Vierundzwanzig

Sigmar wurde am späten Nachmittag aufs Neue in den Verhörraum geführt, und Erlendur und Sigurður Óli nahmen ihm gegenüber Platz. Eine ganze Zeit lang hatte es den Anschein, als würde kein Wort aus ihm herauszubringen sein, aber zum Schluss schien er doch das Bedürfnis zu haben, über seine Klasse und seine Jugend zu sprechen. Er wirkte sehr viel ruhiger als am Morgen. Er erzählte davon, wie der, den sie immer Kiddi Kolke genannt hatten, das Auge verloren hatte, von seinem Stadtviertel und von seinen Freunden und von den alten Zeiten, die er so vermisste, von der Zeit, bevor alles so grauenvoll wurde.

»Das war in dem Winter, als uns dieses Gift eingetrichtert wurde. Danni und die anderen Jungs kamen, um mich abzuholen, der kleine Pálmi war auch mit dabei. Danni passte nachmittags immer auf ihn auf und nahm ihn in seiner kleinen Karre überallhin mit. Kiddi Kolke war dabei und unsere Freunde Aggi und Skari Skandal. Und Gísli. Aggi hatte unheimlich vorstehende Zähne und sah echt komisch aus, aber er war auch sonst ein lustiger Typ. Skari war einer seiner besten Freunde. Niemand wusste, woher er diesen Spitznamen hatte. Er kam vom Land. Ich gehörte auch zu der Clique, und meistens haben wir uns in unserem Viertel herumgetrieben, aber immer mit der Absicht, danach in den Keller zu gehen. Das war nämlich unser Geheimversteck. Es war der Keller unter dem Gemeindehaus. Manchmal klauten wir was in den Läden, und einmal haben Kiddi Kolke und Skari einer alten Frau im Hlíðar-Viertel die Tasche weggerissen, das hat gerade mal zwei Hundertkronenscheine eingebracht. Wir waren eben Stümper und Versager auf der ganzen Linie und haben alles getan, um diese Erwartungen zu erfüllen.

Der Keller war noch im Rohbau und aus dem Stahlbeton der Wände standen die Eisenstangen hervor. Der Boden war uneben, und da unten war es eigentlich kalt und ungemütlich, aber uns war das scheißegal. Wir fühlten uns dort jedenfalls sauwohl. Wir sammelten Kerzenstummel, die ein bisschen Helligkeit und Wärme ausstrahlten. Pálmi steckte in einem Lammfellsack und wurde an die Wand gelehnt, und wir haben uns hingehockt und gequasselt. Wir waren Freunde.«

Sigmar machte eine Pause.

»Heutzutage ist in dem Viertel, verglichen mit früher, überhaupt nichts mehr los«, fuhr er dann fort. »Manchmal geh ich hin und seh mich um, aber da spielt jetzt kein einziges Kind mehr auf der Straße. Früher waren da unheimlich viele Leute, Dutzende von Kindern, die aber in der Erinnerung vielleicht manchmal zu Hunderten werden.«

Sigmar erzählte ihnen von ihren Spielen und ihren blutigen Kämpfen, die bis in die Nacht hinein dauerten.

»Zwischen den unterschiedlichen Stadtvierteln herrschte regelrecht Krieg, und in unserer Straße waren wir angeblich die wildesten und frechsten Lümmel, vor denen die Kinder aus den anderen Straßen Angst hatten. Die haben es nach besten Kräften vermieden, uns zu reizen. Es gab regelrechte Schlachten um die Vorrangstellung auf Spielplätzen und Fußballplätzen oder auf den Schlittenbahnen. Alle Mittel waren erlaubt, und oft wurde mit gefährlichen Waffen gekämpft, die wir uns aus dem Zeug zusammenbastelten, das wir in den Neubaugebieten fanden. Pfeil und Bogen machten wir uns irgendwie aus dem Plastik für die Stromkabel, und wir bekamen auch ganz ordentliche Schwerter, Schilde und Lanzen hin. Im schlimmsten Fall endeten die Kämpfe damit, dass wir uns mit Steinen beworfen haben und es zu richtigen Verletzungen kam. Hin und wieder wurden sogar die Bullen gerufen, wenn wir blutend nach Hause kamen. Aber wenn Trupps oder Banden aus anderen Vierteln sich blicken ließen, scharten sich alle Jungs aus unserer Straße zusammen. Wir nahmen den Kampf mit denen auf und versuchten sie zu verjagen. Und egal, ob Sommer oder Winter, es kam immer wieder zu neuen Gefechten mit Kampfgebrüll und Kriegsgeschrei.

