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4 Als die Tage vergingen und Annwyl sich erholte, begann sie sich hinauszuwagen in die Bergschlucht, die die Höhle des Drachen umgab. Sie hatte sich nie sicherer gefühlt als in diesem Moment. Mitten im Territorium eines Drachen, nur mit einem Schwert, um sich zu schützen. Und sie hätte auch niemals sicherer sein können. Er ließ sie tun, was sie wollte. Ließ sie gehen, wohin sie wollte. Das tat sie auch. Auch wenn sie den Bereich mied, wo es noch immer nach verbrannten Männern roch.

Annwyl bewegte sich langsam zwischen den Bäumen und Blumen. Sie waren alle so schön und nur dafür da, dass sie sie in der Abgeschiedenheit genießen konnte. Wie alle anderen in den umgebenden Königreichen, hatte sie gelernt, die Finstere Schlucht zu fürchten. Und von außen erhob sie sich auch dunkel und imposant. Doch im Inneren schuf der dichte Wald einen Ort der Ruhe und Beschaulichkeit. Hätte sie als Kind gewusst, dass sie nichts zu befürchten hatte, wäre sie schon vor langer Zeit hierher geflohen.

Sie rieb sich die Seite. Ihre Wunde war immer noch ein bisschen empfindlich, aber fast verheilt. Der Drache und die Hexe hatten ausgezeichnete Arbeit geleistet, sie am Leben zu halten.

Dennoch zerbrach sie sich den Kopf über ihre Abmachung mit dem Drachen. Wollte sie ihren Bruder so verzweifelt besiegen? Wollte sie so unbedingt das Blut ihres Bruders auf ihrem Schwert sehen, dass sie das Leben des Drachen riskierte, der sie gerettet hatte? Die Antwort war ein klares Ja.

Doch sie musste verrückt sein. Sie sollte besser fliehen. Zurück zu ihren Männern. Zurück in die Sicherheit ihrer Truppen und fort von dem Drachen. Das sollte sie wirklich. Höchstwahrscheinlich würde sie das aber nicht tun. Die Frage, die sie sich unaufhörlich selbst stellte, war allerdings: warum. Warum verließ sie diesen Ort nicht? Warum verließ sie ihn nicht?

Und warum schien ihm selbst die Vorstellung genauso zu widerstreben, jedes Mal, wenn sie davon sprach zu gehen?

Annwyl lächelte, als sie daran dachte, wie ihr kleiner Raum in seiner Höhle immer besser eingerichtet wurde. Zuerst waren es nur ein Bett zum Schlafen und ein Esstisch für sie gewesen. Danach erschienen mehrere gepolsterte Stühle. Dann ein Teppich. Dann ein Wandbehang. Ein paar hübsche silberne Kerzenleuchter mit süß duftenden Kerzen.

Er wollte, dass sie sich wohlfühlte. Zu Hause. Überraschenderweise fühlte sich die Höhle der Bestie mehr wie ein Zuhause an als jeder andere Ort, an dem sie gelebt hatte, seitdem sie als Kind zu ihrem Vater geschickt worden war.

Nein. Sie konnte dem Drachen seine Freundlichkeit niemals zurückzahlen. Vielmehr gehörte ihr Leben bereits ihm. Und doch spürte sie keine Furcht. Auch wenn sie es eigentlich sollte. Er konnte alles von ihr verlangen als Rückzahlung für ihre Blutschuld. Nein, sie fühlte etwas ganz anderes als Furcht. Vorfreude.

Annwyl blieb stehen, in ihrer stillen Träumerei unterbrochen. Sie hatte den Kampf schon gespürt, bevor sie das Klirren von Schwertern und die Schreie sterbender Männer gehört hatte. Sie wusste, dass sie noch nicht all ihre Kraft zurückgewonnen hatte, aber sie musste nachsehen. Musste wissen, ob die Männer ihres Bruders in die Schlucht des Drachen vorgedrungen waren. Und wenn das so war, würde sie sie alle töten. Sie würde den Drachen nicht noch mehr Gefahren aussetzen.

