Vierzig
Die Aale im Rhein.
Sævar Kreutz dachte oft an die Aale im Rhein.
Das war vor ein paar Jahren passiert. Er und andere Führungskräfte des Kreutz-Konzerns waren gerade vom Lachsangeln in Island wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Er hatte dazu eingeladen, und erwartungsgemäß ließen sich die Gäste von der Insel und ihrer Geschichte faszinieren. Deutsche hatten generell großes Interesse an Island, seiner Kultur und Literatur und diesem nordischen Völkchen, das sich da angeblich im Nordatlantik gehalten hatte. Er zeigte ihnen abgelegene Orte in Westisland, wo man möglicherweise geeignetes Bauland für den Konzern finden könnte. Später nahmen die deutschen Partner aber wieder Abstand von dem Gedanken, in Island zu bauen. Zumindest nicht im Augenblick.
Kurz nachdem sie wieder in Deutschland waren, kamen die ersten Nachrichten von den Aalen im Rhein, und ausgerechnet bei der Loreley, dachte Sævar Kreutz. Die industrielle Verschmutzung des Flusses hatte damals so überhand genommen, dass die Aale an Land gingen, um Sauerstoff zu bekommen. Sie hielten es nicht länger in der ekelhaften Dreckbrühe mit all den Giftstoffen der Industrie aus. In dem historisch bedeutenden und schönen Strom war alles Leben abgestorben. Kranke und tote Fische trieben an Land. Die Aale hielten sich am Leben, indem sie sich Sauerstoff aus der Luft holten, sie kamen aus dem Wasser, um zu atmen.
Widernatürlich, dachte Sævar Kreutz und streichelte dem Jungen über den Kopf. Er hatte ein ganz spezielles Interesse an Nachrichten über abweichendes Tierverhalten, das auf den Umgang des Menschen mit der Natur zurückzuführen war. Fasziniert las er Meldungen über Schildkröten, die auf den Galapagosinseln an Land gingen, um ihre Eier abzulegen, aber statt wieder ins Meer zurückzukehren, krochen sie weiter ins Land, wo sie den Angriffen der Vögel ausgesetzt waren; er las über Hyänen in Afrika, die in menschliche Siedlungen einfielen; er las über Singschwäne in Island, die Schafe angriffen und töteten. Solche Nachrichten sammelte er. Sævar Kreutz saß in seinem Arbeitszimmer und der ältere Junge stand neben ihm. Der jüngere spielte vor ihnen auf dem Fußboden. Auf Island fühlte er sich wohl mit ihnen, und er nahm sie mit dorthin, wann immer sich die Möglichkeit bot. Es konnte riskant sein, mit ihnen zu reisen, vor allem mit dem älteren, aber er ließ sich nicht dadurch abschrecken. In Island waren sie zu Hause. Eines Tages würde er ihnen sagen, wie alles zusammenhing. Aber die Zeit war noch nicht reif dafür. Noch nicht. Sie würden es in absehbarer Zeit zu wissen bekommen, und er fürchtete sich nicht vor ihrer Reaktion. Er fürchtete sich nicht vor der Zukunft oder vor dem Urteil der Geschichte. Er freute sich darauf, von seinen Großtaten berichten zu können.
Sævar Kreutz widerstrebte es, die Jungen zur Schau zu stellen, und ihm war nicht wohl bei dem Gedanken an den Besuch der Koreaner. Doch von Anfang an hatte er vorgehabt, gemeinsam mit den deutschen Partnern ins Geschäft zu kommen, und jetzt würde er keinen Rückzieher mehr machen können. Dazu gab es auch gar keinen Grund. Die Welt würde zwar eine Weile dazu brauchen, um diesen Beitrag zur Wissenschaft würdigen zu können, aber er war davon überzeugt, dass er mit der Zeit als Revolution ohnegleichen gefeiert werden würde.
