Zehn

Erlendur brachte Sigurður Óli nach Hause. Es war schon ziemlich spät, als sie endlich aus Hafnarfjörður zurückkamen. Helena hatte sich nicht dazu bewegen lassen, ihnen mehr über Halldór zu erzählen und zu sagen, was sie damit meinte, dass er missbraucht worden wäre. Sie hatte freundlich darum gebeten, jetzt allein gelassen zu werden. Sie gingen darauf ein, obwohl Sigurður Óli sie am liebsten noch etwas unter Druck gesetzt und mehr aus ihr herausgeholt hätte.

Im Autoradio hörten sie die Abendnachrichten. Erlendur hatte veranlasst, dass eine Pressemitteilung herausgegeben wurde. Sie wussten von keinem anderen nahen Anverwandten außer Helena, und ihr war Halldórs Tod nun offiziell mitgeteilt worden. Die Medien stürzten sich gierig auf die Sensationsmeldung, es wurde gesagt, wer in dem Haus gelebt hatte und dass man in der Brandruine Halldórs Überreste gefunden hatte. Über die Ursache des Brands war aber nichts verlautbart, und es gab auch keine näheren Informationen zum aktuellen Stand der Ermittlung. Erlendur war nicht gut auf die Medien zu sprechen. Er hielt die Informationen, die er an sie herausgab, immer so knapp wie nur möglich. Er genoss es, wenn die Journalisten im Dunklen tappten. Ihm war nicht selten deswegen Animosität und mangelnde Kooperationsbereitschaft vorgeworfen worden.

Nachdem er Sigurður Óli zu seinem Junggesellenappartement gebracht hatte, fuhr Erlendur noch einmal ins Büro. Aus irgendwelchen Gründen war die Kriminalpolizei in einem Gewerbegebiet in Kópavogur untergebracht, gegenüber befand sich eine Reifenwerkstatt und nebenan ein Solarium. Der Kriminalpolizei standen zwei Etagen in einem grundhässlichen Bürogebäude zur Verfügung, das zudem noch so gravierende Alkalischäden aufwies, dass es wegen der vielen Risse und Sprünge aussah wie nach einem schweren Erdbeben. An einer Ecke des Hauses war ein großes Stück herausgebrochen, und es schien kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen.

Auf Erlendurs Schreibtisch lag der Autopsiebericht. Er war kurz und knapp und bestätigte das, was bereits bekannt war. Halldór musste unsägliche Qualen erlitten haben, denn der Tod war nicht schnell eingetreten.

Erlendur überlegte, ob er nicht auch nach Hause fahren sollte, aber dort erwartete ihn nichts außer dem gewohnten Bett. Er zog sich Mantel und Schal an und setzte seinen Hut auf. Er trug immer einen Hut, gleichgültig ob das in Mode war oder nicht. Moden interessierten ihn grundsätzlich nicht.

Er ging gedankenverloren zum Auto, dachte an Halldór Svavarsson, an Helena − und an Sigurður Óli, der manchmal unglaublich unsensibel sein konnte. Er war im Grunde genommen gar kein so übler Kerl. Erlendur war ihm aber einen Gefallen schuldig und wusste, dass er sich eines Tages dafür revanchieren musste. Er hatte in Sigurður Ólis Anwesenheit einmal einen Mann zusammengeschlagen. Sigurður Óli, der damals erst seit einigen Wochen bei der Kriminalpolizei gearbeitet hatte, hatte ihm nie verziehen, da hineingezogen worden zu sein.

Erlendur war seit langem geschieden. Er hatte zwei erwachsene Kinder, von denen er meistens nur dann etwas hörte, wenn sie in Schwierigkeiten waren. Seine Tochter lebte mit einem Mann zusammen, der ein Dealer zu sein schien. Sie selbst war drogenabhängig, und Erlendur hatte den Verdacht, dass sie auf den Strich ging. Er war der Meinung, dass er immer alles in seiner Macht Stehende getan hatte, um sie aus dem Sumpf herauszuziehen, in den sie geraten war, aber sie endete doch immer wieder dort. Erlendur begriff nicht, warum sie sich so verhielt, er hatte es aufgegeben, sie zu einer Therapie zu überreden oder selbst mit ihr zu arbeiten. Er hatte sich einmal ein ganzes Jahr unbezahlten Urlaub genommen, um bei ihr sein zu können und ihr zu helfen. Trotz heftiger Auseinandersetzungen und dank großer Kraftanstrengung ging es eine ganze Weile gut, aber dann nahm die Sucht wieder überhand und sie verschwand aus Erlendurs Gesichtskreis. Er versuchte ihr so weit wie möglich beizustehen, wenn sie bei ihm auftauchte, aber ansonsten hatte er aufgehört, sich einzumischen. Er wartete stattdessen auf ein Wunder. Vielleicht musste sie selbst den Weg aus dieser Misere herausfinden.

