute zu Pálmi hinüber und gab keinen Ton von sich.
»Du willst also sagen, dass die Jungen alle süchtig wurden, weil sie diese Pillen genommen haben«, fuhr Pálmi fort. »Dass sie deshalb dem Alkohol und Drogen verfielen oder in der Irrenanstalt landeten. Sigmar, weißt du, wer hinter diesen Versuchen steckte? Oder ist das alles pure Erfindung von dir? Du hast in der Zeitung gelesen, dass dein früherer Volksschullehrer sich an Kindern vergangen hat, und braust dir da eine abenteuerliche Geschichte über Giftpillen und Todesfälle zusammen. Ist das nicht alles ein Produkt deiner Phantasie?«
»Von wegen Phantasie«, sagte Sigmar schließlich und schaute Pálmi an. »Ich hatte gedacht, du würdest mir glauben, weil du Daníels Bruder bist, aber da habe ich mich wohl getäuscht.«
»Ich meine nur«, erwiderte Pálmi, »dass das ganz schön unglaublich klingt, was du uns da sagst, und du scheinst uns nicht helfen zu wollen, damit wir der Sache auf den Grund gehen können. Du weißt mehr, als du sagst, und wir möchten alles hören, was du weißt. Nicht nur einen Teil davon, sondern alles.«
Sigmar schwieg.
»Hast du Daníel jemals in der Klinik besucht?«, wechselte Pálmi abrupt das Thema.
»Früher habe ich das gemacht«, sagte Sigmar, »aber später nicht mehr. Ich sah keinen Sinn darin. Ich habe nur ganz selten Zugang zu ihm gefunden, und ich fand es so trostlos, wie er da drin dahinvegetierte und kaputtgegangen ist. Diese Scheißmedikamente. Alle sind tot, alle meine Freunde. Außer mir ist niemand mehr übrig.«
»Deswegen kann ich mich an dich erinnern. Seit ich sieben war, bin ich jede Woche einmal in die Klinik gegangen, um Daníel zu besuchen, und damals bekam er manchmal Besuch von anderen als nur Mama und mir, und du warst einer von denen.«
»Wir waren gute Freunde, Danni und ich. Wir haben alles gemeinsam gemacht. Alle Jungs aus unserer Klasse steckten viel zusammen, aber wir waren die dicksten Kumpels. Wir haben keine Geheimnisse voreinander gehabt. Wahrscheinlich wäre es am besten gewesen, sich umzubringen, wie die anderen. Wir sind alle total ausgeflippt. Wir haben uns mit allem zugedröhnt, was wir an Drogen in die Pfoten kriegten. Wir waren wie besessen. Wahrscheinlich bin ich noch am besten davongekommen. Ich lebe jedenfalls noch, falls man das Leben nennen kann. Vielleicht war Halldórs Theorie über den Zufall richtig.«
»Halldórs Theorie über den Zufall?«, fragte Erlendur, erhielt aber keine Antwort.
»Was war mit den Krankenschwestern?«, fragte Sigurður Óli. »Wer war das? Können wir mit denen reden?«
»Die Krankenschwestern. Wer hat sie wohl dazu gebracht, Kindern heimlich Blut abzuzapfen?«, sagte Sigmar. »Das ist vielleicht das Komischste an dem Ganzen, wie die zwei in die Schule kommen und uns Blutproben entnehmen konnten, ohne dass irgendjemand das gemerkt hat. Ich bin ihnen seitdem nie wieder begegnet. Zwei Frauen mit Spritzen. Sie waren kaum älter als vielleicht fünfunddreißig.« »Weißt du, wer Halldór ermordet hat?«, fragte Sigurður Óli.
Sigmar antwortete nicht.
»Woher wusstest du, dass Halldór dazu gezwungen worden ist, den Jungen diese Pillen zu geben?«, fragte Erlendur.
Sigmar schwieg.
»Hast du mit ihm geredet, bevor du ihn ermordet hast?«
Schweigen.
»Hast du mit ihm gesprochen, bevor er starb?«
Sigmar sagte kein Wort.
»Wer hat Halldór unter Druck gesetzt?«
Sie merkten, dass aus Sigmar kein Wort mehr herauszubekommen war – zumindest nicht im Augenblick.
Erlendur bedeutete Sigurður Óli und Pálmi, den Raum zu verlassen, und sie traten auf den Korridor hinaus.
»Vielleicht sollten wir es im Augenblick dabei bewenden lassen. Wir behalten ihn noch einen Tag lang in Untersuchungshaft. Sigurður Óli, du kümmerst dich um eine richterliche Anordnung. Und dann schauen wir, ob er nicht heute Nachmittag bereit ist, mehr zu sagen.«
»Mir fällt ein, dass er möglicherweise mit Daníel gesprochen haben kann«, sagte Pálmi. »Halldór hat Daníel in der Klinik besucht, und sie haben sich ein paar Mal unterhalten. Kann sein, dass die Informationen über Halldór daher stammen.«
»Wir müssen abchecken, was aus diesen Jungen geworden ist«, sagte Sigurður Óli, »und herausfinden, was davon mit Sigmars Aussagen übereinstimmt. Wir müssen uns mit den Familienangehörigen unterhalten und mit dem ehemaligen Schulleiter an der Víðigerði-Schule. Vielleicht kann er uns ja weiterhelfen. Und wir müssen das mit den Krankenschwestern überprüfen.«
»Ich bin froh, dass es wahrscheinlich nichts mit den Schülern zu tun hat«, erklärte Pálmi. »Falls Sigmars merkwürdige Geschichte stimmt, hat der Mord an Halldór ein langes Vorspiel gehabt. So etwas wurde nicht von Schulkindern verübt.«