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12 Es war eine schwere Geburt gewesen, aber sowohl das Kind als auch die Mutter hatten überlebt. Außerdem hatte Morfyd ein bisschen Abstand gebraucht, um ihrem Bruder und seiner Menschenfrau ein bisschen Zeit allein miteinander zu geben. Natürlich weigerte sich Gwenvael zu gehen, bevor er eine Antwort von Fearghus hatte, aber sie hatte es geschafft, ihn zu bestechen, damit er dem Liebespaar fernblieb. Sie hätte gedacht, es wäre ihrem kleinen Bruder peinlich, Geld von seiner Schwester anzunehmen. Aber sie hatte schnell festgestellt, wie sehr sie sich in diesem Punkt getäuscht hatte.
Die Finstere Schlucht lag nur ein paar Wegstunden entfernt, doch sie wollte noch nicht zurück. Sie wusste nie, wo oder wann sie über Fearghus und Annwyl stolpern würde, während sie »dabei waren«, wie Gwenvael es so eloquent ausgedrückt hatte. Die späte Stunde und ein rascher Blick um sich herum versicherten ihr, dass sie allein war.
Morfyd zog rasch ihre Gewänder aus und tauchte nackt in den See. Sie genoss das kalte Wasser auf ihrem menschlichen Körper. Sie wusste nicht warum, aber ihre Art liebte das Wasser. Sie hatte Fearghus ein bisschen beneidet, als er seine Höhle gefunden hatte. Eine Höhle mit eigenem Süßwassersee. Das war himmlisch.
»Sie kann nicht weit gekommen sein. Geh du da lang. Ich schaue beim See nach.« Morfyd erstarrte. Sie hörte männliche Stimmen und wusste, dass sie sie suchten. Sie schwamm zum Ufer und hatte sich gerade aus dem Wasser gezogen, als ein Mann aus den Büschen stolperte. Hoch aufgerichtet stand sie da, bereit, ihn zu Asche zu verbrennen, als er sich aufrichtete und sich zu ihr umwandte.
»Brastias?«
»Morfyd. Gut. Wir haben …« Brastias unterbrach sich. Offensichtlich war ihm gerade bewusst geworden, dass sie nackt war und er sah sie wie versteinert an. Sie wartete, aber er starrte weiter. Seine hellen Augen schienen nicht in der Lage, den Blick abzuwenden. Mit einem grollenden Ächzen stieß er hervor: »Verdammt, Frau!«
»Brastias?« Sie schnippte mit den Fingern. »Brastias!«
»Äh …« Er riss sich aus seiner Trance und wandte sich ab. »Tut mir leid. Tut mir leid. Ich wollte nicht … ich … äh …«
Morfyd raffte ihre Gewänder vom Boden auf. »Was ist los? Was willst du?«
»Du musst eine Nachricht überbringen an … ähm … ähm … äh …«
»Annwyl?«
»Ja genau, das war’s.«
Morfyd wollte lachen, doch das plötzliche Bewusstsein ihres eigenen nackten Körpers erstickte den Laut in ihrer Kehle. Sie zog ihre Kleider an. »Du kannst«, sie räusperte sich, »dich jetzt wieder umdrehen.«
Brastias sah sie über seine Schulter hinweg an. »Es tut mir sehr leid. Ich hatte gehört, du hättest eben das Dorf verlassen. Ich wusste nicht, dass du hier … äh … badest.«
Morfyd strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht. »Keine Ursache. Wirklich. Reden wir einfach nicht mehr davon. Nie wieder. Also, du sagtest, du hättest eine Botschaft für Annwyl?«
»Ja.« Er drehte sich langsam zu ihr um. »Wir haben Nachricht erhalten, dass Lorcan dieses Dorf in drei Tagen angreifen will. Wir werden die Frauen und Kinder in die Zitadelle von Ó Donnchadha umsiedeln. Wir denken, dass sie dort sicher sind … Ich wusste nicht, dass deine Haare weiß sind!«
Morfyd riss den Kopf hoch, ihr Blick bohrte sich in Brastias’ Augen.
