Einunddreißig
Da Dagný auch nicht den entsprechenden Kassettenrekorder besaß, musste Pálmi in die Stadt und sich selbst einen kaufen, in den diese winzigen Kassetten passten. Er versuchte, sich mit Erlendur in Verbindung zu setzen, um ihm von dem nächtlichen Überfall zu erzählen, aber ihm wurde gesagt, dass Erlendur in einer wichtigen Besprechung sei und nicht gestört werden dürfe. Pálmi hatte keine Lust, zu sagen, dass es dringend sei. Er schwebte ja nicht in Lebensgefahr.
In seiner Wohnung herrschten nach dem nächtlichen Überfall allerdings chaotische Zustände. Der Einbrecher hatte unter anderem den ganzen Schreibtisch geleert, ohne allerdings etwas zu finden. Von Jónas Hallgrímsson, der die Kassetten sorgfältig verwahrte, hatte er keine Notiz genommen.
Die Studentin der Literaturwissenschaft ließ sich problemlos noch einmal dazu bewegen, den ganzen Tag im Antiquariat zu übernehmen. Er ging in ein Elektrogeschäft und kaufte einen Kassettenrekorder. Da Pálmi ausschließlich öffentliche Verkehrsmittel benutzte, nahm das einige Zeit in Anspruch. Er kam erst kurz nach Mittag wieder nach Hause und begann gleich mit dem Abhören der Kassetten, indem er die erste in das Gerät einlegte und auf ›Play‹ drückte.
Auf den Kassetten befanden sich keine zusätzlichen Erklärungen von Halldór, sondern nur die Gespräche mit Daníel in der Klinik, kurz bevor Halldór ermordet wurde. Halldór hatte bei seinen Besuchen alles aufgenommen. Sie sprachen seltsam leise und langsam, und manchmal schwiegen sie so lange, dass Pálmi befürchtete, das Gerät sei nicht in Ordnung. Aber dann ging es doch weiter. Zwei Männer im Gespräch miteinander, kurz bevor sie starben.
HALLDÓR: … und ich habe bei diesem mürrischen Fotografen schöne Rahmen für die Bilder gekauft und sie bei mir zu Hause aufgehängt. Ich war immer so gespannt darauf, ein neues Klassenfoto zu bekommen. Das gab mir Beschäftigung, und ich spürte erneut das Glück, den Werdegang meiner Kinder vom ersten Schultag an bis zur Entlassung mitverfolgen zu können. Unter meinen Augen sind sie aufgewachsen und haben sich prächtig entwickelt, ich habe sie meine Blumen genannt. Jede Klasse hat eine eigene Reihe bei mir an der Wand, und ich lasse den Bildern meine ganze Fürsorge angedeihen. Ich schaue sie mir von Zeit zu Zeit an und sehe, wie viel sich im Laufe der Zeit verändert hat. Man kann viel aus einem Klassenfoto herauslesen, Daníel, sehr, sehr viel. Auf den Bildern stehen die großen Jungen in der hintersten Reihe und die kleineren in der Mitte. Die Mädchen saßen immer auf dem Boden. Meiner Meinung nach kommt die Geschlechterdiskriminierung, wie sie damals herrschte, nirgends besser zum Ausdruck als auf diesen alten Klassenfotos. Seitdem hat sich natürlich einiges geändert. Heute geht es nicht mehr so ordentlich zu. Und diese Kinder sehe ich nie wieder. Sie gehen hinaus ins Leben und verschwinden aus meinem Gesichtskreis. Aber ich bewahre ihre Jugend auf, die bleibt bei mir.
Vor vielen, vielen Jahren habe ich mir einmal an einem Freitagabend die Bilder angeschaut. Ich hatte schon etwas getrunken, das mache ich immer, weil es hilft, dieses Untier in mir zu betäuben. Da klopfte es plötzlich an der Tür, was außerordentlich selten geschieht, denn ich kenne niemanden und will keine Gäste haben. Sogar meine Schwester Helena schaut höchstens alle paar Jahre mal bei mir herein. Da stand also jemand vor der Haustür und wollte mit mir reden. Ich schlich mich zum Fenster und konnte niemanden sehen, doch dann wurde wieder heftig gehämmert, und zwar so wild, dass es im ganzen Haus widerhallte. Ich musste zur Tür gehen. Draußen stand ein untersetzter und kräftiger Mann, der eine Hornbrille trug und außerordentlich elegant gekleidet war. Er fragte, ob ich Halldór Svavarsson sei und an der Volksschule unterrichte. Ich hatte den Mann nie zuvor gesehen und erklärte ihm sofort, dass ich ihm nichts abkaufen würde, falls er ein Hausierer sei. Er erklärte, er würde weder zu den Zeugen Jehovas gehören noch getrockeneten Fisch an der Tür verkaufen. Daraufhin habe ich ihm die Tür vor der Nase zugeknallt. Ich hätte sie nie wieder öffnen sollen. Nie wieder, Daníel. Kaum war ich wieder im Wohnzimmer, hörte ich die Klappe am Briefkastenschlitz quietschen. Sie hat schon immer gequietscht.
›Es ist wegen Hvolsvöllur‹, rief der Mann durch den Briefkastenschlitz. ›Wäre es nicht besser, du würdest mich reinlassen? Die Sache wird für uns beide nur noch unangenehmer, wenn wir uns hier durch diese Klappe unterhalten müssen.‹ Ich machte ihm auf, weil mir daran gelegen war, dass niemand etwas über Hvolsvöllur erfuhr. Er kam ins Wohnzimmer und setzte sich auf einen Sessel, während ich auf einem Hocker Platz nahm.
›Da hast du dir ja ein hübsches kleines Nest eingerichtet‹, sagte der Mann mit kaum verhohlener Verachtung in der Stimme. Ein überaus unangenehmer Mensch, unglaublich arrogant war er.
›Was bist du eigentlich für ein widerlicher Typ?‹, fragte er mich, während er seine Brille putzte, die beschlagen war. Ich gab ihm keine Antwort. Ich hatte keine Ahnung, wer dieser Mann war oder was er von mir wollte. Keine Ahnung.
›Ich habe meinen Ohren nicht getraut, als der Schulleiter uns die Geschichte erzählte. Ein Lehrer, der sich an kleinen Jungen vergeht. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass es so etwas Perverses gibt‹, sagte er. ›Du bist mit Schimpf und Schande davongejagt worden, nicht wahr? Wie es sich für so ein perverses Ekel gehört.‹
Der Ton kam mir bekannt vor, und ich sagte ihm, dass es ihm nicht gelingen würde, mich mehr zu demütigen, als andere es bereits getan hätten. Ich fügte hinzu, dass es nichts nützen würde, mir mit Drohungen zu kommen.
›Drohungen?‹, sagte er. ›Mal sehen. Jedenfalls habe ich nicht vor, so eine erbärmliche Figur wie dich zu bemitleiden. Du solltest mal hören, was dieser Schulleiter über dich zu sagen hat. Du hast dir einen richtigen Traumberuf für Päderasten ausgesucht. Der Herr Lehrer persönlich treibt sein skandalöses Unwesen.‹
Er war ein schrecklicher Grobian, Daníel. Er hat mich völlig aus der Fassung gebracht.
›Man schickt seine Kinder in die Schule und denkt, dass sie in guten Händen sind, und dann landen sie direkt in den Fängen von so einem Widerling‹, sagte er.
Er wusste genau, in welchem Ton er mit mir sprechen musste. Er wusste, was er sagen musste, und er war ganz genau über die Ereignisse in Hvolsvöllur informiert. Ich fragte ihn, wieso er hinter mir herspioniert habe und was er von mir wolle, aber er lachte mich nur aus und sagte, er habe sich über mein armseliges Leben informiert und fände es verabscheuenswert.
›Was hast du damals mit den kleinen Jungs in der Dusche gemacht?‹, fragte er. ›Und was für ein Gestank ist das eigentlich hier drinnen bei dir? Wo hast du diesen scheußlichen Hausmantel her?‹
Er war unverschämt und ordinär. Ich hatte schon früher Ähnliches zu hören bekommen, und sogar noch Schlimmeres, aber trotzdem fühlte ich mich auch jetzt wieder völlig wehrlos. Er wusste alles über mein Leben, und je unverschämter und ordinärer er wurde, desto hilfloser wurde ich.
›Eines muss ich dir allerdings lassen, Halldór‹, sagte er. ›Diese Klassenfotos hier sind schön. Es kommt mir sogar so vor, als würdest du sie auch sauber halten. Du putzt den Staub der Unzucht ab, oder? Richtig verliebt bist du in die lieben Kleinen. Mein Auftraggeber ist daran interessiert, mit dir zusammenzuarbeiten. Ich werde später Kontakt zu dir aufnehmen, wenn es bei ihm so weit ist. Du hast eine ganz hervorragende Position, um ihm von Nutzen zu sein, und zum Dank dafür wird er nichts darüber verlauten lassen, was für ein perverses Ekel du bist. Ich weiß, dass du mit uns zusammenarbeiten wirst, du kannst es dir nämlich gar nicht leisten, unkooperativ zu sein.‹
Ich fragte, was von mir erwartet würde.