Sein Sohn war Alkoholiker, der die staatlichen Entziehungseinrichtungen als Privathotels betrachtete. Die Mutter der Kinder hatte die Scheidung von Erlendur nie verwunden und jede Gelegenheit wahrgenommen, den Vater, nachdem er die Familie verlassen hatte, nach besten Kräften schlecht zu machen. Von Kindesalter an hatten sie ein völlig schiefes und verzerrtes Bild von ihm bekommen. Seine Ex-Frau hatte den Umgang mit seinen Kindern sabotiert, und er hatte den Kampf sehr bald aufgegeben, sie regelmäßig zu sehen.

Aber als sie älter wurden, versuchten sie von sich aus, ihren Vater kennen zu lernen, und fanden in ihm einen Kumpel und keineswegs den Schurken, den ihre Mutter aus ihm gemacht hatte. Besonders seine Tochter war ihm ans Herz gewachsen, und er hatte oft darüber nachgedacht, ob es sie von den Drogen abgehalten hätte, wenn er es länger in dieser kaputten Ehe ausgehalten hätte. Erlendur wusste ganz genau, dass er einerseits froh gewesen war, nicht die Verantwortung übernehmen zu müssen, die mit einer Familie verbunden war, und die Freiheit genießen zu können, die ihm sein Single-Dasein gewährte. Er war zu der Überzeugung gelangt, dass er kein guter Familienvater geworden wäre. Andererseits plagte ihn sein Gewissen, denn das, was seine Kinder aus ihrem Leben gemacht hatten, ging ihm nahe.

Erlendur hatte beiden einen Schlüssel zu seiner Wohnung gegeben, und als er eines Abends nach Hause kam, lag seine Tochter auf dem Sofa. Sie hieß Eva Lind, dieser furchtbare Name war ihr von ihrer Mutter verpasst worden. Erlendur hatte damals heftig dagegen protestiert, aber er konnte sich nicht durchsetzen. Das Mädchen wurde so getauft. Er hatte gewollt, dass sie Þorbjörg heißen sollte nach seiner Großmutter mütterlicherseits, die er sehr geschätzt hatte. Þorbjörg, hatte die Mutter gerufen und war außer sich gewesen. »Willst du, dass mein Kind einen so altmodischen Namen kriegt? So heißen doch nur alte Frauen!«

»Sie wird ja auch mal älter werden«, hatte Erlendur gesagt, wissend, dass es nichts bringen würde, für diesen Namen zu kämpfen. Die Ehe war damals bereits nicht mehr zu retten gewesen. Der Sohn war ein Jahr jünger als Eva Lind. Erlendur ließ sich bei seiner Taufe gar nicht erst blicken. Er erhielt den Namen Sindri Snær.

Eva Lind wurde wach, als er die Tür hinter sich schloss. Sie war zweiundzwanzig, sah aber verlebt und wesentlich älter aus, als sie war.

»Bist du da?«, fragte sie verschlafen und stützte sich auf den Ellbogen.

Erlendur machte Licht, aber sie versteckte ihr Gesicht hinter einem Kissen. Sie trug eine schwarze Lederjacke und abgewetzte Jeans. An den Füßen hatte sie das, was in Erlendurs Jugend als Bergschuhe bezeichnet wurde, dicksohlig, grob und groß wie Skistiefel.

»Stimmt etwas nicht mit dir?«, fragte Erlendur, nahm den Hut ab und zog den Mantel aus.

»Er hat mich geschlagen«, sagte Eva Lind und nahm das Kissen vom Gesicht weg. Die Oberlippe war geplatzt und dick geschwollen, das eine Auge war rot unterlaufen, und aus der Nase floss ein blutiges Rinnsal. Sie sagte, sie habe Schmerzen am ganzen Körper, denn der Freund habe fest und oft zugetreten, nicht nur am Kopf. Erlendur setzte sich zu ihr und nahm sie in den Arm.

»Warum hat er dich geschlagen?«, fragte er.

»Als ich nach Hause kam, hat ihm so eine Tussi einen abgelutscht.«

»Und?«

»Die hörte einfach nicht auf.«

»Hm.« Erlendur behielt die Ruhe, obwohl es ihm schwer fiel.