Sie lief schnell und lautlos, beruhigt durch das Gewicht ihres auf den Rücken geschnallten Schwertes und des Dolchs, der in einer Scheide an ihrer Hüfte steckte. Sie glitt hinter einen Felsblock und beobachtete den brutalen Kampf. Die Männer ihres Bruders. Ungefähr acht von ihnen. Sie alle kämpften gegen einen Mann.

Den Mann aus ihren Träumen.

Annwyls Brust wurde eng und Gänsehaut überzog ihren ganzen Körper. Sie beobachtete ihn mit weit aufgerissenen Augen. Sein Gesicht war das Gesicht, das sie fast jede Nacht in ihren Träumen sah, während sie ihre Kraft zurückerlangte. Die schwarzen Haare dieselben, in die sie immer ihre Hände vergrub. Wer zur Hölle war das? Abgesehen von der Erinnerung aus ihren Träumen erkannte sie ihn immer noch nicht. Ein Fremder. Ein großer, wunderschöner Fremder, der auf dem leuchtend roten Waffenrock über seinem Kettenpanzer das Wappen einer Streitmacht trug, die man seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte.

Annwyl schüttelte den Kopf. Sie weigerte sich zu glauben, dass ihr Traum lebendig geworden war und jetzt brutal gegen die Männer ihres Bruders kämpfte.

Und wie er kämpfte! Er bewegte sich schnell. Schneller, als sie je zuvor einen Mann sich bewegen sehen hatte. Sein Geschick mit dem Schwert war beispiellos. Er erledigte zwei der Männer innerhalb von Sekunden und ging dann auf die übrigen sechs los.

Doch das Schwert an ihrem Rücken lenkte sie von dem Edelmann ab. Es waren nicht acht Männer in der Schlucht des Drachen gewesen … es waren neun.

»Lady Annwyl. Als ich die Männer dieses Gebiet erkunden ließ, hatte ich keine Ahnung, dass wir dich finden würden.«

Annwyl knirschte mit den Zähnen. Sie erkannte diese Stimme. Desmond L’Udair. Einer der vielen Leutnants ihres Bruders, und der Mann, der ihr einmal während eines Festessens an die Brust gefasst hatte. Natürlich hielten nur die verbliebenen vier Finger seiner rechten Hand das Schwert, das sich jetzt in ihr Rückgrat bohrte.

»Lord L’Udair. Ich hatte so gehofft, du seist tot.« Sie sah ihn über ihre Schulter hinweg an. »Wie geht’s der Hand?«

Manche fanden L’Udair gut aussehend. Doch sie sah nur seine hässliche Seite. Wie jetzt, als seine Lippen sich zu einer wütenden Grimasse verzogen. Er schnappte sie an den Haaren und riss sie zu sich heran, sodass ihr Rücken mit dem Schwert gegen seine Brust knallte.

»Die Frage, meine Süße, ist wie immer, ob ich dich deinem Bruder mit oder ohne Kopf zurückbringe.« Er setzte ihr die Klinge seiner Waffe an den Hals. »Oder sollen wir vielleicht noch ein bisschen Zeit miteinander verbringen, bevor ich dich zurückbringe? Ich schulde dir noch was für den Verlust meines Fingers.«

»Leg dich zu mir, L’Udair, und du riskierst den Rest deiner … Teile.« Sie lächelte ihn an und sah sein anzügliches Grinsen verblassen.

»Was mich wundert«, sagte eine ruhige Stimme vor ihr, »ist, dass du ihn noch nicht getötet hast.«

Annwyl richtete ihren Blick auf den geheimnisvollen Mann, der während L’Udairs Drohungen den Rest des kleinen Spähtrupps eliminiert hatte.

»Hast du wirklich Zeit hierfür?«, fragte er.