›Gar nichts Besonderes, verglichen damit, was du den kleinen Jungs angetan hast‹, sagte er und lachte. ›Ich weiß, dass du uns nicht enttäuschen wirst‹, fügte er hinzu.
›Was soll ich denn tun?‹, fragte ich wieder, und dann antwortete er: ›Du hast da eine Klasse, in der lauter Luschen und Versager sitzen, und denen sollst du eine neue Sorte Lebertranpillen verabreichen. Eine neue Art von Lebertranpillen‹, sagte dieser Grobian.
Schweigen.
HALLDÓR: Ich muss dir sagen, was damals dahintergesteckt hat, Daníel, und ich hoffe, du wirfst mich nicht hinaus wie bei meinem letzten Besuch. Ich muss das einfach loswerden.
Schweigen.
HALLDÓR: Du kannst dich doch an mich erinnern, Daníel, oder nicht?
Schweigen.
HALLDÓR: Das hier ist wohl euer Speisesaal? Hier ist es ganz gemütlich. Das Gebäude sieht von außen scheußlich aus. Diese ganzen Gitter, und das Haus ist seit Jahren nicht gestrichen worden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr nicht darunter leidet, hier zu sein.
DANÍEL: Sie geben uns hier jede Menge Pillen, die uns das Leben erleichtern. Alle möglichen Medikamente in Pillen-oder Spritzenform. Wir brauchen uns nur an den nächstbesten Aufseher zu wenden, und schon bekommen wir wieder eine Ladung verpasst. Es könnte einem nicht besser gehen.
HALLDÓR: Und im Augenblick haben sie dich wieder damit voll gestopft?
DANÍEL: Ich kann mich gut an dich erinnern, Halldór. Du hast uns unterrichtet. Immer im Anzug, mit Krawatte und blank geputzten Schuhen. Als ich dich einmal zu Hause besuchte, war alles dreckig, nur die Hemden nicht. Und du hast dich an mich rangemacht.
Schweigen.
HALLDÓR: Ich weiß, Daníel, verzeih mir. Ich begreife nicht, was da in mir vorgeht. Aber in der Schule war es doch auch schön, nicht wahr? Ich habe mich dafür eingesetzt, dass du beim Weihnachtsstück mitspielen durftest. Du warst der Einzige aus der Sonderklasse, der mitspielen durfte, und das hat mich einen ganz schönen Kampf gekostet. Du warst der Verkünder. Ich kann mich gut daran erinnern, wie hübsch du da oben auf dem Kasten gestanden und deine Sätze laut und deutlich vorgetragen hast: Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde.
DANÍEL: Hast du eine Zigarette für mich?
HALLDÓR: Ich rauche nicht.
DANÍEL: Hast du keine Zigarette für mich?
HALLDÓR: Nein.
DANÍEL: Ich brauche jetzt aber eine Zigarette.
HALLDÓR: Ich habe nie geraucht.
DANÍEL: Pálmi bringt immer Zigaretten mit.
HALLDÓR: Ich wollte wissen, wie es dir geht, und ich wollte dich um Verzeihung bitten. Ich weiß, dass ich das schon vor langer Zeit hätte tun sollen, aber die haben mir mit allem Möglichen gedroht, und ich bin nun mal kein sehr mutiger Mann, Daníel.
Schweigen.
DANÍEL: Mir fehlt nichts, was ich nicht selber in den Griff kriegen könnte. Mach dir meinetwegen keine Sorgen. Das braucht bloß alles seine Zeit. Ich muss das Gute wiederfinden. Den Glauben finden. Ich bin aus dem Paradies vertrieben worden. Hast du das nicht gesehen? Ein glühender Feuerball. Es stand in den Zeitungen. Das war ich. Ich habe Gott betrogen, und deswegen durfte ich nicht länger dort sein. Man hat mich ausgesetzt, und das habe ich verdient. Alle, die das Paradies verlassen müssen, werden zu Sternschnuppen am Himmel. Wir strahlen hell und rasen am Himmel entlang, bis wir vergehen.
Schweigen.
DANÍEL: Du warst kein schlechter Lehrer.
HALLDÓR: Lieb, dass du das sagst, Daníel, aber ich fürchte, es stimmt nicht.
DANÍEL: Du hast uns Abenteuergeschichten vorgelesen. HALLDÓR: Ich habe all die schönen Geschichten für euch gelesen, die ich als Kind so gern mochte. Und ihr habt dagesessen und meinen Worten gelauscht.
DANÍEL: Ich habe weiße Hemden, genau wie du. Möchtest du sie sehen? Komm mit.
Rascheln. Schritte. Aufzuggeräusche. Schritte.
HALLDÓR: Ist das dein Zimmer? Das ist ja richtig gemütlich, Daníel. Ach, und da sind alle deine Hemden.
DANÍEL: Sie sind mein Harnisch.
HALLDÓR: Ich weiß, Daníel, ich weiß. Und in den Schukartons hast du Bilder von Schauspielern. Und was ist das hier? Ah, das Klassenfoto. Da sitzt du auf dem Boden und schaust zu mir hoch. Das ist mein Lieblingsfoto, Daníel. Leider habe ich kein Bild von Pálmi. Der war sehr tüchtig in der Volksschule, ich habe ihn aber nie unterrichtet. Katrín war seine Klassenlehrerin. Kannst du dich an Katrín erinnern? Eine ausgezeichnete Lehrerin, ausgezeichnet. Sie unterrichtet immer noch an der Schule. Ich habe aufgehört. Die Schüler heutzutage sind so ganz anders, einfach schrecklich, Daníel. Sie haben mich angespuckt. Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist. Die Schüler haben sich so verändert, seit du in der Schule warst.
DANÍEL: Du hast an ihnen herumgefummelt.
HALLDÓR: Was?
DANÍEL: Du hast an den Jungs herumgefummelt.
Schweigen.
HALLDÓR: So etwas ist nie wieder vorgekommen, nachdem du aus meinem Haus geflüchtet bist. Nur damals in Hvolsvöllur habe ich die Kontrolle über dieses Untier verloren. Und bei dir. Habe ich dir nicht von dem Untier erzählt? Erinnerst du dich, als du wegen der Lebertrankapseln zu mir gekommen bist? Sie hatten mich in ihrer Gewalt. Sie wussten von Hvolsvöllur. Ich musste euch diese Pillen geben, euch genau beobachten und Berichte verfassen. Und ich hatte dafür zu sorgen, dass ihr die Pillen auch geschluckt habt und dass die Krankenschwestern euch Blut abzapfen konnten. Außer ihrem Schweigen habe ich nichts dafür bekommen. Ich habe mich an die Abmachung gehalten. Die anderen auch.
DANÍEL: Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Das Weihnachtsstück. Das hatte ich ganz vergessen. Es hat richtig Spaß gemacht, da mitzuspielen. Ja, ich war der Verkünder und stand auf einem kleinen, weiß gestrichenen Kasten, ich hatte einen weißen Kaftan und einen rosa Turban an, und ich trat als Erster auf die Bühne. Ich musste an den ganzen Sitzreihen entlang, stand dann vor dem Publikum, kletterte auf den Kasten und schaute in den Saal. Das, was ich sagen musste, steht bei Lukas. Er erwähnt die Hirten, aber Matthäus schreibt nur über die drei Weisen aus dem Morgenland. Worin liegt der Unterschied? Da siehst du es, ewig diese Fragen. Zweifel, Zweifel, Zweifel. Ungläubig bist du, ein ungläubiger Narr. Du bist ein armseliger Ungläubiger, das bist du. Das bist du.
Schweigen.
HALLDÓR: Hör zu, Daníel. In diesen Kapseln, die ich euch geben musste, war ein Stoff, der euch kaputtgemacht hat, das ist mir schon vor langer Zeit klar geworden. Ich wusste es sogar schon, bevor Agnar starb, aber ich traute mich nicht, etwas zu sagen. Es war grauenvoll. Ich bin nie darüber hinweggekommen, dass ich an dem Tod des Jungen mitschuldig war. Und dann all die anderen Todesfälle. Keiner von euch ist mit dem Leben zurechtgekommen, keiner. Ich habe versucht, mitzuverfolgen, wie es euch ergangen ist, und es kommt mir so vor, als hättet ihr euch nie wieder davon erholt, dass ihr diese Pillen schlucken musstet. Sie sind der einzige Grund dafür, dass alles so gelaufen ist. Ihr wurdet süchtig und seid körperlich oder geistig erkrankt – das stellte sich im Laufe der Zeit heraus. Begreifst du, was ich sage, Daníel? Vielleicht wärst du nicht schizophren, wenn du nicht diese Pillen geschluckt hättest. Vielleicht wäre Agnar noch am Leben, und auch deine anderen Freunde. Ihr wurdet als Versuchskaninchen benutzt, Daníel. Und ich wurde ebenfalls benutzt.
