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6 Lorcan schleuderte den Tisch quer durch den Raum und zerquetschte damit beinahe einen seiner Soldaten. Er brüllte vor Wut. Sieben Tage, und sie hatten noch immer weder das verfluchte Mädchen noch irgendeinen seiner Männer gefunden.

Er schnappte sich zwei schwere Holzstühle und schleuderte sie hinterher. Seine Wachen stoben auseinander und rannten in Sicherheit. Doch es gab keine Sicherheit vor seiner Raserei. Eine Raserei, mit der es nur eine einzige andere aufnehmen konnte.

»Findet sie! Findet das Miststück!« Mehrere seiner Männer starrten ihn mit leerem Blick an. »Jetzt!« Die Männer rannten davon.

Lorcan lehnte seine brennende Stirn an den kühlen Stein seiner Burgmauer.

»Mylord?« Lorcan atmete tief durch und sah seinen Berater an. Hefaidd-Hen war immer noch der Einzige, der mutig genug war, sich ihm während einer seiner Rasereien zu nähern. »Vielleicht entgeht uns das Offensichtliche.«

»Und das wäre?« Lorcan wandte sich langsam um, seine Wut bis zu einem gewissen Grad gezügelt.

»Vielleicht ist deine Schwester in die Finstere Schlucht geflohen.«

»Meine Schwester ist schwach und dumm, aber sie ist nicht verrückt. Niemand geht in die Finstere Schlucht. Denn niemand kommt je von dort wieder. Sie weiß das nur zu gut.«

Hefaidd-Hen richtete beunruhigend milchigblaue Augen auf seinen Herrn, und Lorcan schauderte innerlich. »Sie ist vielleicht nicht freiwillig dort hingegangen, doch das heißt nicht, dass sie nicht dort ist.«

»Dann wäre sie also schon tot?«

»Nein. Alle Zeichen sagen mir, dass sie noch lebt.«

Lorcan schnaubte. Er hätte es besser wissen müssen als sich Hoffnungen zu machen.

»Wie lautet in diesem Fall dein Rat, Zauberer?«

Hefaidd-Hen lächelte, wenn man das so nennen konnte. »Lass mich ein paar deiner Männer mitnehmen und selbst zur Finsteren Schlucht gehen. Ich werde sehen, ob ich sie finde.«

»Ich kann es mir nicht leisten, dich zu verlieren, Hefaidd-Hen. Auch wenn es bedeutet, sie zu vernichten. Ich brauche dich während dieser Rebellenangriffe. Jeden Tag kommen mehr Truppen an, um mit ihr zu kämpfen.«

»Und solange sie am Leben ist, werden sie weiter kommen.«

»Ich sagte nein.« Lorcan, sein Zorn verraucht, setzte sich schwer auf einen der Stühle, die er noch nicht geworfen hatte. »Aber schick ein paar von meinen Kriegern. Sorge dafür, dass sie wissen, dass sie in die Finstere Schlucht gehen sollen, oder andernfalls wird das, was sich dort versteckt, die geringste ihrer Sorgen sein.«

Hefaidd-Hen verneigte sich tief. »Wie du wünschst, Mylord.«

Dann verabschiedete sich der Zauberer, und Lorcan begann wieder zu atmen. Er dachte an seine widerliche kleine Schwester und genoss die Vorfreude auf das Vergnügen, das er empfinden würde, wenn er ihren Kopf auf einem Spieß vor seine Burgmauern pflanzte.

»Ich werde dich kriegen, Miststück«, knurrte er leise, in der Hoffnung, dass seine Worte den Weg zu ihr finden würden, wo immer sie war. Er wollte, dass sie wusste, dass er anstelle seines Vaters das Land regieren würde. Er wollte, dass sie wusste, wie sehr er sie hasste.

Er brüllte erneut, als seine Wut verzehnfacht zurückkehrte. Er brüllte und brüllte, bis er wusste, dass sie ihn hörte, wo immer sie war.

 

Annwyl sprang nackt aus dem Bett auf. Ihr Schwert, das sie immer in Reichweite auf dem Boden hatte, fest in der Hand. Die Präsenz ihres Bruders umgab sie. Sie spürte ihn nahe bei sich. Sie wirbelte herum, in der Erwartung, ihn hinter sich stehen zu sehen.

»Ist alles in Ordnung?«

Annwyl knurrte überrascht, als sie die Stimme hörte. Ohne nachzudenken, aus reinem Instinkt, wirbelte sie noch einmal herum und schleuderte ihr Schwert durch den Raum. Der einzige Grund, warum die Klinge nicht in Morfyds Stirn schoss, war, dass die Hexe sich zu schnell bewegte. Mit einem heiseren Aufschrei fiel sie zu Boden.