Sie hob eine Augenbraue. »Du hast natürlich vollkommen recht.« Annwyl zog den Dolch aus der Scheide an ihrer Seite, hob ihn in einer einzigen fließenden Bewegung rückwärts über ihre Schulter und hielt erst inne, als er L’Udairs Auge durchstach. Sobald er zu schreien begann, löste sie sich von ihm, bevor er sie mit seinem eigenen Schwert erledigen konnte. Sie hätte ihm den Kopf abgeschlagen, doch er starb schnell, und Toten trennte sie nur selten den Kopf ab.

Annwyl hörte, wie sich der Mann aus ihren Träumen bewegte. Sie zog das Schwert, das auf ihrem Rücken festgeschnallt war, und setzte ihm die Spitze an die Kehle, als er auf Armeslänge herankam. »Halt, Edelmann.« Sie starrte ihn an, während sie tief Luft holte, um ihr schnell schlagendes Herz zu beruhigen. Bei den Göttern, er ist schön! Und Annwyl traute ihm nicht weiter über den Weg, als sie ihn hätte werfen können. Und das war nicht weit. Er war bestimmt der größte Mann, den sie je gesehen hatte. Von oben bis unten harte Muskeln, die Macht und Stärke ausstrahlten.

Sie verstärkte ihren Griff um ihr Schwert. »Ich kenne dich.«

»Und ich kenne dich.«

Annwyl runzelte die Stirn. »Wer bist du?«

»Wer bist du

Ihre Augen verengten sich. »Du hast mich geküsst.«

»Und ich glaube, du hast mich geküsst.«

Annwyls Zorn wuchs, während ihre Geduld für Spielchen stark abnahm. »Vielleicht ist dir entgangen, dass ich dir eine Klinge an die Kehle halte, Edelmann.«

»Und vielleicht ist dir entgangen« – er schlug ihr Schwert weg und setzte ihr die Spitze seines eigenen an die Kehle –, »dass ich nicht irgendein willenloser Speichellecker bin, der für deinen Bruder schuftet, Annwyl die Blutrünstige von den Dunklen Ebenen.«

Annwyl sah hinab auf das Schwert und wieder zurück zu dem Mann, der es hielt. »Wer zur Hölle bist du?«

»Der Drache hat mich geschickt.« Er senkte sein Schwert. »Und er hatte recht. Du bist zu langsam. Du wirst Lorcan niemals besiegen.«

In ihr brandete die Wut auf, und sie hieb mit ihrem Schwert nach ihm. Doch es war keines ihrer oft trainierten Manöver. Es fühlte sich ungeschickt und schlampig an. Er blockte sie mit Leichtigkeit ab und schleuderte sie zu Boden.

Der Aufprall war so hart, dass ihre Zähne klapperten. Zum Glück war ihre Wunde schon verheilt, sonst hätte Morfyd sie noch einmal nähen müssen.

Der Edelmann stand über ihr. »Das kannst du doch besser, oder nicht?« Sie starrte zu ihm hinauf, und er lächelte. »Oder vielleicht auch nicht. Ich denke, das werden wir sehen.«

Er ging davon. Annwyl wusste, dass er erwartete, dass sie ihm folgte. Und aus irgendeinem unerfindlichen Grund tat sie es.

 

Sie fand ihn bei dem Fluss, der durch die Schlucht strömte. Es kostete sie all ihre Kraft, sich ihm zu nähern. Eigentlich wollte sie am liebsten zurück in die Höhle des Drachen laufen und sich unter dessen mächtigen Schwingen verstecken. Sie hatte keine Angst vor diesem Mann. Es war etwas anderes. Etwas weit Gefährlicheres.

Als sie näher kam, drehte er sich um und lächelte. Und Annwyl spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Um genau zu sein, lag das, was sich da zusammenzog, vielleicht auch ein bisschen tiefer.