»Ich habe ihnen gesagt, dass sie sich verpissen sollen, aber er hat mich nur ausgelacht, und dann haben sie weitergemacht.«

»Damit warst du nicht einverstanden.«

»Ich habe ihr an den Kopf getreten.«

»Mit diesen Schuhen?«

»Und sie hat zugebissen, und die hat ein Gebiss wie ein Hai, ich schwör’s, die hat ne doppelte Reihe Zähne.«

»Das dürfte aber wehgetan haben.«

»Du hättest ihn brüllen hören sollen.«

»Hätte ich tatsächlich gerne.«

»Und dann hat er mich zusammengeschlagen. Er hat zugehauen und getreten wie ein Wahnsinniger und mich an den Haaren aus der Wohnung geschleift und die Treppe runtergeschmissen. Er hat rumgetobt wie ein Irrer.«

»Hast du dir nichts gebrochen?«

»Ich glaube nicht.«

»Sollten wir nicht trotzdem lieber zum Arzt?«

»Wenn du meinst.«

»Hat er dich schon früher mal geschlagen?«

»Oft. Er ist ein widerlicher Typ.«

»Wieso bist du dann mit ihm zusammen?«

»Er hat das Dope. Und manchmal kann er ganz nice sein.« »Wirst du wieder zu ihm gehen?«

»Nur, um ihn umzubringen.«

»Ich war immer der Meinung, dass du Þorbjörg heißen solltest. Eva Lind ist ein unmöglicher Name für eine Mörderin.«

Am gleichen Abend klingelte um Mitternacht das Telefon bei Sigurður Óli. Erlendur war am Apparat und sagte, es sei dringend, ob Sigurður Óli in die Hverfisgata kommen könnte. Er wollte sich nicht am Telefon darüber auslassen, warum, aber er bat seinen neuen Kollegen, sich zu beeilen. Sigurður Óli war bereits im Bett gewesen und stand fluchend wieder auf. Er wohnte in einer stilvollen Dreizimmerwohnung im Westend von Reykjavík. Er hatte sich Designermöbel zugelegt und das Appartement mit ausgewählten Pflanzen dekoriert. Die Wände waren pastell gehalten. Ihm war sehr daran gelegen, sich körperlich und geistig fit zu halten. Er hörte lieber klassische Musik als Pop, ging regelmäßig ins Solarium und Fitness-Center und sah entsprechend aus. Die seltenen Male, wenn er mit Freunden oder Kollegen ausging, wurde er von Frauen umschwärmt. Aber außer kurzen Techtelmechtel hatte er nichts Ernstes mit Frauen im Sinn. Viele seiner Bekannten hielten ihn für schwul, so braun, muskulös und so attraktiv, wie er war. Und noch dazu unverheiratet.

Er hatte sich schon immer für die Arbeit der Polizei interessiert. Nach dem Abitur studierte er zunächst Politikwissenschaften an der Universität, absolvierte dann die Polizeiausbildung und ging anschließend für eine Zeit in die USA, wo er sich auf Kriminologie spezialisierte. Er kehrte mit glänzend bestandenem Examen und intellektuellem Gesichtsausdruck zurück, wie Erlendur es nannte, einem Gesichtsausdruck auf jeden Fall, den man sonst nicht häufig bei der Polizei zu sehen bekam. Er wurde gleich zu Anfang Erlendur unterstellt, und ein ungleicheres Paar ließ sich kaum vorstellen; Erlendur mit seinem Einblick, seiner Erfahrung und seinen althergebrachten Methoden, daneben Sigurður Óli mit seinem akademischen Dünkel und seinem brennenden Ehrgeiz und dem Bestreben, alles, was er sich vornahm, hundertprozentig zu erledigen. Er war ständig darum bemüht, alles als Erster in Erfahrung zu bringen, er musste immer über alles besser und genauer Bescheid wissen als die anderen.

An diesem Abend sollte er etwas kennen lernen, worauf ihn keine Ausbildung jemals hätte vorbereiten können. Und er sah einen Mann zu Werke gehen, der womöglich zu lange im selben Beruf tätig gewesen war.

Als Sigurður Óli die Hverfisgata entlangfuhr, sah er Erlendurs Auto vor einem zweistöckigen mit Wellblech verkleideten Holzhaus stehen. Er parkte seinen Wagen dahinter, stieg aus und setzte sich zu Erlendur ins Auto.