Langes Schweigen.
HALLDÓR: Daníel, begreifst du, was ich sage?
DANÍEL: Ich habe manchmal so komische Träume. Heute Nacht habe ich von Mama geträumt. Hast du eine Zigarette?
HALLDÓR: Einmal im Monat habe ich einen Bericht über euch geschrieben, den habe ich in einen Umschlag gesteckt und an einem bestimmten Platz hinterlegt, wo er abgeholt wurde. Ich hätte diese Berichte eigentlich auch den Krankenschwestern mitgeben können, aber mir wurde gesagt, dass es keinerlei Verbindung zwischen mir und ihnen geben durfte. Ich hatte klare Vorgaben, was diese Berichte betraf. Ich durfte nicht wissen, an wen sie gingen. Ich habe aber herausgefunden, dass dieser unangenehme Kerl Erik hieß, Erik Faxell. Dieser Grobian sagte, dass ich unter Beobachtung stünde und dass er es herausbekäme, falls ich es wagen würde, ihm nachzuspionieren. Aber beim letzten Umschlag bin ich hinter ihm her. Ich brachte ihn zum vereinbarten Ort, ich sollte an einem bestimmten Tisch im Hotel Borg Kaffee trinken, zwei, drei Tassen, und den Umschlag auf einem Stuhl hinterlassen, nachdem ich den Kaffee bezahlt hatte und aufgestanden war. Normalerweise habe ich mich nicht einmal mehr umgeschaut, sondern bin schnell nach Hause gegangen. An diesem Tag habe ich aber draußen gewartet, und nach kurzer Zeit sah ich diesen unangenehmen Menschen mit dem Umschlag in der Hand herauskommen. Er ging zu einem Auto, das er bei der Domkirche geparkt hatte, und fuhr weg. Er hat mich nicht bemerkt, schien sich aber auch meinetwegen gar keine Gedanken zu machen. Ich merkte mir die Nummer, R 1605. Anschließend rief ich beim TÜV an und gab vor, bei einer Versicherung zu arbeiten. Du siehst, ich kann auch ganz gewieft sein. Sie haben mir den Namen des Mannes gegeben und die Adresse. Er wohnte in einem schönen Einfamilienhaus am Lynghagi. Er hatte eine hübsche Frau und zwei hübsche Kinder. Er fuhr morgens wie jeder andere gegen neun zur Arbeit und kam um fünf wieder nach Hause. Ich weiß noch, wie ich darüber nachgedacht habe, wie man überhaupt so ein Doppelleben führen kann, ein glücklich verheirateter Ehemann zu sein, der Leute erpresst und Kinder zu Versuchszwecken missbraucht. Aber dann kam mir mein eigenes Verhalten in den Sinn. Ich bin keinen Deut besser als solche Menschen. Eines Morgens habe ich mir ein Taxi genommen, das mache ich sonst nie, und bin zum Lynghagi gefahren und habe da gewartet, bis dieser Kerl aus dem Haus kam. Der Taxifahrer hat bestimmt geglaubt, ich sei verrückt. Der Kerl arbeitete in dem Gewerbegebiet am Síðumúli in einem kleinen Pharmaunternehmen, das aber seitdem in Zusammenarbeit mit den Deutschen zu einem Riesenunternehmen geworden ist. Es trug den gleichen Namen wie im …
DANÍEL: Das hast du alles herausgefunden? Du bist tatsächlich noch besser als ich. Wie oft habe ich denen hier das gesagt, dass diese Pharmabonzen Kranke wie mich produzieren, aber auf mich hört ja keiner, weil ich nicht normal bin. Du musst also auch geisteskrank sein. Produziert diese Firma Kranke wie mich? Ich habe immer gewusst, dass ich das Opfer von solchen Verbrechern bin, ich habe es gewusst. Die produzieren uns am Fließband! Ich muss jetzt weg, Halldór. Sprich nicht mehr mit mir.
Rascheln. Schritte. Schweigen.
Mehr war nicht auf der Kassette. Pálmi nahm sie heraus und legte die Kassette, die mit ZWEI beschriftet war, ein. Ein anderer Tag, ein anderer Besuch. Pálmi saugte jedes Wort in sich auf und vergaß alles um sich herum. Es war still in seiner Wohnung, nur hin und wieder drang das Kreischen von Kindern herein, die draußen spielten. Er bemerkte nicht, dass sich die Tür zu seinem ehemaligen Zimmer einen Spalt geöffnet hatte.
HALLDÓR: … in Ordnung, wenn ich das Gerät anstelle, Daníel? Entschuldige, dass ich das in der letzten Woche heimlich gemacht habe, als wir uns getroffen haben, aber ich wusste nicht, was du davon halten würdest, wenn ich unsere Gespräche aufzeichne. Ich fühle mich selbst nicht wohl dabei, aber ich glaube, es ist richtig, das zu machen. Und ich kann gut verstehen, dass du mich loswerden wolltest. Aber jetzt bin ich wieder da, und ich werde nicht aufgeben, bis ich dir all das gesagt habe, was ich dir sagen muss. Ich kann nur dann zur Ruhe kommen, wenn du mir zuhörst. Ich muss dir von diesen Männern erzählen.
DANÍEL: Neulich ging es mir nicht besonders. Heute geht es mir viel besser. Pálmi ist vorgestern zu Besuch gekommen. Der Ärmste. Er kommt hier Woche für Woche in die Klinik, Jahr für Jahr, und er weiß nie, wie er sich verhalten soll. Er ist schon über dreißig und lebt da einsam in seiner Wohnung vor sich hin. Er sieht schlecht aus. Hast du ihn in letzter Zeit mal gesehen? Er verliert schon die Haare und hat dunkle Ringe unter den Augen und diesen mitgenommenen Gesichtsausdruck, der überhaupt nicht zu einem jungen Menschen passt. Er sagt, dass ich versucht habe, ihn umzubringen, aber daran kann ich mich nicht erinnern. Hin und wieder habe ich eine Weile bei ihm wohnen dürfen, aber ich mache immer etwas falsch. Er hat mich erlebt, als ich in meiner allerschlimmsten Verfassung war. Früher habe ich immer auf ihn aufgepasst. Mama besaß eine kleine, alte Sportkarre zum Ziehen, und ich habe ihn darin überall mit hingeschleift. Er war ständig dabei, egal, was wir machten, auch als Kiddi Kolke das Auge verlor. Da hatte ich wirklich Angst, und am meisten hatte ich Angst davor, dass sie Pálmi was antun würden. Das Mädchen hatte eine tote Katze in der Hand, und irgendwie sah ich immer Pálmi anstelle der Katze vor mir.
Schweigen.
HALLDÓR: Ich kann mich an Pálmi in dieser Sportkarre erinnern. Wir haben manchmal im Lehrerzimmer darüber gesprochen, und alle waren verwundert darüber, wie gut dieser Daníel auf seinen kleinen Bruder aufpasste.
DANÍEL: Pálmi hat sich später aber auch um mich gekümmert, und ich bin ihm dankbar dafür, aber das weiß er nicht. Für ihn stand immer meine Krankheit im Vordergrund und nicht die Tatsache, dass ich sein Bruder bin. Er bringt mir Zigaretten mit, und manchmal reden wir miteinander, aber häufig kann ich merken, dass er mit seinen Gedanken ganz woanders ist. Das bin ich natürlich auch, manchmal bin ich schwierig, so ist es die ganzen Jahre gewesen, das weiß niemand besser als ich. Auch als Mama noch lebte. Manchmal wurden die beiden gar nicht zu mir gelassen. Aber daran kann ich mich nicht so gut erinnern. Und der arme Pálmi hat zusehen müssen, wie es mit mir hier bergab ging, aber ich habe auch mit ansehen müssen, wie er verkümmerte. Ich weiß noch, wie ich Mama fragte, ob sie denn immer den Jungen mitschleppen müsste, denn ich konnte spüren, dass er sich nicht wohl fühlte und dass er Angst vor mir hatte. Das hab ich genau gemerkt und oft versucht, mit ihr darüber zu reden. Manchmal wusste ich, dass er hier draußen vor der Klinik wartete, weil er sich weigerte, mit hereinzukommen und mich zu sehen. Sie war der Meinung, dass er sich daran gewöhnen müsse, mich regelmäßig zu besuchen. Er müsse mich kennen lernen, schließlich würde sie ja nicht ewig leben. Für sie kam es nicht in Frage, dass wir den Kontakt zueinander verlören. Aber Pálmi fühlte sich elend bei diesen Besuchen, und das tut er auch heute noch. Er erinnert mich manchmal an Papa. Sie sehen sich äußerlich überhaupt nicht ähnlich, aber sie haben diese gleiche Art von Distanz. Papa war ein freundlicher Mann, aber er wollte eigentlich nicht viel mit einem zu tun haben, außer, wenn er besoffen war. Aber er war gut zu Mama, und sie hat sehr gelitten, als er starb.