Sie hatte nie einen Mann getroffen, der sie so … nun ja … nervös machte. Und dabei hatte sie seit ihrem zehnten Lebensjahr auf der Insel Garbhán gelebt; alles, was sie je gekannt hatte, waren Männer, die es sich zur Aufgabe machten, Frauen nervös zu machen, wenn nicht gar regelrecht in Angst zu versetzen.

»Also?«, fragte sie kühl.

Er kam auf sie zu und sein umwerfendes Lächeln forderte sie heraus. »Sind wir verzweifelt?«

Annwyl schüttelte den Kopf und trat von ihm zurück. »Ich dachte, du hättest etwas davon gesagt, mich für den Kampf auszubilden, Edelmann.« Für den Drachen. Sie würde das hier nur tun, weil der Drache sie darum gebeten hatte. Und sie würde sehr gut dafür sorgen, dass er das auch erfuhr.

»Aye, das habe ich, Annwyl die Blutrünstige.«

»Hör auf, mich so zu nennen!«

»Du solltest stolz auf diesen Namen sein. Soweit ich weiß, hast du ihn verdient.«

»Mein Bruder nannte mich auch Misthaufen. Ich bin sicher, dass er fand, das hätte ich auch verdient, aber mir ist es trotzdem lieber, wenn mich niemand so nennt.«

»Na schön.«

»Und hast du auch einen Namen?« Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch sie unterbrach ihn. »Weißt du was? Ich will ihn gar nicht wissen.«

»Wirklich nicht?«

»Das wird es viel leichter machen, dich grün und blau zu schlagen.«

Sie wollte ihn aus dem Gleichgewicht bringen. Dafür sorgen, dass er sich unbehaglich fühlte. Doch sein Lächeln strahlte wie ein heller Sonnenstrahl in der dunklen Schlucht. »Eine Kampfansage. Das gefällt mir.« Den letzten Satz knurrte er, und es durchfuhr ihren Körper bis hinab zu ihren Zehen. Ein Teil von ihr wollte über dieser Aussage in Panik geraten, denn sie schüchterte sie noch mehr ein als der Drache. Doch sie hatte keine Zeit dafür. Weil gleichzeitig ein Schwert an ihrem Kopf vorbeizischte und sie zwang, sich zu ducken und ihr eigenes Schwert zu ziehen.

 

Er beobachtete, wie sie sich bewegte. Saugte ihren Anblick in sich auf. Und als sie ihr Hemd auszog und den Kampf nur in Ledergamaschen, Stiefeln und den Stoffstreifen, die ihre Brüste hielten, fortsetzte, musste er sich pausenlos selbst daran erinnern, warum er ihr eigentlich half. Um sie zu einer besseren Kämpferin auszubilden. Nichts mehr und nichts weniger. Es ging nicht darum, dass er an dem samtigen Punkt zwischen ihrer Schulter und ihrer Kehle lecken konnte.

Annwyl erwies sich jedoch als verdammt gute Kämpferin. Stark. Mächtig. Höchst aggressiv. Sie hörte seinen Anweisungen gut zu und lernte die Kampftechniken rasch. Aber ihr Zorn blieb definitiv ihre größte Schwäche. Jedes Mal, wenn er einen ihrer schnelleren Hiebe parierte, jedes Mal, wenn er sich zu schnell bewegte, als dass sie Kontakt herstellen konnte, und vor allem, jedes Mal, wenn er sie berührte, geriet das Mädchen in blinde Wut. Eine alles verzehrende Wut. Und obwohl er wusste, dass die Soldaten von Lorcans Armee leicht unter ihrem Schwert fallen würden, war ihr Bruder doch etwas anderes. Er wusste, welchen Ruf dieser Mann als Krieger hatte, und auf dem Stand, auf dem Annwyl sich im Moment befand, hatte sie keine Chance. Ihre Furcht vor Lorcan würde sie vom tödlichen Schlag abhalten. Ihre Wut würde sie angreifbar machen. Der bloße Gedanke, sie könnte getötet werden, ließ eine kalte Welle der Furcht durch ihn hindurchlaufen.