»Bei allen Göttern, Morfyd!« Annwyl, der jetzt bewusst wurde, wo sie war und dass sie eigentlich in Sicherheit war, rannte zu der Frau. »Bist du verletzt?«

Die Hexe ergriff die Hand des Mädchens und ließ sich von Annwyl aufhelfen. »Nein. Nein, mir geht es gut.«

»Morfyd, es tut mir so leid!«

»Ist schon gut.« Morfyd ließ sich schwer auf einen der Stühle sinken. »Ich habe dich erschreckt.«

Annwyl kniete sich neben Morfyd. Sie schaffte es nicht, die Hand der Frau loszulassen. »Ich dachte, er wäre hier«, flüsterte sie.

Morfyd runzelte die Stirn. »Du dachtest, wer wäre hier?«

»Mein Bruder. Ich habe ihn hier gespürt, Morfyd. Genauso sicher, wie du jetzt hier sitzt.«

»Du hast nur geträumt. Er kann dir hier nichts tun. Fearghus würde das niemals zulassen.«

Die Hexe sprach natürlich die Wahrheit. Sie vertraute dem Drachen ihr Leben an, mehr als jedem ihrer eigenen Soldaten. Sogar mehr als Brastias.

»Danke für dein Verständnis.« Annwyl stand auf, ging zurück zu ihrem Bett und wickelte sich eine der Felldecken um ihren zitternden, nackten Körper. »Und für deine schnelle Reaktion. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich …«

»Das hast du aber nicht. Also vergessen wir das am besten sofort wieder. Hier.« Morfyd gab ihr ein Pergament. Annwyl sah Brastias’ Siegel und lächelte.

»Dann hast du ihn also gesehen?«

»Aye. Er schien ehrlich erleichtert, dass du noch lebst.«

Annwyl setzte sich aufs Bett. »Und meine Männer?«

»Sie haben noch Hoffnung.«

Annwyl nickte. »Danke, dass du das für mich getan hast.«

Morfyd stand auf. »Keine Ursache. Ich hole dir etwas zu essen, während du den Brief liest.«

Kaum war die Hexe gegangen, entfernte Annwyl vorsichtig das Siegel und faltete das Pergament auf.

Annwyl,

Wir warten auf deine Rückkehr.

Immer dein, in Leben, Tod und Krieg.

Brastias

Annwyl las den Brief noch einmal und drückte ihn dann an ihre Brust. Ihre Armee wartete. Sie musste bald zurückkehren.

 

Fearghus beobachtete, wie seine Schwester mehrere Stücke Obst nahm. Ihr menschlicher Körper schien zittriger als gewöhnlich. »Ist alles in Ordnung?«

»Das verrückte Miststück hat ein Schwert nach meinem Kopf geworfen.«

Er musterte seine Schwester. »Was hast du zu ihr gesagt?«

Morfyd wirbelte herum und starrte ihn böse an, während das Obst in alle Richtungen flog. »Was ich … Wie kommst du darauf … Wie kannst du es wagen …« Morfyd unterbrach sich und riss sich zusammen. »Ich habe gar nichts getan, Bruder. Sie hatte einen Albtraum von Lorcan oder so etwas. Ich bin zufällig zur falschen Zeit hereingekommen.«

»Oder so etwas?«

Morfyd zuckte die Achseln, während sie sich hinkniete, um das verstreute Obst aufzusammeln. »Es kann sehr gut sein, dass er über ihre Träume Kontakt zu ihr aufnimmt.«

»Ich dachte, du hättest Schutzzauber um die Höhle aufgebaut?«

»Das habe ich auch«, blaffte sie zurück. »Das heißt aber nicht, dass er keinen Zauberer gefunden hat, der sie umgehen könnte.«

Fearghus ging zu seiner Schwester hinüber. Er ragte in seiner menschlichen Gestalt über ihr auf, angekleidet und bereit, sein Training mit Annwyl zu beginnen. »Niemand sollte in der Lage sein, an deinen Schutzzaubern vorbeizukommen, Schwester. Und wenn es die Königin höchstpersönlich ist. Ich will, dass Annwyl sicher ist. Verstanden?«

Morfyds Augen verengten sich, als sie ihren Bruder musterte. »Warum bist du so angezogen?« Ihr Stirnrunzeln verstärkte sich. »Und warum bist du überhaupt ein Mensch?«

Verdammt. »Ich muss in die Stadt.«

»In die Stadt? Wozu?«

»Vorräte. Und jetzt mach weiter mit deinen Zaubern. Bitte.«

Er stürmte davon, bevor sie ihm noch mehr Fragen stellen konnte, die ihn zwingen würden, sie weiter anzulügen.

 

Annwyl fiel. Dann landete sie. Ihr Rücken traf hart auf den Boden, danach ihr Kopf. Dort lag sie. Unfähig, sich zu rühren. Plötzlich schob sich sein Gesicht in ihr Blickfeld.