Danni und ich und all die anderen aus der Klasse hatten einen Riesenspaß an diesen Schlachten, und wir trainierten extra dafür«, erklärte Sigmar und sah Erlendur und Sigurður Óli an. »Wir haben uns richtige Waffenlager angelegt und ganze Szenen aus irgendwelchen Filmen nachgespielt. Manchmal erzählten wir uns auch Horrorgeschichten von irgendwelchen Halbstarken, von denen wir gehört hatten, dass sie sich jüngere Kinder schnappten, um sie zu quälen und zu schikanieren. Es waren viele solche Gerüchte in unserem Viertel in Umlauf, aber das meiste war wahrscheinlich erfunden. Aber die Geschichte von Kiddi Kolke war nicht erfunden. Sie war echt wahr, und machte immer wieder die Runde, wenn Kinder sich trafen und sich grausame und brutale Geschichten erzählten. Sie wurde mit der Zeit immer bösartiger und brutaler, aber der Kern ist immer derselbe geblieben. Manchmal kriege ich sie auch heute noch zu hören.«

Sigmar starrte eine Weile vor sich hin. Erlendur und Sigurður Óli warteten schweigend, bis er fortfuhr:

»Wir haben oft darüber geredet, was für ein Unglücksrabe Kiddi Kolke war. Den Namen bekam er, nachdem er zu Hause bei sich im Garten einen richtigen Kolkraben abgemurkst hatte. Er war immer ein Pechvogel, er kam unters Auto oder verknackste sich den Arm. Oder er fiel beim Schliddern hin und brach sich das Schlüsselbein. Wenn wir in den Läden was mitgehen ließen, wurde immer er erwischt. Einmal haben wir ein frisch angestrichenes Haus mit Matsch und Dreckklumpen beworfen, sodass es kaum noch wiederzuerkennen war. Kiddi war der Einzige, der geschnappt wurde, als der Besitzer aus dem Haus gerannt kam. Mit seinen Gummigaloschen kam Kiddi in dem Matsch nicht von der Stelle, und das Schlimmste war dann, dass diese blöden Galoschen in der Pampe steckenblieben, und dafür setzte es eine Tracht Prügel, als er nach Hause kam. Da war irgendwas mit ihm, er war ein Unglücksrabe.

Einmal saßen wir da unten in unserem Keller um die Kerzen herum und mampften Cornflakes, die wir geklaut hatten. Gísli moserte rum wegen der Spritze, mit der uns die Krankenschwester am Tag zuvor das Blut abgezapft hatte. Gísli krempelte den Ärmel hoch und zeigte uns den großen blauen Fleck in der Armbeuge. ›Das tut verdammt weh, wenn diese Alte zusticht‹, sagte er. ›Der knall ich eine, wenn sie mir beim nächsten Mal wieder so wehtut.‹ ›Du willst ihr wirklich eine scheuern?‹, fragte Aggi mit vollem Mund. Kiddi Kolke fand auch, dass diese Nadeln eklig wären, und Danni meinte, dass diese Tussis nie einen Ton sagen würden, sie würden bloß zustechen und einen dann wieder rausschicken. Aggi behauptete, sie würden unser Blut trinken, das seien bestimmt Vampire. Und dann hörten wir plötzlich Schritte über uns, die sich der Kellerluke näherten, und sahen sechs oder sieben ältere Jugendliche die Treppe runterkommen. Im Schein der Kerzen kamen sie langsam auf uns zu, wir hatten sie vorher noch nie gesehen. Sie mussten aus einem ganz anderen Stadtteil kommen. Ihr Anführer hatte eine schwarze Hose und eine schwarze Lederjacke an. Die waren ungefähr fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, und wir hatten eine Scheißangst. Ein Mädchen war auch dabei, sie kam zuletzt nach unten, und wir starrten sie an. Sie hielt eine tote schwarze Katze am Schwanz gepackt und schlenkerte sie herum, und der Kopf von dem Tier war ganz zermatscht und blutig.«

Sigmar schien sich nicht mehr in dem Verhörraum, sondern wieder in jenem Keller zu befinden.

»›Was denn, was denn‹, sagte der Anführer. ›Findet hier das Nähkränzchen vom Kindergarten statt? Mannomann, und dann noch geklaute Cornflakes, wow!‹

Seine Kumpels kriegten sich vor Lachen nicht wieder ein. ›Und was für hübsche Kerzen‹, sagte er. ›Vielleicht seid ihr ja alle schwul, und das ist hier ist so eine richtig dufte Schwulenparty.‹

Die Bande wieherte vor Lachen.

›Das hier ist unser Geheimversteck‹, erklärte Kiddi Kolke, und wir standen alle auf. ›Verpisst euch‹, sagte er. Sie schauten die ganze Zeit das Mädchen mit der Katze an, die sah echt brutal aus, wie sie da so kaltschnäuzig die tote Katze hielt, als ginge sie das Ganze überhaupt nichts an.

›Das wär ja noch schöner. Los, her mit den Cornflakes‹, sagte der Anführer.