Er würde Vorkehrungen treffen müssen, um unter Umständen Hals über Kopf mit den Jungen das Land verlassen zu können. Die Polizei war bei ihren Nachforschungen auf ihn gestoßen, und wahrscheinlich war es nur noch eine Frage der Zeit, wann sie nach Kjalarnes kamen. Bevor es dazu kam, musste er bereits außer Landes sein. Vielleicht würde er nie wieder nach Island zurückkehren. Damit musste man sich abfinden. Er betrachtete sich kaum noch als Isländer, falls er denn überhaupt je einer gewesen war. Das Land fand er schön und seine Geschichte bedeutsam, aber die Menschen waren nicht nach seinem Geschmack.
»Sie verstehen so etwas nicht«, sagte er laut zu sich selber, »diese einfältigen Provinzler, die sich einbilden, die Welt zu kennen.« Sævar Kreutz bereute nichts von dem, was er gemacht hatte, als er seine Experimente mit Medikamenten durchführte. Er hatte sich nie die Schuld daran gegeben, wie es den Jungen in der Víðigerði-Schule ergangen war. Was er getan hatte, war zum Wohle der Allgemeinheit. Falls es Opfer gekostet hatte, war daran nichts zu ändern. Was war nicht alles im Interesse der Wissenschaften geopfert worden?
Sein Vater hätte das nie verstanden. Ein drittklassiger Pharmazeut, dem ein blühendes Unternehmen und profitable Verbindungen zum deutschen Konzern überantwortet wurden, das auf dieser kleinen Insel zu einer Großmacht hätte werden können. Das hatte er wegen irgendwelcher Lügenmärchen verscherzt. Er war so klein wie das Land, ein Kleingeist, der die Verbindung zum Kreutz-Konzern abbrach, weil da diese Verleumdungen aufkamen, dass es Verbindungen zu den Menschenversuchen in den Arbeitslagern der Nazis gab, die in den Zeitungen aufgebauscht wurden. Sein Vater hatte ihm verboten, die Kontakte zur deutschen Familie Kreutz aufrechtzuerhalten. Er, der den Sohn und die Tochter in den Schoß der Familie zurückgeführt hatte, damit sie ihre Ausbildung in Deutschland und im Familienunternehmen erhielten. Es hatte heftige Auseinandersetzungen zwischen ihnen gegeben. Sævar Kreutz war nicht bereit, die Verbindungen abzubrechen, im Gegenteil, er hatte vor, sie zu intensivieren. Rannveig hatte versucht zu vermitteln, die gute Rannveig. Er wäre gern bei ihr gewesen, als sie starb. Er hätte bei der Beerdigung sein wollen. Auch sie hatte kein Verständnis für ihn. Er hatte versucht, ihr klar zu machen, was er sich vorgenommen hatte, weswegen er so fest daran glaubte, dass alles, was er tat, richtig war; es ging nur um die selbstverständliche Fortführung unerhört wichtiger wissenschaftlicher Entdeckungen, die im zwanzigsten Jahrhundert gemacht worden waren. Der Kreutz-Konzern hatte diesen Schritt gewagt, den Schritt in die Zukunft. Er selbst hatte Anteil daran, die Zukunft zu gestalten.
Diese unzusammenhängenden Gedanken gingen Sævar Kreutz wie in einer Rückblende durch den Kopf. Ansonsten machte er sich selten Gedanken über sein Privatleben, seine Karriere, seine Familie, das alles bedeutete ihm nichts. Das Einzige, was für ihn eine Rolle spielte, waren die neuen Wissenschaften. Er saß bei dem Jungen und ging im Geiste alles wieder und wieder durch, und stets kam er zu demselben unumstößlichen Ergebnis: Ihm war eine enorm wichtige Aufgabe zugedacht, eine Aufgabe von historischen Dimensionen. Die Natur selbst war am Werk, Gott war sein Zeuge, ja, und sein Leitstern. Sævar Kreutz erinnerte sich an die Worte seiner Schwester. Sie hatte gesagt, er sei abnormal. Das war das Wort, das sie verwendet hatte.
Abnormal.
Sævar Kreutz umarmte den Jungen. Er liebte niemanden mehr als diesen Jungen.
Du bist nicht abnormal, dachte er in der Sprache seiner Vorväter.