»Tut mir leid.«

Das tat es nicht. Ihm tat überhaupt nichts leid. Sie hatte ein paar wirklich gute Schläge angebracht, und er konterte, indem er sie voll auf ihre Rückseite warf … und zwar hart.

Sie brauchte einige Augenblicke, um wieder zu Atem zu kommen; dann hielt er ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Sie schlug seine Hand weg und stemmte sich mühsam selbst hoch, bis sie auf dem harten Boden kniete.

Sie starrte ihn finster an.

»Wofür dieser Blick? Es ist nicht meine Schuld, dass du nicht schnell genug warst.«

Annwyl schlug ihn ins Gesicht. »War das schnell genug?«, fuhr sie ihn an.

Jetzt blickte er finster, während er sich die leicht verletzte Nase hielt.

Annwyl kam auf die Beine, doch der Krampf in ihrem Nacken und den Schultern zwang sie sofort wieder zu Boden. Sie ächzte vor Schmerzen, und der Ritter sah sie an.

»Was ist los?«

»Nichts.«

»Lügnerin.« Er ging um sie herum und legte ihr die Hände auf die Schultern. Seine Berührung schickte Stromschläge durch ihren Körper. Annwyl versuchte, seine Hände wegzuschieben, aber er ignorierte sie.

»Stell dich nicht so an.«

Seine starken Hände glitten über ihre Schultern und fanden rasch den Punkt an ihrer Halswurzel, wo die Muskeln sich zu festen Knoten ballten. »Ihr Götter, Mädchen! Da ist ja ein riesiger Knoten!« Sein Daumen drückte ihr ins Fleisch, und Annwyl zuckte zusammen.

»He! Das tut weh!«

»Tut mir leid.«

»Tut es dir nicht!« Sie stand auf und versuchte, sich von ihm loszumachen, doch er zog sie zurück.

»Musst du so schwierig sein? Wenn du mir einen Moment Zeit gibst, kann ich das in Ordnung bringen.«

Annwyl knirschte mit den Zähnen.

Der Ritter lachte in sich hinein, während seine Hände die Muskeln an ihren Schultern massierten. Annwyl biss sich auf die Unterlippe und verkniff sich gerade noch ein Stöhnen. Der Mann hatte die unglaublichsten Hände, die sie je erlebt hatte. Sie schloss die Augen und versuchte, sich auf etwas zu konzentrieren – irgendetwas! –, das sie von dem Gefühl seiner Berührung ablenkte.

Die Muskeln lösten sich unter seinen Fingern, und sie merkte, wie sie sich entspannte … widerwillig.

»Du kennst meinen Namen immer noch nicht, weißt du das?«

»Und ich will ihn immer noch nicht wissen.« Wenn sie mit Fearghus die Höhle verließ, wollte sie diesen Mann nie wiedersehen. Zumindest redete sie sich das ein.

»Was für ein schwieriges Mädchen.«

»Ich bin wohl kaum ein Mädchen!«

»Oh. Entschuldige. Ist dir alte Jungfer lieber?«

Annwyl ballte ihre Hände zu harten Fäusten.

»Der Knoten ist schon wieder da. Ist nur noch schlimmer geworden.« Was für eine Überraschung.

Der Ritter nahm ihren Arm und massierte ihn bis ganz unten. An ihrer geballten Faust hielt er an. »Locker lassen.«

Sie sah ihn böse an, antwortete aber nicht. Er schlug ihr auf den Handrücken. »Au!«

»Ich sagte locker lassen, Frau!«

Sie öffnete ihre Hand, und er begann, sanft jeden Finger zu massieren.

»Du magst mich nicht, oder?«

»Nein.«

»Magst du den Drachen?«

»Natürlich mag ich den Drachen.«

»Was meinst du mit ›natürlich‹? Niemand mag Drachen.«

»Warum bist du dann hier?« Er öffnete den Mund zu einer Antwort, hielt aber abrupt inne. Annwyl nickte wissend: »Ich verstehe.«

»Was verstehst du?«

»Ich weiß, was los ist.«

»Ach ja?«

»Du kannst mich nicht täuschen.« Sie deutete auf das Wappen auf seinem Waffenrock. »Diese Armee wurde seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen.«

Der Ritter sah auf sein Wappen hinab, als sähe er es zum ersten Mal. Annwyl sah zu, wie ihm eine widerspenstige Strähne schwarzen Haares über das Auge fiel. Sie sehnte sich danach, dieses Haar zu berühren. Sehnte sich danach, zu spüren, wie es über ihre nackte Haut glitt. Ich bin vollkommen durchgedreht!

»Tatsächlich?« Er klang so unschuldig, oder versuchte es zumindest.