HALLDÓR: Ich habe nie einen Vater gehabt.
DANÍEL: Pálmi ist wie Papa, aber er trinkt nicht. Wahrscheinlich gibt es viele wie ihn. Pálmi hat es schwer gehabt. Sein Leben war beschissen.
HALLDÓR: Das Unternehmen heißt Fentíaz.
Schweigen.
DANÍEL: Was für ein Unternehmen?
HALLDÓR: Das diese Versuche mit eurer Klasse gemacht hat. Ich habe das herausgekriegt. Der Name wurde von den Deutschen übernommen und bezeichnet eine bestimmte Art von Medikamenten. Die Franzosen haben 1950 das erste Fentiaz-Produkt auf den Markt gebracht, das bei psychischen Störungen gute Erfolge zeigte. Du hast es wahrscheinlich auch bekommen. Das Mittel wird gegen gewisse Sinnestäuschungen und Wahnvorstellungen eingesetzt. Du bist aber wahrscheinlich andererseits davon abgestumpft und apathisch geworden.
DANÍEL: Wenn ich mich so richtig in eine tiefe und angenehme Bewusstlosigkeit versetzen wollte, habe ich dieses Fentiaz-Zeug gesammelt. Ein verfluchtes Zeug, es ist das reinste Gift, aber eine Überdosis bringt einen nicht um, und es gibt wirklich kein besseres Schlafmittel.
HALLDÓR: Sie wissen, dass ich alles über sie weiß. Eines Tages habe ich diesen rüpelhaften Menschen direkt vor der Firma angesprochen und habe damit gedroht, alles zu verraten, was ich wüsste. Er hat mich aber nur ausgelacht und gesagt, dass ich das wohl schon längst hätte machen können, wenn ich mich trauen würde. Er sagte, ich würde es nie wagen, weil ich so ein Jammerlappen wäre, und ich hätte sowieso nicht den geringsten Beitrag dazu geleistet, dass diese Versuche so gut gelaufen seien. Seitdem habe ich ihnen ab und zu gedroht, manchmal auch schriftlich, aber sie haben mich wahrscheinlich schon lange abgeschrieben. Es war ihnen völlig egal, was aus euch geworden ist. Ich habe mitverfolgt, wie die Firma wuchs und gedieh, und das sag ich dir, Daníel, heute ist es das größte Unternehmen in Island. Ich bin davon überzeugt, dass dieses Wachstum in erster Linie eurer Klasse zu verdanken ist.
Längeres Schweigen.
DANÍEL: Willst du damit sagen, dass ich deswegen in dieser Klinik eingesperrt bin und mein ganzes Leben mit Psychopharmaka zugedröhnt und in die Zwangsjacke gesteckt wurde? Dass ich deswegen ein abgestumpftes, jämmerliches Wrack bin? Was für ein erhebender Gedanke. Nach all den Jahren kommst du daher und sagst mir, dass ich gar nicht schizophren wäre, wenn ich nicht diese kleinen, gezuckerten Kapseln bekommen hätte. Ich kann mich erinnern, dass ich ganz versessen darauf war, genau wie die anderen Jungs. Hast du eine Ahnung, wie es ist, mit dieser schwelenden Angst zu leben und nicht zu wissen, ob die Stimmen, die man hört, real oder eingebildet sind, wenn man grauenvolle Halluzinationen hat, die einen dazu bringen, dass man seinen Bruder umbringen will oder seine Mutter? Dass man ständig sich selbst umbringen will, aber sich nicht traut, das in die Tat umzusetzen? Unentwegt Medikamente zu kriegen, die einen so umnebeln, dass man sich wie ein kleiner Goldfisch vorkommt, der ewig in seinem Glas herumkreist? Mit der Zeit nehmen die Lebenskräfte ab, denn das Wasser hat keinen Sauerstoff, und irgendwann trudelt man tot an der Oberfläche. Ich würde mir lieber jeden Tag die Beine amputieren lassen, als das durchzumachen, was ich hier durchmache. Du sagst, dass ich ein normales Leben hätte leben können? Weißt du, wie sehr ich mich mein ganzes Leben lang danach gesehnt habe, ein normales Leben zu leben? Weißt du, was ich für einen einzigen normalen, gesunden Tag in meinem Leben geben würde? Ich sehe ihn in tausend Träumen vor mir. Möchtest du wissen, wie er ausschaut? Soll ich dir das erzählen? Zunächst mal habe ich eine Familie, ich habe eine Ehefrau, die morgens mit mir aufwacht. Ich habe drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen. Ich gehe zu ihnen und wecke sie und rede mit ihnen, während sie sich anziehen. Ich helfe ihnen, die Klamotten zusammenzusuchen. Ich weiß nicht, wo und wie ich wohne, aber meine Kinder schlafen alle in demselben Zimmer. So wollte ich es immer haben. An der Wand hängen Bilder, die sie gemalt haben. Es ist ein Sommertag, und wir gehen in die Küche. Wir werfen die Kaffeemaschine an, und die Kinder bekommen eine Kleinigkeit zu essen. Sie plappern irgendwelchen Unsinn. Dann unternehmen wir einen richtig schönen Ausflug im Auto und kaufen uns unterwegs Eis. Wir verlassen die Stadt und fahren aufs Land, und bei einem kleinen See machen wir Halt, und ich liege mit meiner Frau in der warmen Sonne, und wir hören, wie die Kinder unten am See plantschen. Das Kleinste fällt hin und tut sich weh, kommt weinend angerannt und wird von uns getröstet. Dann fahren wir wieder in die Stadt zurück und schauen bei Pálmi herein. Er wohnt in einem netten Vorstadtviertel, und wir verbringen den Rest des Tages miteinander. Wir reden über ganz belanglose Dinge, oder wir amüsieren uns über einen von unseren Freunden und lachen. Reden über den Urlaub im letzten Sommer und wohin wir dieses Jahr fahren wollen. Wir essen ausgiebig, und unsere Kinder spielen miteinander. Dann verabschieden wir uns, wir fahren nach Hause, denn es ist schon spät, und die Kinder gehen ins Bett. Meine Frau und ich, wir sitzen noch zusammen, und weil es Sommer ist, gibt es überhaupt keine richtige Nacht, sondern nur so ein anderes, milderes Licht.
Schweigen.
DANÍEL: So einen Tag. So einen ganz gewöhnlichen Tag.
Schweigen.
HALLDÓR: Das haben sie dir genommen. Und deiner Mutter. Und Pálmi.
DANÍEL: Du auch, Halldór. Du hast es uns auch genommen. Wie hast du das über dich bringen können? Was für ein Mensch bist du eigentlich?
HALLDÓR: O Gott, Daníel. Hätte ich gewusst, was diese Pillen euch antun, hätte ich vielleicht eingegriffen, aber damals wusste ich das nicht. Und die hatten mich in der Hand, diese Männer, die hatten mich völlig in ihrer Gewalt. Aber jetzt habe ich eine Lösung für mich gefunden, Daníel, eine Lösung, die ich mit dir bereden möchte.
Schweigen.
Pálmi saß und lauschte. Auf der Kassette kam nichts mehr, Halldór oder Daníel schienen ausgeschaltet zu haben. Er vergrub das Gesicht in den Händen, und im Geiste gingen ihm Daníels Worte wieder und wieder durch den Kopf. Jetzt begriff er endlich, was in Daníel vorgegangen war und wie er sich selbst gehasst hatte. Jetzt begriff er die Qualen seines Bruders, die sich mit Hilfe dieser winzigen Kassetten offenbarten, er verstand ihn besser als je zuvor bei all diesen Besuchen, die er auf sich genommen hatte. Es stellte sich heraus, dass sie sich beide, jeder auf seine Weise, nach dem Gleichen gesehnt hatten.
Etwas später griff er nach der letzten Kassette und legte sie ein. Auf ihr war das letzte Zusammentreffen zwischen Halldór und Daníel mitgeschnitten.
DANÍEL: Mama war eine richtige Leseratte, sie verschlang alle möglichen Bücher. Es machte ihr Spaß, laut vorzulesen, und das hat sie oft für Pálmi und mich getan. Das muss Pálmi wohl von ihr haben, denn er ist auch so ein Bücherwurm. Ich hab mal Mama gefragt, ob man Geld behalten dürfte, das man bei sich zu Hause findet. Sie war völlig perplex, schaute fragend von ihrem Buch auf. Kiddi Kolke hatte zu Hause bei sich einen Tausendkronenschein gefunden und für uns alle Süßigkeiten gekauft. Als wir ihn abends zum Spielen abholen wollten, durfte er nicht raus, und wir hörten, wie sein Vater ihn verprügelt hat, das haben wir unten auf dem Bürgersteig gehört. Man darf Kinder nicht schlagen, sagte Mama. Egal, was sie anstellen. Sie sagte, dass Kiddi Kolke nicht gewusst hätte, dass er das Geld nicht nehmen durfte. Er sei überhaupt kein schlechter Junge, er hätte doch bloß nett zu uns sein wollen.