»Äh … ich meine«, fuhr er eilig fort, »wir glauben, Lorcan wird selbst angreifen. Ich habe ihn schon ziemlich lange nicht mehr im Kampf gesehen, aber ich weiß, dass Annwyl auf diese Chance wartet. Du musst ihr das unbedingt ausrichten.«
»Das werde ich.«
»Egal, was passiert, wir werden kämpfen, um dieses Dorf zu beschützen. Wenn sie also noch nicht bereit ist …«
»Sie ist bereit.«
»Sag ihr, wir werden weitermachen, bis wir von ihr hören.«
Morfyd nickte. »Ich sage es ihr.«
»Danke.« Brastias sah sie noch einen Augenblick an, dann wandte er sich rasch ab und stieß mit Danelin zusammen, der gerade zwischen den Bäumen hervorkam. Er wirbelte Danelin herum, und bevor dieser noch ein Wort sagen konnte, schob er ihn zurück in den Wald und fort vom See.
Morfyd barg das Gesicht in den Händen. »Na, großartig!«
Fearghus ging an seiner Schatzkammer vorbei zu seinem See. Er hielt inne und machte ein paar Schritte rückwärts. Gwenvael saß auf seinem Haufen an Reichtümern, als gehörten sie ihm.
»Was tust du da?«
»Ich warte auf dich. Du weichst mir aus!«
»Als ob du es wert wärest, dass man dir ausweicht.«
»Tja, ich hatte die Wahl: Entweder hier sitzen oder auf Annwyl. Aber sie würde mir wehtun. Ob mir das etwas ausmachen würde, weiß ich natürlich nicht.«
Immer noch schweißgebadet von seinem letzten Zusammentreffen mit Annwyl, konnte Fearghus sie immer noch überall an seinem Körper riechen, sie immer noch auf seinen Lippen schmecken. Deshalb hatte er nicht vor, sich von seinem idiotischen Bruder ärgern zu lassen. »Was willst du?«
»Ich warte darauf, dass du mir eine Antwort mitgibst.«
»Es gibt keine Nachricht. Es geht sie alle nichts an.«
»Hältst du es wirklich für so einfach? Glaubst du wirklich, du musst dich nicht an dieselben Regeln halten wie wir anderen?«
Fearghus schnaubte. »Nach welchen Regeln richtest du dich denn, kleiner Bruder?«
Gwenvael grinste. »An die, die mich am Leben und gesund erhalten.«
»Dann geh zurück. Sag ihnen, was du willst. Aber wenn Annwyl geht, um gegen ihren Bruder zu kämpfen, werde ich an ihrer Seite sein.«
Gwenvael seufzte. »Sie könnte dich nie lieben, Bruder. Sie ist ein Mensch. Ich würde es wirklich ungern sehen, dass du deine Familie für ein Mädchen aufgibst, das, sobald sie die Wahrheit herausfindet, ganz schnell ganz weit vor dir davonlaufen wird.«
Fearghus knirschte mit den Zähnen und schluckte sein Bedürfnis herunter, Gwenvael in die Luft zu jagen, wo er saß. Er wagte sich nicht näher an ihn heran. Andernfalls hätte er sich womöglich verwandelt und dem kleinen Bastard die Eingeweide herausgerissen. »Geh mir aus den Augen, Junge. Bevor ich ihnen deinen Kopf als Geschenk zurückschicke.« Fearghus steuerte auf seinen See zu.
»Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!«, schrie Gwenvael hinter ihm her.
Annwyl lehnte ihre Stirn an die Schnauze des Drachen. »Du bist sehr still heute Abend. Was ist los?«
»Nichts.«
Sie wusste, dass er log. Er hatte in der letzten Stunde kaum zwei Worte gesprochen. »Habe ich etwas falsch gemacht?«
»Nein. Natürlich nicht. Es sind nur Familienprobleme. Es hat nichts mit dir zu tun.«
»Diese Botschaft, die Gwenvael gebracht hat – sie wollen nicht, dass du dich in meinen Krieg einmischst, nicht wahr?«
Der Drache seufzte schwer. »Was sie wollen, ist mir egal.«
»Ich will mich nicht zwischen dich und deine Sippe stellen. Du hast mir das Leben gerettet, du schuldest mir nichts weiter.«
Er zog seinen majestätischen Kopf von ihr zurück. »Hier geht es nicht um Schulden, Annwyl. Ich kämpfe an deiner Seite, weil ich das so entschieden habe.«
Er ging weg von ihr. Rastlos wie er war, stand er diese Nacht nie lange still. Außerdem spürte sie seine Sorge und seinen Ärger. Und sie wusste, dass es sich irgendwie um sie drehte, aber nicht, was sie getan hatte. Es sei denn, natürlich … »Geht es um den Ritter?«
Der Drache blieb stehen, drehte sich aber nicht zu ihr um. »Wenn ich dich bitten würde, dich nicht mehr mit ihm zu treffen, würdest du es dann tun?«
Annwyl schloss die Augen. Am Ende stand nun also doch die Frage, die sie so lange schon gefürchtet hatte. Doch sie hatte nur eine Antwort für den Drachen. Nur eine Antwort, die keine Lüge war.