»Kannst du irgendwann einmal mit der Arbeit Schluss machen?«

»Hm, ich bin mir nicht so sicher, ob man das hier direkt als Arbeit bezeichnen kann«, erwiderte Erlendur.

»Als was denn sonst?«

»Ich spiele hier so eine Art Leibwächter, denke ich mal. Du brauchst kein Wort zu sagen, stell dich nur irgendwohin und versuch, wichtig auszusehen. Das fällt dir ja nicht schwer. Hier wohnt ein Typ, mit dem ich ein Wörtchen zu reden habe. Er hat meine Tochter schlecht behandelt, und ich will nur sichergehen, dass er weiß, dass ihn jemand im Blick hat. Ich weiß bloß nicht, ob ich allein mit ihm fertig werde. Falls nicht, greifst du ein.«

»Was meinst du damit, dass er deine Tochter schlecht behandelt hat?«, fragte Sigurður Óli völlig entgeistert über das, was Erlendur ihm gesagt hatte, und die Tatsache, dass er hier offensichtlich in etwas hineingezogen wurde, das eine Privatangelegenheit seines Kollegen war.

»Du kannst mir vertrauen. Wirst du das für mich tun?«

»Ist er allein da drin?«

»Das habe ich überprüft.«

»Dann los.« Sigurður Óli wusste zwar, dass er stattdessen besser wieder nach Hause gefahren wäre, aber seine Neugierde ließ ihn mitmachen. Nichts Menschliches war ihm fremd. Nichts.

Sie stiegen aus dem Auto und gingen ein paar Stufen hinauf. Die Tür war nicht verschlossen und vorsichtig betraten sie eine kleine, verdreckte Behausung, in der es nach Abfällen stank. Die Wände waren dunkelblau gestrichen, von der Decke baumelte eine nackte Glühbirne herunter, in deren Licht man eine Kochgelegenheit und einen Futon erkennen konnte. Außerdem gab es noch ein Klo. Das war alles. Auf dem Futon schlief ein Mann um die dreißig. Es war kalt in der Wohnung, und der Mann lag ohne Hose auf dem Oberbett, ansonsten war er angezogen. Den Fußboden konnte man vor lauter Unrat nicht sehen, größtenteils leere Verpackungen von irgendwelchen Fertiggerichten und säuerlich stinkenden verdorbenen Milchprodukten. Sigurður Óli glaubte zu sehen, dass der Mann einen Verband im Schritt trug. Laute Musik drang aus zwei großen Boxen. Sie gingen zumindest davon aus, dass es Musik sein sollte, es hätte aber genauso ein Mitschnitt von einem Verkehrsunfall sein können. Erlendur brachte das Gerät zum Schweigen, indem er den CD-Player aufhob und zur Tür hinausschleuderte. Der Mann rührte sich nicht. Jetzt war es still in der Wohnung, und sie hörten nur noch vereinzelt das eine oder andere Auto, das die Hverfisgata entlangfuhr. Erlendur versetzte dem Mann auf dem Futon einen Tritt in den Bauch, der daraufhin ein Lebenszeichen von sich gab. Sigurður Óli bezog Position an der Tür.

»Bist du Magni?«, fragte Erlendur den Mann. Er war so mager, dass sich jeder einzelne Knochen abzeichnete. Er hatte schwarze, schulterlange Haare; schwarze, mickrige Bartstoppeln rahmten das Gesicht ein. Seine großen, vorspringenden Zähne erinnerten Erlendur an eine Ratte, als er auf ihn hinuntersah.

»Und wer bist du, du Scheißkerl?«, fragte er stöhnend, als er wieder zu Atem gekommen war, und starrte zu Erlendur hoch.

»Ich wollte mir mal die Mühe machen, den großen Frauenhelden ansehen zu kommen. Casanova in eigener Person. Und das kann ich dir sagen, das hat sich in der Tat gelohnt.«

»Casa was?«, fragte das Gerippe.

»Dir macht’s wohl Spaß, Mädchen zu prügeln?«

»Hä?«

»Ich meine, geilst du dich da dran auf, du weißt schon, sexuell und so? Du findest das wohl geil?«

Erlendur hielt die linke Hand hinter dem Rücken angewinkelt, hatte den rechten Fuß etwas vorgesetzt und wartete ruhig ab. Sigurður Óli stand an der Tür und bereute es, seinem Kollegen gefolgt zu sein.

»Leck dich doch am Arsch, Opa«, sagte Magni und war aufgestanden.