Schweigen.
DANÍEL: Dann las sie weiter aus ihrem Buch vor. Es war Moby Dick, über Kapitän Ahab und den weißen Wal, den er hasste, und an Bord waren Walfänger aus aller Herren Länder. Ein Isländer war auch dabei, hast du das gewusst? HALLDÓR: Nein.
DANÍEL: Ich fragte Mama, was er dort machte, und sie antwortete nur: Isländer fangen Wale. Dann holte ich meinen Schuhkarton mit den Bildern von bekannten Schauspielern und schaute sie mir an, während Mama las. Das waren Porträtfotos aus den Studios in Hollywood, die mich total faszinierten. Ich nahm mir einen Stapel nach dem anderen vor und ging ihn durch. Ich hab mich immer für Filme interessiert, und weil wir zu Hause nie Geld hatten, habe ich mich manchmal mit meinen Freunden ins Kino reingeschummelt. Das war nicht einfach, aber manchmal hat’s geklappt. Einige Schauspieler auf den Bildern hatte ich schon mal in einem Film gesehen, andere sagten mir gar nichts. Aber ich erinnere mich genau an den Schauspieler, den ich mir an diesem Abend anschaute, denn das war so ein unglaublicher Zufall. Er hatte eine schlankes Gesicht und unter dem Foto stand: Gregory Peck. Er erinnerte mich an Papa. Erst viel später habe ich herausgefunden, dass er den Kapitän Ahab gespielt hat.
Schweigen.
DANÍEL: Das war der Abend, als der Anruf kam. Pálmi war noch ein Baby und schlief im Schlafzimmer unserer Eltern. Ich war in meinem Zimmer. Mama saß im Wohnzimmer und las in diesem dicken Buch. Papa war zur See. Ich lag im Bett und konnte nicht einschlafen. Das kam oft vor, ich brauchte nicht viel Schlaf, und meistens ging ich ins Wohnzimmer zu Mama, wenn ich nicht schlafen konnte, und saß bei ihr und hörte ihr beim Vorlesen zu. Bei uns klingelte sehr selten das Telefon, deswegen schreckten wir beide hoch. Wir schauten einander an, Mama stand langsam auf und ging zum Apparat. Es war der Besitzer der Reederei. Papa war vermisst. Er war an Deck gewesen, als eine Sturzsee über das Schiff hereinbrach, und er war über Bord gegangen. Der Mann sprach Mama sein Beileid aus und versprach, sich wieder zu melden, wenn er mehr in Erfahrung gebracht hätte.
Mama stand eine Weile an dem Tischchen, auf dem sich das Telefon befand, drehte sich dann zu mir um und sagte, ich solle schlafen gehen. Sie wollte mir das mit Papa nicht vor dem Schlafengehen erzählen, sondern lieber bis zum nächsten Morgen damit warten. Ich merkte zwar, dass etwas nicht stimmte, ging aber trotzdem in mein Zimmer. Nachdem ich lange dagelegen, mich herumgewälzt und in die Dunkelheit hinausgestarrt hatte, stand ich wieder auf und ging ins Wohnzimmer. Sie saß am Esstisch, hatte das Gesicht in den Händen vergraben, und ich konnte ihr leises Schluchzen hören. Ich ging zu Mama, stand neben ihr und spürte, dass sie auf einmal furchtbar einsam war.
Schweigen.
HALLDÓR: Die Pillen habe ich euch in dem Winter gegeben, als ihr in der letzten Klasse wart. Außerdem kamen Krankenschwestern mit Nadeln und Spritzen und haben euch Blutproben entnommen. Das haben sie in dem kleinen Krankenzimmer am Ende des Schulflurs gemacht, direkt neben unserem Klassenzimmer, du kannst dich bestimmt daran erinnern. Ich habe sie nie zu Gesicht bekommen und durfte keinen Kontakt mit ihnen aufnehmen. Mir wurde mitgeteilt, wann sie zu erwarten waren, und dann hatte ich euch einen nach dem anderen zu ihnen in das Zimmer zu schicken. Alle zwei Monate kamen sie klammheimlich in die Schule, wenn der Unterricht in vollem Gange war, und niemand hat das mitbekommen, denn in das Krankenzimmer hat sich sonst nie jemand verirrt. Falls sie mal daneben gestochen haben und ein Bluterguss entstand, interessierten sich die wenigsten Eltern dafür, wie der zustande gekommen war. Sie waren froh über sämtlichen medizinischen Beistand, der kostenlos zu haben war. Die Krankenschwestern hatten euch in ungefähr zehn Minuten abgefertigt und verschwanden dann wieder, ohne dass jemand ihrer gewahr wurde. Die Gefahr, dass sie gesehen wurden, war ja nicht sonderlich groß. In der Schule lief alles nach sehr strengen Regeln, niemand durfte sich auf den Gängen herumtreiben, wenn es geschellt hatte. Es war mehr als unwahrscheinlich, dass ein und dieselbe Person zweimal die gleiche Krankenschwester zu Gesicht bekommen konnte. Deswegen glaube ich bestimmt, dass es zwei gewesen sind, die diese Schulbesuche unter sich aufteilten. Ihr wart nicht sehr begeistert über diese Besuche, aber ihr habt immer Süßigkeiten von ihnen bekommen, daran kannst du dich bestimmt erinnern. Es durfte natürlich nicht so viel sein, dass es einem bei euch zu Hause oder den Mädchen in der Klasse auffiel, aber auch nicht zu wenig, damit ihr euch nicht beschwert habt. Schokolade war genau das Richtige. Die hattet ihr bereits verputzt, als ihr wieder in die Klasse zurückkamt. In diesem Alter vergessen Kinder schnell. Wenn ihr wiederkamt, war es, als sei gar nichts Außergewöhnliches geschehen. Zu Hause bei euch schöpfte auch niemand Verdacht. Krankenschwestern, Spritzen, Tuberkulosetests und Impfungen, das wurde alles in dieselbe Schublade eingeordnet. Ich hatte zwei Gläser von diesen Lebertranpillen im Lehrerpult eingeschlossen. Die habe ich in der großen Pause eigenhändig verteilt, bevor ich mich ans Pult setzte und euch Abenteuergeschichten vorlas. Die Mädchen bekamen aus dem einen Glas und die Jungen aus dem anderen. Laut den Anweisungen musste ich aufpassen, dass ihr sie auch schlucktet. Aber das war ganz einfach. Auf diese neuen Pillen wart ihr nämlich richtig versessen. Im Lauf des Winters habt ihr dann richtiggehend um diese Pillen gebettelt und wolltet immer mehr als eine. Ich hatte wirklich Probleme beim Verteilen. Manchmal kam es mir so vor, als hättet ihr was aus dem Glas stibitzt, wenn ich mal für kurze Zeit aus der Klasse musste. Deswegen endete es damit, dass ich das Glas immer mitnahm, wenn ich das Klassenzimmer verlassen musste. Ich hatte genauestens Buch darüber zu führen, ob und wann ich irgendwelche Veränderungen in eurem Verhalten feststellte. Es war mir aber nicht wohl bei dem, was ich da tat, Daníel, das musst du mir glauben. Ich konnte aber nicht anders, als ganz und gar nach ihrer Pfeife zu tanzen, denn sonst wäre alles über mich herausgekommen, und das hätte ich nicht verkraftet. Ich war davon überzeugt, dass es ein harmloses, aber überaus wichtiges Experiment war. Euch sollte nichts geschehen. Ich habe nie nachgefragt, was diese Kapseln eigentlich enthielten. Letzten Endes wollte ich gar nichts über diese Sache wissen, überhaupt nichts. Und wie immer habe ich so getan, als sei nichts vorgefallen. Ich habe mir eingeredet, dass ich ganz gewöhnliche Lebertranpillen verteilte. Mein ganzes Leben lang war ich nicht dazu fähig gewesen, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, und es machte für mich keinen Unterschied, dass da nun noch eine weitere kleine Lüge hinzugekommen war.
Schweigen.