»Ja.«
»Warum?«
»Weil du mich darum bittest. Und ich bin dir – und nur dir – treu ergeben. Ich werde dir immer treu sein, Fearghus.«
»Weil ich dir das Leben gerettet habe?«
»Nein. Dafür schulde ich dir mein Leben. Wenn du mich mit einer Flammenkugel treffen wolltest, würde ich nicht versuchen, dich davon abzuhalten. Mein Leben gehört dir, du kannst es mir nehmen. Aber meine Treue nicht. Die muss man sich verdienen. Und das hast du getan.«
»Wie?«
»Du hast mir ein Gefühl der Sicherheit vermittelt, wie sonst keiner es tat.«
Annwyl schlenderte langsam zu ihm hinüber. Als sie vor ihm stand, legte sie ihre Hand auf seine Schnauze. Er schloss die Augen unter ihrer Berührung. »Dafür wirst du immer meine Treue haben.«
Sie ging um den Drachen herum und streckte ihre Arme so weit um seinen Hals wie sie konnte. Sie umarmte ihn, und wie immer ließ er sie gewähren. »Gute Nacht, mein Freund.«
»Gute Nacht, Annwyl.«
Sie ging zurück in ihr Gemach, konnte es sich aber nicht verkneifen, mit ihrer Hand über seine ledrigen Flügel und über die Schuppen seines Körpers zu streichen. Wie sie es jede Nacht tat.
Fearghus sah ihr nicht nach, wie er es sonst oft tat. Seine Gefühle waren ein einziges Durcheinander. Der Mann, den er tagsüber spielte, wetterte gegen die Tatsache, dass sie ihn so leicht aufgab. Der Drache zerbrach sich in größter Verwirrung den Kopf, weil sie bereit war, etwas für ihn aufzugeben, was sie eindeutig begehrte. Doch nicht ein einziges Mal hatte sie Liebe erwähnt. Nur Treue. Natürlich hatte er selbst auch nicht von Liebe gesprochen.
Diese kleine Menschenfrau schaffte es, ihn total durcheinanderzubringen, und er war sich nicht sicher, ob er ihr das jemals verzeihen konnte.
Sie sah zu, wie die Soldaten lautlos in die Schlucht strömten. Sie konnte ihre Angst riechen. Sie wollten nicht in der Finsteren Schlucht sein, kein vernünftiger Mensch hätte das gewollt. Also musste ihre Alternative noch viel schlimmer sein. Und als sie ihre Rüstungen erkannte, war ihr klar, dass es auch so war. Es waren Lorcans Männer. Er schickte sie in die Schlucht ihres Bruders. Schickte sie, um Annwyl zu finden.
Sie ließ sie weiter hereinkommen, sich von den Truppen entfernen, die möglicherweise in Sicherheit vor der Schlucht warteten. Sie wartete und beobachtete. Als die Zeit reif war, trat sie hinter sie und räusperte sich. Die Männer blieben stehen. Zuerst drehten sie sich nicht um. Aus Furcht, was sie sehen würden. Doch sie wartete; sie wusste, dass ihre menschliche Neugier die Oberhand gewinnen würde. Und so war es. Als sie ihre Augen sah, stieß Morfyd einen Feuerstrom aus, der sie zu Asche verglühte, bevor sie schreien konnten.
Gwenvael erschien an ihrer Seite; seine goldenen Schuppen glänzten hell im Mondlicht. Er schnüffelte und betrachtete die noch rauchenden Überreste der Soldaten.
Dann lächelte er seiner Schwester zu. »Abendessen!«
Es ging schon seit Tagen so. Die beiden waren pausenlos »dabei«. Wie zwei Tiere in der Paarungszeit. Gwenvael schüttelte angewidert den Kopf. Er wusste, was Lust war. Um genau zu sein, wusste er sie sehr zu schätzen. Aber Liebe? Ein rein menschliches Gefühl. Und obwohl er es genoss, sich als Mensch in der Stadt zu amüsieren, hatte er nicht vor, sein Leben zu einem Kuddelmuddel zu machen, wie sie es alle zu tun schienen.