Doch wenn er sie lehren konnte, ihre Wut zu zügeln, könnte sie sie zu ihrer stärksten Verbündeten machen. Sie einsetzen, um jeden zu vernichten. der sie herausforderte.

Der Sonnenstand und die länger werdenden Schatten sagten ihm, dass es spät wurde. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht sagte ihm, dass die Erschöpfung bald von ihr Besitz ergreifen würde, auch wenn sie es nie zugegeben hätte. Zumindest nicht vor ihm. Doch er wusste, was ihr den Rest geben würde. Er griff ihr an den Hintern.

Annwyl kreischte und wirbelte herum. Er schlug ihr das Schwert aus der Hand und warf sie auf den Rücken.

»Wie oft genau muss ich dir noch sagen, dass dein Zorn dich aus der Deckung lockt und angreifbar macht?«

Sie stemmte sich auf die Ellbogen hoch. »Du hast mich angegrabscht!«, warf sie ihm vor. »Schon wieder!«

Er beugte sich nach unten, bis sie Nase an Nase waren. »Ja, das habe ich. Und ich habe jede Sekunde genossen.«

Ihre Faust schoss vor in Richtung auf sein Gesicht. Doch er fing ihre Hand ab, seine Finger streiften ihre. »Wenn du natürlich lernen würdest, deinen Zorn zu zügeln, würde ich nie auch nur in deine Nähe kommen.« Er hob ihre Finger an seine Lippen und küsste sie sanft. »Aber bis diese Zeit gekommen ist, gehört dein Hintern wohl mir.«

Sie fletschte die Zähne, und er versuchte gar nicht erst, sein Lächeln zu verbergen. Wie konnte er auch, wo er doch wusste, wie sehr es sie ärgerte? »Ich glaube, wir haben für heute genug geübt. Ich zumindest. Und der Drache bekommt jetzt einen Spähtrupp zum Abendessen. Aber morgen werde ich wieder hier sein. Sei bereit, Annwyl die Blutrünstige. Es wird nicht leichter werden!«

 

Fearghus betrat den Raum, den er inzwischen als ihr Zimmer ansah, duckte sich aber sofort, als ein Buch nach seinem Kopf geschleudert wurde. Sie hatte ganz eindeutig auf ihn gewartet. Und sie war nicht gut gelaunt.

»Er ist derjenige, der mir helfen soll?«, brüllte sie ihn an.

»Hast du gerade ein Buch nach mir geworfen? In meiner eigenen Höhle?«

»Ja! Und ich würde es noch mal werfen!«

Fearghus kratzte sich verwirrt am Kopf. Er hatte noch nie einen Menschen getroffen, der mutig genug war – oder dumm genug, je nach Betrachtungsweise –, ihn herauszufordern. »Aber«, krächzte er verblüfft, »ich bin ein Drache!«

»Und ich habe Titten. Das macht mir gar nichts aus!«

»Was ist eigentlich los mit dir?«

»Dieser … dieser …«

»Ritter?«

»Bastard!«

»Ich oder der Ritter?«

»Ihr beide!«

Sein Zorn kroch ihm das Rückgrat hinauf und legte sich in seinen Nacken. Er schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Sie machte ihn wütend, und Fearghus der Zerstörer wurde niemals wütend. »Ich komme wieder, wenn du dich beruhigt hast.« Er wandte sich zum Gehen, doch sie ergriff ihn am Schwanz … und zog!