»Auch noch rhetorisch beschlagen«, sagte Erlendur. »Ein Casanova, der sich gewählt ausdrückt und sich daran aufgeilt, Mädchen zu verprügeln.«

»Weißt du, was sie über dich sagt, du dämlicher Bulle?«, sagte Magni, der jetzt kapiert hatte, wer seine Gäste waren. Er ging auf Erlendur zu. Er stank aus allen Löchern.

»Sie spricht immer nur von diesem ›miesen Typen‹. Du bist ein mieser Typ. Das hat sie von ihrer Alten. Und du kannst Eva ausrichten, dass ich sie das nächste Mal, wenn sie mir über den Weg läuft, massakriere, zack«, erklärte Magni und schnipste vor Erlendurs Nase mit den Fingern.

»Du massakrierst mir niemanden, Casanova«, entgegnete Erlendur gelassen. »So ein reizender junger Mann wie du, und so eine reizende Wohnung. Ich glaube, einen besseren Schwiegersohn als unseren Casanova hier kann man sich kaum wünschen«, sagte er und drehte sich zu Sigurður Óli in der Tür.

»Tut’s dir vielleicht ein bisschen weh da unten, Herzchen?«, fragte Erlendur und blickte an dem Gerippe herunter. Magni hatte einen weißen Verband im Schritt.

Magni verlor die Beherrschung und holte zum Schlag aus. Erlendur sah das aus den Augenwinkeln. Er war um die fünfzig und ziemlich massiv, aber nicht dick. Er war durchtrainiert, und seine Fäuste waren enorm. Er hatte eine Zeit lang erfolgreich geboxt, obwohl die Sportart in Island verboten war, aber da er sich gut in Form gehalten hatte, war er immer noch reaktionssschnell. Der Hieb kam blitzschnell und unerwartet. Erlendur war Linkshänder. Er setzte Magni mit der Linken einen Volltreffer ans Kinn und im nächsten Zug mit der rechten Hand einen an die Schläfe. Magni hatte keine Chance, auszuweichen, er ging zu Boden, und man hörte ein Knacken, als der Kiefer brach. Erlendur machte Anstalten, auf den Bewusstlosen einzutreten.

»Bist du übergeschnappt, Mann«, ächzte Sigurðu Óli und hielt ihn zurück.

»Er wollte angreifen«, sagte Erlendur und trat einen Schritt zurück. Er wirkte genauso gelassen wie zuvor.

Sie beugten sich über Magni und betrachteten ihn, wie er da bewusstlos auf dem Futon lag. Es verging eine ganze Weile, bis Erlendur sein Handy nahm und einen Krankenwagen herbeiorderte. Sie standen schweigend da und schauten auf die jämmerliche Gestalt auf dem Boden. Sigurður Óli bückte sich und stellte zu seiner großen Erleichterung fest, dass der Mann zumindest noch am Leben war.

»Was zum Teufel hast du dir eigentlich dabei gedacht?«

»Na, der wollte doch auf mich losgehen. Sollte ich ihn vielleicht einfach über mich herfallen lassen?«

»Du hast ihn absichtlich provoziert. Du wolltest, dass er dich angreift. Deswegen sind wir hier, und aus keinem anderen Grund.«

»Er hat Eva übel behandelt, und ich wollte sehen, was für ein Mensch das ist. Eva ist eine Zeit lang mit ihm zusammen gewesen, und sie kam heute Abend zu mir, nachdem der Kerl sie blutig geschlagen hatte. Ich wollte mich mit ihm darüber unterhalten, aber er hat mich angegriffen. Ich bin gegen Gewaltanwendung.«

»Weil er deine Tochter geschlagen hat, willst du ihn am liebsten umlegen? Das ist verdammt primitiv.«

»Primitiv! Mensch, komm mir bloß nicht damit und setz dich nicht aufs hohe Ross. An meiner Stelle hättest du genau das Gleiche getan. Ich habe mir mal die Akte von dem Kerl angeschaut, und das solltest du auch tun. Er ist als Gewalttäter bekannt – und als Dealer, und vergewaltigt hat er auch schon. Eigentlich müsste er im Knast sein, aber es liegen zu wenig Anklagen gegen ihn vor. Es lohnt sich erst, den Kerl vor den Kadi zu bringen, wenn noch mehr Straftaten vorliegen, und selbst dann verknacken diese Saftsäcke von Richtern ihn nur auf Bewährung, er sitzt ein paar Monate ein und macht dann weiter, als ob nichts vorgefallen wäre.«