Natürlich hätte er auch nie gedacht, dass Fearghus dem Zerstörer so etwas passieren könnte. Wenn es eines gab, worauf er bei seinem großen, wenig geselligen Bruder zählen konnte, dann war das seine anscheinend angeborene Fähigkeit, für niemanden etwas zu empfinden.
Ihm jetzt zuzusehen, wie er so ein schmächtiges Mädchen anbetete, ließ Gwenvael an all seinen Überzeugungen zweifeln.
Er hob den Kopf und studierte den Himmel. Einen Moment lang meinte er, das Schlagen von weiten Lederschwingen gehört zu haben. Doch als er den Himmel absuchte, sah er nichts. Er verwarf den Gedanken und ging seine Schwester suchen. Die Soldaten von voriger Nacht lagen ihm schwer im Magen, und er brauchte eine ihrer lindernden Mixturen.
Sie hatte einfach immer die Tendenz, ihr Essen zu sehr durchzugaren.
Annwyl folgte den Würgegeräuschen. Sie fand Morfyd am Fluss. Die Arme hatte sie um Gwenvaels Schultern gelegt, während dieser sich ins Wasser erbrach.
»Alles in Ordnung mit ihm?«
Morfyd zuckte die Achseln. »Er hat zu viel gegessen. Aber es wird schon gehen. Und ich habe eine Nachricht für dich von« – sie räusperte sich – »Brastias.«
Annwyl runzelte die Stirn. War Morfyd eben rot geworden? »Was für eine Nachricht?«
»Dein Bruder plant, das nächstgelegene Dorf in drei Tagen anzugreifen. Vielleicht auch schon früher. Ich habe versucht, es dir schon gestern Nacht zu sagen, aber du hast tief und fest geschlafen.«
Annwyl zuckte mit den Achseln. »Na gut. Danke.« Sie hatte bereits vorgehabt, in den nächsten ein bis zwei Tagen zu ihren Soldaten zurückzukehren.
»Ist das alles, was dein Bruder verdient? Ein Achselzucken und ein Dankeschön?«
»Um genau zu sein: ja«, blaffte Annwyl unwillkürlich. »Ich habe auch noch andere Dinge im Kopf. Oh …« Sie winkte mit der Hand. »Ich komme später noch mal wieder.« Annwyl wandte sich zum Gehen, aber Morfyd hielt sie zurück.
»Warte, Annwyl. Was ist los?«
»Ich kann nicht so weitermachen.«
Morfyd ließ Gwenvael fallen, der mit dem Kopf voraus in den Fluss fiel. Annwyl grinste, während Gwenvael die Frau verfluchte.
Morfyd ging zu Annwyl hinüber und sah sie an. »Wie kannst du nicht weitermachen?«
»Meine Tage mit dem Ritter. Meine Nächte mit dem Drachen. Es wird langsam unmöglich.«
»Annwyl, sprich mit ihm.«
»Das habe ich versucht. Ich kann nicht denken, wenn ich in seiner Nähe bin. Er kann diese Sache mit seiner Zunge …«
»Annwyl! Ich meine den Drachen. Sprich mit dem Drachen.«
»Das habe ich letzte Nacht auch versucht, aber … Ich glaube, er ist mich langsam leid. Und was, wenn er lacht?«
»Das hat er bisher auch nicht getan. Und er wird es auch nicht.« Morfyd lächelte. »Vertrau mir.«
»Aber …«
»Nein. Ich will es nicht hören. Sag dem großen Mistkerl einfach, was du fühlst. Was du für ihn fühlst. Er muss es hören. Und du musst es sagen.«
»Aber der Ritter …«
»Mach dir keine Sorgen um ihn. Sprich mit dem Drachen. Der Ritter kann warten.«
Annwyl holte tief Luft. Sie musste etwas tun. Bald würde sie sich ihrem Bruder stellen müssen, und höchstwahrscheinlich dem Tod. Sie wollte nicht mit dem Wissen ins Grab gehen, dass ihre Schwäche sie von dem Einen abhielt, was ihr wirklich wichtig war. Sie nickte und ging zurück in die Höhle. Zurück zu ihrem Drachen.
Fearghus folgte den Würgegeräuschen. Er fand seinen vornübergebeugten Bruder und Morfyd, die ihm auf den Rücken klopfte.