»He! Lass mich nicht einfach stehen!«

 

Hätte Annwyl sich selbst ohrfeigen können, hätte sie es getan. Nichts konnte schlimmer sein als zuzusehen, wie sich der Drache ganz langsam zu ihr umdrehte. Sie hatte ihn eindeutig verärgert. Richtig verärgert. Und als er genauso langsam auf sie zukam, wusste Annwyl, dass sie womöglich gleich ihre Vorfahren sehen würde, die sie zu Hause willkommen hießen. Doch ganz gleich: Annwyl hatte nicht vor, zurückzuweichen. Sie würde sich nicht vor irgendeinem gefährlich griesgrämigen Drachen ducken. Natürlich ließ sie sich dann doch von ihm rückwärts gegen die Höhlenwand drängen. Aber sie hatte keine Wahl – er ging einfach immer weiter.

Annwyl dachte kurz daran, in Panik zu verfallen, aber das schien ihr ungefähr so nützlich wie sich selbst zu ohrfeigen. Stattdessen nahm sie die Schultern zurück und sah direkt in die dunklen Augen des Drachen.

»Ich habe keine Angst vor dir, nur damit du’s weißt!« Beeindruckend. Sie klang fast, als meinte sie es auch so.

»Ach ja?« Sein Schwanz schnellte hervor, und die gefährlich scharfe Spitze krachte in die Höhlenwand direkt neben ihrem Kopf. Ihr Körper versteifte sich, als Steinsplitter die Seite ihres Gesichts trafen. Er stützte die Spitze eines seiner Flügel an ihrer anderen Seite an die Wand und hielt sie so in Schach. Er beugte sich dicht zu ihr vor, die geblähten Nüstern seiner Schnauze berührten fast ihr Gesicht. »Du solltest aber Angst vor mir haben, meine Schöne. Ich kann dich hier und jetzt in Asche verwandeln.«

Die Bestie hatte nicht unrecht, aber jetzt nützte es nichts mehr, einen Rückzieher zu machen. »Dann tu’s doch, wenn du’s willst.«

Der Blick des Drachen glitt über die gesamte Länge ihres Körpers. Dann atmete er tief ein, die Augen geschlossen, als schnuppere er an einer wirklich guten Mahlzeit … Na, das ist jetzt aber kein tröstlicher Gedanke.

»Niemand hat je etwas nach mir geworfen«, brachte er schließlich heraus, als sich seine dunklen Augen wieder auf sie richteten.

»Tja, du hast es verdient. Du hättest mich vor ihm warnen müssen.«

Fearghus machte einen Schritt rückwärts. Ihr wurde bewusst, dass sie die ganze Zeit den Atem angehalten hatte. Sie ließ ihn entweichen, als die Bestie noch einen Schritt von ihr zurücktrat. Sie nahm an, er habe beschlossen, sie nicht zu fressen … zumindest heute nicht. »War es wirklich so schlimm, Annwyl?« Seine Wut schien verflogen. Sie fragte sich, wie er das machte. Seinen Zorn zu zügeln. Sie beneidete ihn um diese Fähigkeit.

»Ja. War es.«

»Aber hast du etwas gelernt?«

Verdammter Drache mit seinen verfluchten Lebensweisheiten. »Das ist unerheblich.«

»Annwyl?«

»Na gut. Vielleicht ein bisschen.« Er lachte leise, und Annwyl lächelte wider Willen zurück. »Ich war immer besser als alle, mit denen ich je gekämpft habe.« Nicht, dass sie eine Wahl gehabt hätte. Ihr Vater wusste, dass sie das Kämpfen zu lehren der einzige Weg war, wie sie ihre Kindheit überleben konnte. Ihr Bruder hatte mehr als einmal versucht, sie zu töten, und sie hatte eine Tendenz, Dinge zu sagen, die manche Männer dazu brachten, sie tot sehen zu wollen. Sie nahm allerdings an, dass keiner der Männer – ihr Vater eingeschlossen – erwartet hatte, dass sie eine so gute und brutale Kämpferin werden würde. »Aber dein Ritter: Bei ihm hatte ich das Gefühl, nicht einmal einen zehnjährigen Jungen abwehren zu können.«

Fearghus seufzte. »Warte ab. Er … äh … tut, worum ich ihn gebeten habe.« Sie wollte nicht abwarten. Oder dem Ritter eine Chance geben. Sie fand ihn … beunruhigend. Und das Gefühl mochte sie gar nicht. Und sie hasste ihn dafür, dass er diese Gefühle in ihr auslöste. Sie hasste ihn sehr.