HALLDÓR: Etwa zwei Monate nachdem ich angefangen hatte, diese Pillen an euch zu verteilen, stellte ich bemerkenswerte Veränderungen in euren Leistungen und in eurem Benehmen fest. Das schrieb ich in meinen Bericht, der vielleicht sogar noch irgendwo existiert. Es fiel euch auf einmal viel leichter, zu lernen, und ihr wart auch wesentlich interessierter an allem; ihr wart viel aufgeweckter, habt die Aufgaben mit einem Mal schnell und hundertprozentig korrekt gelöst. Die Ergebnisse waren wesentlich besser, als ich es mir jemals hätte erhoffen können. Verglichen mit vorher, schient ihr überhaupt keine Lernprobleme mehr zu haben. Sogar solche Schlusslichter wie Agnar und Óskar schafften es, innerhalb einer Schulstunde Gedichte wie Öxar við ána von Steingrínur Thorsteinsson auswendig zu lernen, bereits nach einmaligem Lesen. Von früher oder von zu Hause kannten sie das Gedicht ganz bestimmt nicht. Dasselbe galt auch für die anderen Jungen. Eure Leistungsfähigkeit hatte sich in dieser kurzen Zeit enorm gesteigert, und ihr wart jetzt auf einmal lernbegierige Schüler. Ihr konntet alles behalten. Aber das Betragen und der Umgang in der Schule verschlimmerten sich immer mehr. Ich musste euch dauernd zum Rektor schicken, obwohl ich versuchte, so wenig wie möglich zu diesem Mittel zu greifen. Die Unterrichtsplanung geriet ziemlich durcheinander, aber im Lauf des Winters fand ich heraus, wie ich euch dazu bringen konnte, mir zu gehorchen. Ich brauchte euch nur eine zusätzliche Lebertranpille versprechen. Das entsprach zwar nicht den Anweisungen, aber ich wusste mir keinen anderen Rat. Daníel, für mich wurden diese Pillen zu einem Mittel, euch in Schach zu halten. Es war so einfach damit. Niemand begriff das Wunder, das mit der 6 L geschehen war, niemand außer mir. Ich hatte einen vollen Karton mit den Gläsern zu Hause stehen, und sie würden den Winter über reichen und sogar noch länger, danach sollte das Experiment beendet sein.
DANÍEL: In dem Winter fühlten wir uns nicht gut. Skari bekam Krämpfe, und wir lachten ihn aus, und Aggi reiherte auf einmal quer über sein Pult und die Schulbücher, und Gísli rastete völlig aus, weil die Kotze auf seinem Rücken landete.
HALLDÓR: Ich kann mich erinnern, dass Aggis Hand eiskalt war, als ich ihn anfasste. Da habe ich es wirklich mit der Angst zu tun bekommen.
DANÍEL: Wir sind sogar bei dir eingebrochen, weil wir so hinter diesen Pillen her waren. Aggi und ich, die anderen haben draußen Wache geschoben. Ich kann mich bis ins kleinste Detail an alles erinnern, was du gesagt und getan hast.
HALLDÓR: Ich habe es auch nicht vergessen.
DANÍEL: Als die Schule im Mai zu Ende war, wussten wir nicht, wie wir weiterhin an die Lebertranpillen herankommen konnten, deswegen sind wir zu dir nach Hause gefahren, um rauszukriegen, ob du vielleicht noch mehr davon hättest. In den Wochen nach der Schulentlassung fühlten wir uns richtig elend, so, als hätten wir permanent die Grippe. Beim Pinkeln tat es weh, wir hatten Kopfschmerzen und Muskelzucken, uns war andauernd übel, und wir konnten schlecht schlafen. Wir versuchten, an Schnaps ranzukommen, und wir haben sogar die Medikamentenschränke zu Hause geplündert, aber eigentlich wollten wir nur diese Lebertranpillen. Du warst aber nicht zu Hause, und wir konnten nicht warten. Nichts wie rein ins Haus, sagte Aggi, lass uns die Pillen suchen. Wir hatten deine Adresse im Telefonbuch nachgeschlagen. Wir waren zu fünft und haben den Bus genommen. Die anderen drei Jungs aus der Klasse waren im Sommer immer bei Verwandten auf dem Land. Die Tür war abgeschlossen, und als wir um das Haus herumgegangen sind, entdeckten wir hinten auf der Rückseite ein kleines Fenster, das offen stand. Nur wir zwei haben uns hineingezwängt, die anderen standen Wache. Wir waren die Kleinsten. Aggi stellte sich auf meine Schultern und kroch durch das Fenster hinein und zog mich dann hoch. Drinnen war ein richtiger Saustall. Wir haben uns die Klassenfotos angeschaut, die da aufgereiht an den Wänden hingen. ›Wir müssen aufpassen, dass wir nichts kaputtmachen‹, sagte ich. Bei dir da drinnen war wirklich ein scheußlicher Geruch. Was war das eigentlich für ein Gestank? Wir mussten uns die Nasen zuhalten. Es roch nach Katzenpisse.
HALLDÓR: Ich habe nie auf Sauberkeit Wert gelegt.
DANÍEL: Wir haben versucht, keine Spuren zu hinterlassen. Nichts durfte verrückt werden. Wir haben bloß mit den Augen gesucht. Wir haben im ganzen Haus nachgesehen, fanden aber nichts, was wie Pillengläser aussah. Dann haben wir Kartons angehoben und in Schubladen herumgekramt, aber vergeblich. Uns war klar, wie wütend du sein würdest, wenn du rausfändest, dass wir bei dir eingebrochen waren. Als wir in dein Schlafzimmer kamen, hatte ich ein ganz seltsames Gefühl. Das war total absurd. Wir kannten dich ja überhaupt nicht. Du hattest uns zwar die ganzen Jahre unterrichtet, aber wir wussten nichts über dich. Du hast uns nie etwas über dich selbst erzählt. Und jetzt standen wir, zwei Einbrecher, bei dir drinnen und sahen Dinge, von denen es uns schwer fiel, sie mit dir in Verbindung zu bringen. Widerlicher Gestank, Dreck, Pornozeitschriften, Schnapsflaschen dutzendweise und die Küche voller Essensreste. Ich kam mir vor, als wäre ich in einer Drachenhöhle gelandet. Ich wollte raus. Aggi hat dann endlich die Pillengläser gefunden. Er war bei dir unters Bett gekrochen und kam mit zwei vollen Gläsern wieder zum Vorschein. HALLDÓR: Und in dem Moment kam ich nach Hause, und du hast in der Falle gesessen.
DANÍEL: Skari Skandal kreischte durch den Briefkastenschlitz, dass du im Anmarsch seist. Wir sausten zum Küchenfenster. Aggi kroch als Erster raus, aber sein Gürtel blieb an einem Haken hängen, und er hat eine Ewigkeit gebraucht, bis er den loskriegte. Als ich auf den Küchentisch kletterte, hörte ich den Schlüssel im Schloss und stand wie angewurzelt da. Ich wusste nicht, ob ich versuchen sollte, Aggi hinterherzuklettern oder schnell runterzusteigen, um mich zu verstecken.
HALLDÓR: Das war an einem Freitag, und ich hatte mir gerade meine Wochenendration besorgt.
DANÍEL: Ich bin ganz schnell unter dein Bett gekrochen und hab die ganze Zeit gehofft, dass meine Freunde sich was einfallen lassen würden, um mir zu Hilfe zu kommen. Aber je mehr Zeit verstrich, desto geringer wurde die Chance, dass von ihnen Hilfe zu erwarten sei. Meine einzige Möglichkeit bestand darin, mich im richtigen Augenblick hinauszuschleichen. Ich lag da und lauschte. Du hast irgendwas in der Küche gemacht, dem Geruch nach zu urteilen, hast du Hafergrütze gekocht, und dabei hast du vor dich hin gesummt. Ich fürchtete mich eigentlich nicht direkt vor dir, ich hatte nur Angst, einen Mann zu stören, von dem ich spürte, dass er in Ruhe gelassen werden wollte und der nie jemanden an sich heranließ. Ich fürchtete mich am meisten vor deiner Reaktion, wenn du herausfinden würdest, dass wir in deine Welt eingebrochen waren. Wir haben deine Einsamkeit immer irgendwie respektiert.
Schweigen.
DANÍEL: Dann kamen keine Geräusche mehr aus der Küche. Vielleicht bist du in dein Arbeitszimmer gegangen. Dann hörte ich diese Musik, so eine schreckliche klassische Musik, wie sie damals den ganzen Tag im Radio gespielt wurde. Ich beschloss, unter dem Bett hervorzukriechen und einen Blick in die Küche zu wagen. Ich war immer noch auf dem Boden, falls ich wieder in mein Versteck zurückmüsste. Als ich endlich aufstand, fiel mein Blick auf den offenen Schrank, in dem der Anzug hing, den du immer in der Schule anhattest, und außerdem sah ich all diese Regale mit sorgfältig gebügelten und gefalteten weißen Oberhemden. Ich ließ sämtliche Vorsicht außer Acht, ging zum Schrank und befühlte diese strahlend weißen Hemden. Sie waren ganz weich und in der Tat das Einzige in deinem Haus, was wirklich sauber war. Und dann standest du auf einmal in der Tür. ›Weißt du, warum ich so viele weiße Hemden besitze, Daníel?‹, hörte ich dich hinter mir sagen. In meinem ganzen Leben habe ich mich nie so erschreckt. Am liebsten wäre ich auf der Stelle tot umgefallen.
HALLDÓR: Entschuldige.