»Was ist los mit ihm?«
»Er hat gestern Abend zu viele Soldaten gegessen.«
»Soldaten? Hier?«
Morfyd nickte. »Lorcans Männer. Keine Sorge. Ich habe mich um sie gekümmert.«
»Aber das bedeutet, sie wissen, dass Annwyl hier ist.«
Morfyd schüttelte den Kopf, während sie Gwenvael den Schweiß von der Stirn tupfte. »Nicht unbedingt. Es sah eher so aus, als erkundeten sie das Gebiet. Du weißt schon, ein Spähtrupp.« Morfyd sah zu ihrem Bruder auf und runzelte die Stirn. »Warum bist du hier?«
»Was meinst du damit?«
»Ich habe gerade Annwyl zu dir geschickt. Sie will mit dir reden.«
»Mit mir reden?« Er deutete auf sich selbst. »Oder mit mir?« Er deutete auf seine Höhle.
Morfyd lachte und wollte gerade antworten, als sie innehielt und auf einen Punkt hinter ihm starrte.
Fearghus drehte sich um. »Was machst du denn hier?«
Briec, der Nächstgeborene nach Fearghus, lehnte an einem Baum und beobachtete seine Geschwister schweigend. Er war nackt, frisch verwandelt, und seine lange Silbermähne ergoss sich über seinen Rücken und fiel ihm über Gesicht und Schultern.
»Als keine Antwort von dir oder Morfyd kam und unser Kleiner nicht wiederkam …«
Fearghus schüttelte den Kopf. »Nicht das schon wieder.« Er wollte es nicht hören. Er wollte Annwyl finden. Hören, was sie zu sagen hatte. Und egal, was sie sagte, er würde ihr die Wahrheit sagen. Ihr alles erzählen. Er konnte nicht so weitermachen.
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst ihn nicht ignorieren«, schalt Morfyd, während sie einem sehr grünen Gwenvael auf die Beine half.
»Geh zurück zu dem alten Mistkerl und sag ihm, er soll sich aus meinem Leben heraushalten!«
Briec schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht.«
Fearghus blickte finster. »Was meinst du damit, du kannst nicht?«
»Ich meine, ich kann nicht … weil er schon hier ist. Er wartet in deiner Höhle auf dich.«
Bevor Fearghus reagieren konnte, griff Morfyds Hand plötzlich nach seinem Arm und riss ihm fast die Haut ab. »Ihr Götter, Fearghus! Annwyl!«
»Drache!«, rief Annwyl, bevor sie überhaupt in seinem Teil der Höhle war. »Drache! Bist du hier?«
Sie marschierte in den Hauptraum des Drachen, die Worte, die sie ihm sagen musste, auf den Lippen. »Fearghus, ich …« Sie hielt inne.
Obwohl der Drache, den sie jetzt vor sich sah, dieselbe Größe und Farbe hatte wie Fearghus, war die schwarze Mähne von diesem hier mit silbernen und weißen Strähnen durchzogen und seine Schuppen glänzten kaum. Eindeutig ein älterer Drache.
Und er war definitiv nicht Fearghus.
Sie blieb stehen und starrte ihn an. Der alte Drache starrte zurück.
»Du.«
Der freundliche Blick, den sie immer in Fearghus’ Augen sah, flackerte nicht in denen dieses Drachen. Und in diesem Bruchteil einer Sekunde wusste sie, dass er sie tot sehen wollte.
Sie rannte los, und die Flammen des Drachen verfehlten sie nur knapp. Er holte wieder tief Luft, und Annwyl warf sich hinter einen großen Felsblock. Flammen explodierten überall um sie herum, während sie sich niederkauerte. Die Flammen wurden von dem Felsblock abgelenkt, aber ihre Hitze jagte ihr einen größeren Schrecken ein als alles, was sie kannte. Er konnte sie mit einem Streich töten. Sie ignorierte die aufsteigende Panik und zog ihr Schwert.
Nach einer Weile brachen die Flammen ab, und sie hörte, wie der Drache auf den Felsblock zustampfte. Sie hielt den Atem an und wartete. Er blieb stehen, und sie warf genau in dem Moment einen Blick über den Fels, als er, ihrem Geruch folgend, seine Schnauze um die Ecke streckte.