»Sicher?«

»Auf jeden Fall.« Er musterte sie. »Alles klar?« Sie zuckte die Achseln. »Annwyl. Antworte mir.« Ihr Götter, konnte der autoritär sein! Er schrie nicht. Das musste er gar nicht. Und es hatte nichts mit seiner Größe zu tun. Es schickte einen köstlichen kleinen Schauder durch ihren ganzen Körper.

Bei den Göttern, Annwyl! Reiß dich zusammen!

»Ja. Alles klar.« Sie starrte ihn böse an, auch als ihre Wut verraucht war. »Aber ich werde nicht nett sein!«

Der Drache sah sie von oben bis unten an. »Ich glaube nicht, dass ihn das groß kümmern wird.«

Sie verdrehte die Augen. »Vermutlich nicht.« Sie trat von dem Drachen zurück. »Männer sind abscheulich.«

 

Fearghus konnte nicht fassen, wie wütend sie ihn machte. Er wurde nie wütend. Verärgert? Definitiv. Streng? Absolut. Aber die Beherrschung verlieren? Das tat er einfach nicht. Nie. Bis sie kam. Und es war auch nicht hilfreich, dass sie, wenn sie wütend wurde, diesen Geruch abgab … Moschus vielleicht. Etwas, das ihn ansprach. Er hatte es schon einmal gerochen, als er sie so höllisch geärgert hatte wie nun der Ritter. Er hatte große Mühe gehabt, diesen Geruch zu ignorieren. Doch diesmal gab er nach und genoss ihren Geruch. Ließ ihn durch seine Adern pulsieren. Er weckte alle möglichen Bilder in ihm. Dinge, die er mit ihr tun könnte. Dinge, die sie mit ihm tun könnte. Es war nicht gerade förderlich für seine Entschlossenheit.

Er sah ihr nach. Sah, wie sich ihr festes Hinterteil in den Ledergamaschen bewegte. Er konnte nicht anders. Er versetzte diesem Hinterteil einen Klaps mit seinem Schwanz.

»He!« Sie wirbelte herum und sah den Drachen böse an. »Wofür war das denn?«

Dafür, dass du den tollsten Hintern hast, den ich je gesehen habe. Nein, das sollte er besser nicht sagen.

»Um dich daran zu erinnern, dass du in meiner Höhle bist. Vergiss das nicht.«

Sie hätte wütend sein sollen, grinste aber stattdessen. Interessant. »Ich werde es mir merken.«

Sie starrten einander an. Und wenn Fearghus in seiner menschlichen Gestalt gesteckt hätte, hätte er sie geküsst und alles andere getan, was er sich vorstellen konnte. Doch das konnte er nicht tun. Er würde es nicht tun. Keine Beziehungen mit Menschen. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Dabei würde er bleiben. Egal, wie sehr er saugen wollte an diesen … Verdammt! Er musste gehen, bevor er noch etwas Unangemessenes tat. Etwas, das Spaß machte. Aber unangemessen war. »Ist sonst noch was?«

»Nein.«

Gut. Fearghus ging zum Ausgang.

»Aber …«

Fearghus zuckte zusammen und sah zu ihr zurück. »Aber?«

»Na ja, jetzt, wo« – sie räusperte sich –, »wir all das geklärt haben, hatte ich gehofft, wir könnten reden.«

»Reden?« Das lenkte ihn gründlich davon ab, an irgendetwas an ihr lutschen zu wollen. »Worüber?«

»Über alles.«

Hätte Fearghus Augenbrauen gehabt, er hätte sie hochgezogen. Von dem Ritter, den sie für einen Menschen hielt, konnte sie nicht schnell genug wegkommen. Aber sie wollte hier sitzen und mit dem Drachen plaudern, der noch Augenblicke zuvor gedroht hatte, sie zu Asche zu verglühen. Ein seltsames Mädchen.