DANÍEL: Du trugst einen roten Hausmantel und hattest ein Glas und eine Flasche Schnaps in der Hand. Findest du sie nicht schön, hast du gefragt. Du standest immer noch in der Tür. Es gab keinen Weg an dir vorbei, und komischerweise schienst du überhaupt nicht überrascht zu sein, mich da zu sehen. Du hast mir erklärt, dass du jedes Hemd nur einmal anziehst. ›Ich wasche sie selbst‹, hast du gesagt. ›Ich bügele sie sorgfältig, falte sie zusammen und lege sie akkurat in den Schrank. Das gewährt mir einen Seelenfrieden, den ich dir nur schwer erklären kann.‹ Ich stand vor dem Schrank und wusste nicht, was ich tun sollte. Das alles war mir entsetzlich unangenehm. Dann hast du gesagt, dass es mit deiner Jugend zusammenhinge. ›Ich hatte nie eine Jugend wie du und deine Freunde‹, hast du gesagt, ›und ich beneide euch darum, mehr als du jemals ahnen kannst. Sie wurde mir genommen.‹
HALLDÓR: Genau darüber habe ich mein ganzes Leben lang nachgedacht, und über das Warum. Ich kam zu einem ganz simplen und vielleicht sogar logischen Ergebnis. Es war nichts als der pure Zufall. Schlicht und ergreifend Pech. Das war die einzige Erklärung. Es hatte nichts damit zu tun, was ich tat. Ich habe nie etwas getan. Und ich konnte nicht das Geringste dagegen machen. Einfach, weil ich in einem ganz bestimmten Augenblick gezeugt wurde und nicht in einem anderen, in einer bestimmten Gebärmutter und nicht in einer anderen.
DANÍEL: Das steckte also hinter deiner Zufallstheorie, die du uns immer gepredigt hast.
HALLDÓR: Warum wird der eine Mensch reich und ein anderer arm, Daníel? Warum stirbt dieses Kind an einer Krankheit, aber nicht ein anderes? Warum kommst du unters Auto und nicht die Person neben dir? Warum fällst du über Bord und nicht der andere Kerl in deiner Kajüte? Das ist einfach verdammtes Pech. Darüber denke ich tagtäglich nach. Über den Zufall. Er allein entscheidet über das Glück der Menschen, glaube mir, der pure verdammte Zufall. Wo kommt man auf die Welt und wann? Was man selbst tut, hat wenig zu sagen. Bitter wenig. Und wurde mir ein bisschen Anteil am Glück zuteil? Habe ich Glück gehabt? Nein, Daníel, nein, ich kann nicht sagen, dass ich jemals Glück gehabt habe. Es wäre eine Lüge, wenn ich behaupten würde, ich hätte Glück gehabt.
DANÍEL: Du hast gesagt, dass du mich und meine Freunde beobachtet hast, wenn wir Fußball gespielt haben oder hinter den Mädchen hergerannt sind, gekreischt und gelacht haben. In deiner Erinnerung gäbe es aber kein einziges Lachen aus deiner eigenen Jugend. Nicht ein einziges verdammtes Mal hättest du einen Anlass dazu gehabt, wenigstens zu lächeln.
HALLDÓR: Und auch später nie. Niemals, Daníel, niemals. Kannst du dir vorstellen, was das für ein Leben ist?
DANÍEL: ›Eigentlich wollte ich nicht hier einbrechen, ich wollte nur nachsehen, ob du zu Hause bist‹, habe ich gesagt. Und dann habe ich gefragt, ob ich jetzt gehen dürfte. Ich hatte eine Scheißangst. ›Willst du nicht noch ein bisschen mit dem alten Halldór reden?‹, hast du geantwortet und mir den Arm um die Schultern gelegt, hast mich aus dem Zimmer geführt, durch die Küche ins Wohnzimmer, und mich auf einen Sessel gedrückt. Als wir an der Haustür vorbeikamen, spürte ich, wie dein Griff für einen Augenblick fester wurde. ›Wir sind doch Freunde, Daníel?‹, hast du gefragt und mir all deine Klassenfotos gezeigt. Du fühltest dich in ihrer Nähe offenbar wohl. ›All diese jungen Gesichter‹, hast du gesagt, ›man bekommt fast den Glauben an das Leben zurück.‹ Dein Lieblingsbild war das von unserer Klasse, auf dem ich auf dem Boden sitze und zu dir hochschaue. ›Das ist beinahe, als wäre ich dein Vater‹, sagtest du.
HALLDÓR: Ich wollte nicht aufdringlich sein. Verzeih mir. DANÍEL: Dann hast du dir das nächste Glas eingeschenkt und mir gesagt, dass du nie viel von meinem Vater gehalten hast, dass er es nie zu etwas gebracht hätte. ›Deine Mutter dagegen ist eine gestandene Frau‹, sagtest du. ›Eine Frau von Format, die sich nicht unterkriegen lässt.‹
HALLDÓR: Du hast Glück gehabt, eine solche Mutter gehabt zu haben, die sich wirklich um dich und deinen Bruder gekümmert hat. Gut, dass du einen Bruder und eine Familie hattest, die für dich da waren. Ich habe mein ganzes Leben lang niemanden gehabt außer mir selbst. Ich weiß nicht, ob ich Einfluss darauf hatte oder nicht, das weiß ich nicht. Ich ziehe es vor, das dem Zufall zuzuschreiben.
Schweigen.
DANÍEL: Du schienst gar nicht erstaunt zu sein, mich da drinnen bei dir zu entdecken. Du hattest wohl damit gerechnet, dass wir nach den Lebertranpillen suchen würden.
HALLDÓR: Diese verfluchten Lebertranpillen.
DANÍEL: Du hast mich gebeten, mich zu dir zu setzen, um mich mit dir zu unterhalten, weil du nur wenig mit Menschen zusammenkämst und dich lieber in deine Höhle zurückziehen würdest, um über den Zufall nachzudenken und zu trinken. Du hast gesagt, wie grauenvoll es sei, einsam zu sein, und dass ich mir eine schöne Frau suchen und hübsche kleine Kinder mit ihr haben sollte, ihnen ein schönes, ordentliches und vor Sauberkeit duftendes Zuhause aufbauen sollte. Und dann haben wir über deine Mutter und deinen Vater geredet.
HALLDÓR: Mutter und Vater! Ich habe weder eine Mutter noch einen Vater gehabt, Daníel. Mein Vater …, ich weiß nicht einmal, wer er wirklich war. Vielleicht der Mann, den ich einmal besucht habe, der alte Svavar. Ich wollte herausfinden, was er von mir hielt und ob wir einander ähnlich wären. Der hatte wahrscheinlich schon mehr als genug von all seinen anderen Kindern. Er hat mich rausgeworfen. Wir waren uns auch überhaupt kein bisschen ähnlich. Du verstehst das vielleicht, Daníel, dieses Bedürfnis, einen Vater zu haben. Es ist stark, stärker als alles anderen. Wir haben das Recht, bei einem starken Vater Zuflucht zu finden.
DANÍEL: Aber deine Mutter?
HALLDÓR: Über meine Mutter wollen wir lieber nicht reden, das würdest du nicht hören wollen. Sie hat sich nie richtig um mich gekümmert. Ich kann dir nur von einer Situation erzählen, als sie gut zu mir war. Die rufe ich mir immer ins Gedächtnis, wenn das Grauen unerträglich ist. Ich war vielleicht sieben Jahre alt. Es war zur Zeit der Heuernte. In dem Sommer waren wir bei einem guten Bauern. Wir hatten ordentliche Heuhaufen gemacht, und ich wurde zum Hof geschickt, um Kaffee und Butterbrote zu holen. Die Sonne schien, und unterwegs wurde ich von einer lauen Brise gestreichelt. Ich war glücklich. Ich dachte daran, wie gut ich es hätte. Als ich zurückkam, setzten Mama und ich uns bei einem Heuhaufen hin, nur wir beide, und wir saßen schweigend da, aßen unsere Brote, aber auf einmal drückte sie mich an sich und ließ mich dann gleich wieder los. Mehr war es nicht. Ein winziges bisschen Wärme, die ich seitdem in meinem Herzen trage. Jetzt weiß ich nicht einmal mehr, ob das überhaupt geschehen ist oder ob ich es mir nur eingebildet habe, aber es kommt mir so vor, als sei es tatsächlich gewesen.
DANÍEL: Dann habe ich gesagt, ich müsste gehen, weil Mama sich meinetwegen sorgen würde. ›Verzeih mir, dass ich bei dir eingebrochen bin‹, sagte ich. ›Ich werde es nie wieder tun.‹ Du fragtest, ob du ein schlechter Lehrer gewesen wärst. ›Habe ich euch jemals schlecht behandelt, habe ich euch geschlagen oder angebrüllt? War ich ein schlechter Lehrer?‹ Du hast uns immer all deine Lieblingsgeschichten vorgelesen, und wir durften auf deinem Schoß sitzen. Deswegen bist du beim Rektor angezeigt worden. Du hast gesagt, dass du zur Rede gestellt worden bist, weil die Mädchen eifersüchtig auf die Jungen waren. Dann hast du damit aufgehört, weil du vorsichtig sein musstest.