Sie wartete, bis der Kopf der Bestie nahe genug war, dann hieb sie ihm über die Schnauze. Drachenblut spritzte auf ihren Arm, und der Drache brüllte vor Schmerz und Wut, während sie hinauslief, weg von der Bestie. Er stürmte ihr nach. Annwyl wusste: Um zu überleben musste sie sich auf ihren Instinkt verlassen. Sie schlängelte sich zwischen anderen Felsblöcken hindurch und spielte so die Größe und das Gewicht der Bestie gegen sie aus. Wenn der Drache stehen blieb, um Feuer nach ihr zu spucken, versteckte sie sich hinter einem Felsblock oder einer Steinwand. Doch so konnte sie nicht mehr lange weitermachen. Sie musste den Drachen töten, bevor er sie tötete. Dieses Mal blieb sie länger als sonst hinter dem Felsblock, und diesmal kam der Drache, wie sie es irgendwie vorhergesehen hatte, von oben.
Als er lautlos den Kopf senkte, um an sie heranzukommen, sprang sie auf den Felsblock und auf seine Schnauze. Verblüfft ließ er ihr die Zeit, die sie brauchte, um über seinen Kopf zu laufen, seinen Hals hinab und über seinen Rücken, bis sie seinen Schwanz erreichte. Sie wusste, er konnte ihn als Waffe benutzen, deshalb bewegte sie sich schnell. Sie hielt die Spitze mit ihrem Fuß unten und hieb ihr Schwert zwischen ihren Fuß und die Stelle, wo die Schuppen am kleinsten und weichsten waren. Wo Fearghus einmal seinem Bruder den Schwanz abgeschnitten hatte.
Sie spießte den Schwanz auf, indem sie ihre Klinge in den Boden rammte. Das Gebrüll des Drachen erschütterte die Höhle, und Annwyl wusste, sie hatte nur Sekunden, bevor er sich losreißen würde. Also zog sie ihr zweites Schwert und rannte unter den Drachen.
Sie konnte nur beten, dass der Schwachpunkt eines Drachen derselbe war wie der eines Menschen: die Leiste. Sie legte sich flach auf den Rücken und schob sich mithilfe ihrer Beine ganz unter ihn. Sie musste schnell handeln. Wenn er erst gemerkt hatte, dass sie dort war, musste er sich nur hinlegen.
Wie sie gehofft hatte, bedeckten die harten Schuppen, die den Rest seines Körpers bedeckten, nicht seine Leistengegend. Sein Glied war schützend innerhalb des Körpers versteckt, zum Glück nicht zu sehen und nicht in der Nähe ihres Gesichts. Sie hatte bereits mehr von diesem Drachen gesehen als sie je wollte. Sie hob ihr Schwert und setzte es am fleischigen Unterbauch der Bestie an, machte sich bereit, die Klinge hineinzustoßen. Sie hoffte, das würde ihr die Zeit verschaffen, um aus der Höhle und wenn nötig aus der Schlucht gelangen zu können.
»Annwyl! Nein!«
Annwyl erstarrte. Blut zeigte sich, wo die Spitze ihrer Klinge ruhte, aber sie drückte nicht stärker zu. Der Drache über ihr hielt den Atem an. Er konnte sich jetzt nicht hinsetzen. Natürlich konnte er sie zerquetschen, aber dabei hätte er sich selbst aufgespießt.
»Annwyl, Liebes. Gib mir deine Hand.«
Annwyl warf einen Blick hinüber und sah die glänzenden schwarzen Krallen ihres Drachen. Schwer atmend lag sie da, während ein Kampf in ihr tobte, zwischen der Kriegerin, die bereit war, den tödlichen Schlag auszuführen und Annwyl, der Frau, die wusste, dass dieser Drache Fearghus’ Vater war.
»Fearghus?«
»Annwyl. Vertrau mir.«
Annwyl sah wieder zu dem blutenden Untier über ihr. Wenn der alte Drache sie jetzt tötete, wusste sie so sicher wie sie ihren eigenen Namen kannte, dass Fearghus ihn töten würde. Das würde die alte Bestie nicht riskieren. Sie beschloss, dem einzigen Wesen zu vertrauen, dem sie schon die ganze Zeit vertraut hatte.
Sie hielt sich an seiner Kralle fest und ließ sich von ihm unter dem großen Drachen herausziehen. Er schob sie hinter sich zu Morfyd und Gwenvael und stellte sich schützend zwischen sie alle und ihren Vater.