Vorsichtig drehte er sich um und setzte sich auf die Hinterbeine, sein Kopf kratzte an der Decke. »Na gut … ich denke, das kann ich.«

»Gut!« Eifrig sprang sie auf den Tisch und setzte sich mit überkreuzten Beinen. »Soll ich anfangen?«

»Das wäre vielleicht besser.«

»Wie du wünschst.« Sie verfiel in Schweigen, während sie nachdachte, und er starrte auf ihre Brüste. Sie hatte die Bandagen abgenommen, und er konnte die Konturen ihrer perfekt gerundeten Hügel unter dem Baumwollhemd sehen. Ihr Götter, Fearghus! Reiß dich zusammen!

»Ich weiß etwas. Wie alt bist du?«

»Zweihundertachtundsechzig.«

»Jahre?«

»Aye.«

»Dann sind Drachen also unsterblich?«

»Nein.«

»Aber die Legenden sagen, ihr seid es.«

»Sie irren sich.« Sie forderte ihn auf fortzufahren. Er war es nicht gewohnt, so viel zu reden. »Die ersten Drachen, die Ältesten, waren unsterblich. Aber ein Paar bat die Götter, ihnen Kinder zu schenken. Die Götter willigten ein, aber der Preis war, dass sie ihre Unsterblichkeit verloren. Unsere Linie stammt von ihnen ab.«

Annwyl starrte ihn mit offenem Mund an. »Das ist die süßeste Geschichte, die ich je gehört habe.«

»Wirklich?« Das Mädchen las zu viele Bücher.

»Ja. Sie ist romantisch. Sie gaben ihre Unsterblichkeit auf, um zusammen zu sein und eine Familie zu gründen.«

Fearghus zuckte die Achseln. »Diese Geschichte wird den Drachenkindern erzählt. Ich bin mir fast sicher, dass mehr dahintersteckt.«

»Bist du immer so zynisch?«

»Ja.«

»Also bist du nicht unsterblich, aber deine Gattung lebt eindeutig eine lange Zeit.«

»Ja. Ungefähr 800 Jahre.«

»Also bist du, verglichen mit anderen Drachen, noch ein ziemliches Baby.«

Fearghus grunzte. »Wenn du das Bedürfnis hast, es so auszudrücken.«

»Geschwister?«

»Ja.«

»Wie viele?«

Fearghus seufzte und machte sich auf eine zweifellos lange und unangenehme Nacht gefasst. Er sehnte sich fast nach der Zeit, als sie bewusstlos und dem Tode nahe gewesen war. »Zu viele. Und du?«

Stirnrunzelnd fragte sie: »Sollte das ein Witz sein?«

Uups. Er hatte eigentlich nur höflich sein wollen. Natürlich war er im Höflichsein noch nie besonders gut gewesen. »Nein. Ich habe mich nur gefragt, ob es da noch jemanden gibt außer der Dämonenausgeburt, die du Verwandtschaft nennst.«

»Leider nein. Oder zumindest niemanden, den mein Vater anerkannt hätte.« Sie stützte die Ellbogen auf ihre Knie und legte das Kinn in die Hände. »Stehst du deiner Familie nahe?«

»Nur einer Schwester. Die anderen sehe ich nur zu Familienfesten. Und das auch nur ungern.«

»Drachen haben Familienfeste? Sind das einfache Zusammenkünfte oder sind dabei Jungfrauenopfer erforderlich?« Fearghus lachte bellend auf, und das Mädchen lächelte. »Siehst du? Ich hab dich zum Lachen gebracht.«

»Das hast du.«

Vielleicht würde der Abend doch nicht ganz so unangenehm werden.