»Glaubst du etwa, dass so was hier ihn davon abbringt?«

»Ich weiß nicht, was solche Kerle davon abbringt. Ich habe keine Ahnung. Aber ich weiß, dass wir nicht endlos zulassen können, dass sie sich so benehmen, als existierten wir überhaupt nicht.«

»Und warum bin ich hier?«

»Das ist ein hartgesottener Typ. Du bist Zeuge, dass er auf mich losgehen wollte.«

»Und was, wenn ich die Wahrheit sage? Das heißt, wenn sie nicht selber darauf kommen. Es liegt doch auf der Hand, dass du persönlich involviert bist.«

»Was ist hier die Wahrheit?«, schrie Erlendur und ließ zum ersten Mal die Wut heraus, die in ihm kochte. »Über was für eine Wahrheit schwafelst du da? Bei mir zu Hause liegt die Wahrheit blau und zerschunden auf dem Sofa, und zwar wegen dieses Mannes. Komm mir bloß nicht mit irgendeiner Wahrheit. Falls du sie bei irgendwelchen Seminaren in Amerika entdeckt hast – herzlichen Glückwunsch.«

»Verdammt noch mal, warum ziehst du mich in deine Privatangelegenheiten rein?«, brüllte Sigurður Óli zurück, der sich von Erlendurs Worten getroffen fühlte. »Ich bin eben anders als du. Ich bin nicht in demselben Mistjob mein ganzes Leben lang vergammelt, und das habe ich auch in Zukunft nicht vor zu tun. Du siehst ja, was aus dir geworden ist. Du bist auch nicht besser als diese Jammergestalt da. Und dann besitzt du die Unverschämtheit, mich in deinen miesen Racheakt hineinzuziehen. Das lasse ich mir nicht gefallen, das lasse ich mir unter gar keinen Umständen gefallen!«

»Racheakt! Der Kerl ist auf mich losgegangen«, schnaubte Erlendur.

Sie verließen die Wohnung und hörten in der Ferne eine Sirene. Ein junges Mädchen mit schwarz umrandeten Augen und knallrotem, ziemlich verschmiertem Lippenstift auf geschwollenen Lippen, kam in diesem Augenblick hinzu und wollte in das Haus, aber sie ließen sie nicht herein und empfahlen ihr, sich hier nie wieder blicken zu lassen.

»Hast du das Gebiss gesehen?«, fragte Sigurður Óli.

»Wie ein Hai«, sagte Erlendur.

Sigurður Óli kam nie wieder auf diese Szene zu sprechen. Erlendurs Tochter lag eine Woche im Krankenhaus, aber danach verging noch nicht einmal eine Woche, bevor sie wieder in der Gosse landete. Magni verbrachte etwas längere Zeit im Krankenhaus, und sein Fall wurde von den Justizbehörden vorrangig behandelt, weil man in seiner Wohnung jede Menge Drogen gefunden hatte. Er wurde in einem Aufwasch für diverse andere Straftaten verurteilt und bekam drei Jahre, davon eins auf Bewährung. Er saß ein knappes Jahr ein, und kaum war er entlassen, machte er wie gewohnt weiter, bis er urplötzlich verschwand, und seitdem hatte man nichts mehr von ihm gehört. Das erregte einige Aufmerksamkeit in der Regenbogenpresse, die angeblich Informationen über eine Abrechnung in der Rauschgiftszene hatte: Magni sei ermordet und seine Leiche ins Meer geworfen worden. Erlendur beteuerte hoch und heilig, dass er nichts mit Magnis Verschwinden zu tun hatte, aber Sigurður Óli war keineswegs überzeugt. Magni hatte nie Anzeige gegen Erlendur erstattet, der aber trotzdem einen Verweis wegen eines brutalen Angriffs auf den umsatzstärksten Dealer in Reykjavík erhielt. Erlendur erklärte, in Notwehr gehandelt zu haben. Sigurður Óli stützte Erlendurs Aussage voll und ganz: Magni hatte zuerst angegriffen. Beim Verhör schwieg Magni sich über seine Verbindung zu Eva Lind aus. Sie kam nie zur Sprache.

Sigurður Óli musste oft an diesen Abend denken. Seine erste wirkliche Begegnung mit Erlendur war weiß Gott nicht gerade erhebend gewesen. Im Lauf der Zeit lernte er aber, Erlendurs Erfahrung und Menschenkenntnis zu schätzen, aber er lernte nicht, Erlendur als Mensch zu schätzen. Das war etwas, was sich von selbst entwickeln musste. So etwas lernt man nicht.