HALLDÓR: Und dann bin ich zu weit gegangen.
DANÍEL: Auf einmal war da ein anderer Ton in deiner Stimme. Du hast angefangen, über deine Hemden zu reden, und wie du mitten in diesem Krempel in sauberen, weichen, schönen weißen Hemden schliefst, und wie ruhig du in ihnen schlafen könntest. ›Sie sind mein Schutz und mein Schild‹, sagtest du. Du hast mich angefasst, und ich konnte deine Schnapsfahne riechen. Du hast gesagt, dass sie nicht nur all das in dir ermordet hätten, was du warst und hättest werden können, sondern dass sie auch dieses Untier in dich hineingesetzt hätten, mit dem du jeden Tag kämpfen müsstest, aber manchmal kämst du nicht dagegen an. Manchmal würde dieses Untier die Oberhand gewinnen.
HALLDÓR: Manchmal hat es sich sogar während des Unterrichts in meinem Kopf durchgesetzt, und ich habe keinen Widerstand geleistet. Dann konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Und manchmal hast du auf seinem Schoß gesessen und gehört, wie es gesagt hat: Lausche der Stille.
DANÍEL: Du hast versucht, mich auszuziehen.
HALLDÓR: Verzeih mir, Daníel.
DANÍEL: Ich bin aber entwischt.
Schweigen.
HALLDÓR: Ich muss dich um einen Gefallen bitten, Daníel. Einen furchtbaren Gefallen, aber du bist der Einzige, den ich kenne, der das möglicherweise für mich tun kann. Seit vielen Jahren fühle ich mich so jämmerlich. Manchmal, wenn ich abends einschlafe, würde ich am liebsten nie wieder erwachen. Ich bin der reinste Abschaum, ich hätte nie auf die Welt kommen dürfen. Ich wurde in einem Stall gezeugt, das ist etwas ganz anderes, als in einem Stall geboren zu werden. Ein mieser Fick, und so ist mein ganzes Leben gewesen. Ich habe nie einen Vertrauten gehabt, keine Freunde außer meinen kleinen Schulkindern, und sogar die haben sich gegen mich gewandt. Im Gegensatz zu dir hätte ich mir nie vorstellen können, eine Familie zu haben und Kinder in die Welt zu setzen, Daníel. Vielleicht hätte es mir aber geholfen, das ist schwer zu sagen. Über diese Sache habe ich lange nachgedacht, und du verzeihst mir, wenn ich dieses Ansinnen an dich richte, aber ich denke, wir sind so gut befreundet, dass du mich ernst nimmst. Ich möchte, dass du meinem Leben ein Ende setzt.
Langes Schweigen.
HALLDÓR: Es ist keine große Sache. Ich bin doch sowieso schon seit Jahrzehnten lebendig tot. Es wäre übertrieben, wenn man das, woran ich mich aus lauter Gewohnheit klammere, ein Leben nennen würde. Ich wurde in Schande gezeugt, bin selber ein Schandfleck und lebe ein schändliches Leben. Aus diesem Teufelskreis komme ich nicht heraus. Ich bin das alles so unendlich leid. Jetzt will ich sterben, aber ich schaffe es nicht, Hand an mich zu legen. Ich habe es versucht. Deswegen bitte ich dich, mir zu helfen.
Langes Schweigen.
HALLDÓR: Daníel?
Schweigen.
DANÍEL: Da ist ein Mann, der es vermutlich tun könnte. Ich kann es nicht, verstehst du? Aber ich kenne einen Mann. HALLDÓR: Sag ihm, dass ich einen Kanister mit Benzin zu Hause aufbewahre. Sag ihm, er soll mich auf dem Stuhl in meinem Arbeitszimmer festbinden und mich mit Benzin übergießen. Wenn er den Kanister geleert hat, soll er mir ein brennendes Streichholz zustecken. Ich will, dass alles, was ich besitze, mit mir verbrennt, es darf nicht das Allergeringste übrig bleiben. Ich will nicht, dass irgendjemand nach meinem Tod in meinen Sachen herumwühlt, dass mein Privatleben breitgetreten wird. Ich habe keine Angst vor dem Feuer, das Feuer wird mich läutern, einen neuen Menschen aus mir machen.
Schweigen.
DANÍEL: Ich werde mit ihm reden.
Schweigen.
HALLDÓR: Ich habe dir hier meine Hemden mitgebracht. DANÍEL: Ich danke dir. Aber davon werde ich nichts haben. Ich bin selber im Aufbruch.
Schweigen.
DANÍEL: Ad astra.
Mehr war nicht auf der Kassette. Pálmi saß im Halbdunkel und starrte auf das Gerät. Ad astra, dachte er. Zu den Sternen. Daníel hätte Halldór nicht ermorden können, weil er bereits tot war, als Halldór in den Flammen umkam. Hatte er jemanden dazu überredet, Halldórs Bitte zu erfüllen? Wer war das? Zu wem hatte Daníel eine solche Verbindung? Sigmar? Pálmi saß lange da und dachte nach. Er begriff, dass Daníel zu diesem Zeitpunkt bereits entschlossen gewesen war, Selbstmord zu begehen.
Es war inzwischen stockdunkel in der Wohnung, und er knipste die kleine Lampe auf dem Tisch an. Er bemerkte nicht, dass sich die Tür zu seinem ehemaligen Zimmer etwas weiter geöffnet hatte. Pálmi hatte es so viele Jahre nicht mehr betreten, dass ihm die Existenz dieses Zimmers gar nicht mehr bewusst war. Während er auf das Gerät und die Kassetten starrte, spürte er auf einmal ganz stark, dass jemand in der Nähe war. Er sprang so heftig auf, dass der Stuhl umkippte. Er schaute in den Flur. Die Tür zu seinem alten Zimmer stand sperrangelweit auf, und Pálmi durchfuhr ein Schauder. Er wich zurück, weil er glaubte, drinnen eine Bewegung gesehen zu haben. Jahrelang war diese Tür nicht geöffnet worden. Er war starr vor Schreck und brachte kein Wort heraus. Bevor er noch ins Treppenhaus laufen und um Hilfe rufen konnte, sah er einen untersetzten Mann aus dem Zimmer treten. Der Hilfeschrei erstarb ihm auf den Lippen, als dieser Mann ihm auf einmal bekannt vorkam. Als er ins Licht trat, sah Pálmi, dass es Jóhann war.
»Jóhann«, stöhnte Pálmi völlig verwirrt. »Jóhann! Jóhann! Mein Gott, was hast du in diesem verdammten Zimmer gemacht? Wie bist du hereingekommen? Ich verstehe das nicht. Hast du alles mitgehört?«
»Alles in Ordnung, Pálmi, hab keine Angst. Ich wollte mir das Zimmer ansehen, in dem Daníel versucht hat, dich anzuzünden. Ich hatte mich hingelegt. Ich bin heute Mittag gekommen und habe mich selbst hereingelassen. Du solltest das Zimmer renovieren, Pálmi. Ja, ich habe die Kassetten mitgehört, aber ich wusste das schon alles. Daníel hat mir alles erzählt.«
»Aber wieso brichst du bei mir ein? Hat er dir schon alles erzählt? Warum hast du mir das denn nicht früher gesagt?«
»Da ist etwas, das du wissen musst. Du hast die Angewohnheit, Pálmi, niemandem in die Augen zu blicken. Du schaust immer nach unten oder zur Seite, aber niemals blickst du den Leuten direkt in die Augen. Viele sind so, und das hängt meiner Meinung nach mit Hemmungen und Schüchternheit zusammen. Du hast nicht viel Selbstvertrauen, Pálmi. Das ist vielleicht auch nicht verwunderlich.«
Jóhann setzte sich an den Esszimmertisch.
»Aber selbst wenn du es bemerkt hättest, ist doch keineswegs sicher, ob du das zur Sprache gebracht hättest. Du bist ein sehr rücksichtsvoller Mensch, Pálmi. Vielleicht zu rücksichtsvoll.«
Pálmi stand noch immer wie angewurzelt da und starrte Jóhann an. Jóhann hatte nie zuvor so mit ihm gesprochen, er verstand kein Wort.
»Worüber redest du eigentlich, Jóhann?«
»Über Augen.«
Jóhann zwinkerte mit dem rechten Auge und kniff es ein paar Mal zusammen. Pálmi konnte kaum glauben, was er sah. Jóhanns rechtes Auge wurde aus der Augenhöhle herausgepresst und fiel ihm in die Hand. Er hielt die kleine Glaskugel zwischen den Fingern, um sie Pálmi zu zeigen, und warf sie ihm dann quer durchs Zimmer zu. Pálmi schnappte verwirrt danach und starrte auf Jóhanns Glasauge.
Pálmi trat nun näher an ihn heran und blickte ihn zum ersten Mal an – und betrachtete die leere Augenhöhle.
»Kiddi«, stöhnte er endlich. »Du bist gar nicht Jóhann. Du bist Kristján. Kiddi Kolke.«