›Wenn euch dieser Keller gehört‹, sagte ein anderer, ›dann seid ihr womöglich stinkreich.‹

Sie waren mindestens einen Kopf größer als wir und viel kräftiger, mit denen konnten wir es nicht aufnehmen. Und sie waren bewaffnet. Mit selbst gebastelten Bögen und Pfeilen und Knüppeln. Deren Pfeile waren aus Holz geschnitzt und messerscharf. Das waren primitive Waffen, aber sie konnten uns gemeingefährlich sein.

›Warum stehst du nicht auch auf?‹, fragte das Mädchen Aggi, der als Einziger noch auf dem Boden saß. Sie machte urplötzlich einen Satz auf ihn zu und trat ihm voll ins Gesicht. Aggi fiel um und knallte mit dem Kopf auf den Betonfußboden. Das Blut schoss ihm nur so aus dem Mund heraus, und der eine Vorderzahn flog in die Ecke.

›Haut gefälligst ab!‹, schrie Skari Skandal die Truppe an. Daníel hielt Pálmi fest bei der Hand. Die Typen rührten sich nicht vom Fleck.

›Verpisst euch!‹

Aggi lag blutend auf dem Boden und rührte sich nicht.

›Wir sind zufälligerweise auf der Suche nach geeigneten Räumen zum Trainieren‹, sagte der Anführer. ›Uns fehlt aber noch was, wo wir drauf zielen können. Die Katze war prima als Zielscheibe, aber sie krepierte nicht ganz so, wie wir wollten.‹ Das Mädchen grinste. Der Anführer trat dicht an Kiddi Kolke heran, der aber nicht zurückwich.

›Wie wär’s, dich an die Wand zu hängen, du hässlicher Pimpf? Mal sehen, ob wir es nicht schaffen, deine Visage zu treffen‹, erklärte er, und er und zwei andere packten Kiddi. Die anderen verhinderten, dass wir ihm zu Hilfe kommen konnten. Kiddi Kolke kämpfte, aber sie überwältigten ihn und banden ihn mit den Händen über dem Kopf und gespreizten Beinen an den rostigen Eisenstangen fest. Das Mädchen ging hin und fuchtelte mit der Katze vor ihm herum. Dann stellten sie sich auf und spannten ihre Bögen. Sie wollten Kiddi allen Ernstes als Zielscheibe benutzen.

›Wie sieht’s denn aus, ihr lieben Kleinen, habt ihr schon mal probiert zu vögeln?‹, fragte der Anführer und zielte in den Schritt von Kiddi Kolke. Der Pfeil zischte los, Kiddi schrie und wir Jungs mit ihm. Das Geschoss ging haarscharf an seinem Oberschenkel vorbei und zerbrach an der Wand.

›Jetzt reicht’s aber, ihr Arschlöcher‹, rief Daníel. Pálmi hatte angefangen zu weinen.

›Lasst uns in Ruhe! Ihr bringt ihn ja um!‹, schrien wir und versuchten zu kämpfen, aber gegen diese feindliche Truppe konnten wir nichts ausrichten, wir hatten keine Chance. Aggi lag noch immer mit blutüberströmtem Gesicht am Boden. Ein zweiter Junge stellte sich auf und zielte auf Kiddi Kolke. Der Pfeil zischte los und landete knapp oberhalb von Kiddis Schulter an der Wand. Kiddi hing an den Eisenstangen und brüllte entsetzlich.

Der dritte ging in Position. Er spielte mit dem gespannten Bogen. Das war ein Täuschungsmanöver, um nicht zu verraten, worauf er zielte. Wir blickten gebannt auf die Pfeilspitze in seiner Faust, die er kreisen ließ − nach oben, unten, links und rechts. Kiddi hatte aufgehört zu brüllen und starrte auf sein Gegenüber. Er hatte sich die Handgelenke an den rostigen Stangen blutig gescheuert. Wir waren ebenfalls verstummt. Der Junge hörte auf, den Bogen kreisen zu lassen, zielte kurz und schoss. Man hörte den Pfeil zischen, bevor er Kiddi traf. Der Pfeil war direkt aufs Gesicht gerichtet worden, aber bevor er auftraf, gelang es Kiddi, sich zu drehen und den Kopf ein wenig anzuheben; der Pfeil streifte die Nase und ging von da ins rechte Auge, wo er stecken blieb.

Das Gebrüll, das Kiddi ausstieß, schien endlich zu bewirken, dass die Bande zur Besinnung kam. Die Typen erschraken sichtlich, glotzten sich an und machten sich aus dem Staub. Das Mädchen ließ die Katze fallen, und mit einem Mal war die Bande wie vom Erdboden verschluckt. Kiddi hing ohnmächtig an der Wand. Als er das Bewusstsein verlor, sank der Kopf auf die Brust herunter, der Pfeil lockerte sich und fiel runter. So hat er sein Auge verloren«, sagte Sigmar und starrte vor sich hin. »Sie haben es ihm rausgeschossen, und wir konnten nichts dagegen tun.«

Erlendur und Sigurður Óli saßen schweigend da und blickten Sigmar an. Kein Wort wurde gesprochen.