»Ja. Tatsächlich. Wo hast du es überhaupt gefunden? In irgendeiner Burg, die du ausgeraubt hast? Oder in der Höhle des Drachen? Von wegen Ritter! Du bist ein Söldner! Eine käufliche Klinge! Der Niedrigste der Niedrigen!«

Der Ritter stieß einen tiefen Seufzer aus und wandte den Blick ab. Ha! Sie hatte ihn ertappt.

 

Er liebte die totale Unfähigkeit der Menschen, etwas zu sehen, selbst wenn sie es direkt vor der Nase hatten. Er wusste auch, was der Grund dafür war. Ihre Logik. Wie konnte sich so etwas Großes wie ein Drache in einen Menschen verwandeln? Menschen verstanden nichts von alter Magie und wie mächtig sie sein konnte.

Einen Augenblick hatte er wirklich geglaubt, Annwyl hätte es herausgefunden. Trotzdem war er immer noch dankbar, dass es nicht so war. Er wusste, dass er sie nicht belügen sollte, und am Anfang hatte er das auch wirklich nicht vorgehabt. Er vertraute ihr jetzt mehr als jedem anderen, doch ihre Reaktion auf ihn als menschliches männliches Wesen brachte ihn vollkommen durcheinander.

Sie wollte den Ritter, aber sie hasste den Ritter. Sie mochte den Drachen, schien ihm aber – was wenig überraschte – keine anderen Gefühle als allgemeine Freundlichkeit entgegenzubringen.

Annwyl blieb das komplexeste Wesen, dem er je begegnet war. Und wenn er nicht gerade auf ihre Brust oder ihren Hintern starrte, fand er sie intelligent, reizend und extrem lustig. Es machte einfach Freude, sie um sich zu haben. Doch nur der Drache schien das Glück zu haben, diese Seite von ihr zu sehen. Wenn er als der Ritter zu ihr kam, war sie mürrisch, übellaunig und rundheraus unverschämt. Er hatte sie trotzdem gern um sich, aber das lag wahrscheinlich daran, dass er es mochte, wie sie roch, wenn sie wütend wurde. Ein ganz spezieller Geruch, der ihn jedes Mal, wenn er einen Hauch davon erhaschte, zwang, gegen seine Erektion anzukämpfen.

Annwyl, was ich alles mit dir anstellen könnte …

Er musste sich konzentrieren. Jetzt. In diesem Augenblick. Oder es würde damit enden, dass er etwas sehr Dummes tat.

Er räusperte sich und ließ ihren Arm los. »Besser?«

»Ja.«

»Und …?«

»Und was?«

Er hob eine Augenbraue, und Annwyl zog ein grimmiges Gesicht. »Danke.«

»Na, war das jetzt so schwer?«

Sie wandte sich ab, und er erhaschte noch einen Blick auf dieses hübsche Hinterteil. Er gab ihr einen Klaps mit der Handfläche. Annwyl blieb stehen. Knirschte mit den Zähnen. Tat aber nichts.

Er näherte sich ihr von hinten. »Gut«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Du wirst besser. Du würdest mich am liebsten zu Brei schlagen, aber du bist in der Lage, dich zu beherrschen. Sehr schön.« Er wollte sie so sehr berühren, doch er bekämpfte diesen Wunsch, so gut er konnte. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass ein menschlicher Körper so schwer zu kontrollieren war.

»So«, bellte er barsch. »Fangen wir wieder an.«

 

»Also.« Morfyd stellte eine Schüssel Eintopf vor Annwyl hin. »Erzähl mir von deinem Brastias.«

Annwyl blickte finster. »Er ist nicht mein Brastias. Im Moment ist er der Brastias von keiner Frau.« Annwyls finsterer Blick verwandelte sich schnell in ein Grinsen. »Interessiert?«

»Was?« Morfyd zuckte zusammen. »Nein!«

»Ah, dann bist du also nur neugierig.«

»Ach, vergiss, dass ich gefragt habe.«

Annwyl tauchte den Löffel in den deftigen Eintopf. Nach ihrem langen Tag mit dem Ritter verlangte ihr Körper nach Nahrung.

»Ist es schwierig, mit all diesen Männern zu leben? Den ganzen Tag? Täglich?«

Annwyl trank etwas von Morfyds Wein. Sie wusste, dass die Gefahr einer Infektion vorüber war, doch der Wein schmeckte trotzdem unglaublich köstlich.

»Überhaupt nicht.«

»Wirklich?«

»Absolut. Wenn dich einer der Männer unangemessen berührt, schlägst du ihm den Arm direkt am Schultergelenk ab. Dann, während er verblutet, schlägst du ihm das Gesicht zu Brei, und du wirst feststellen, dass die anderen Männer dich in Ruhe lassen.«

Morfyd starrte Annwyl mit großen Augen an.

»Was denn?«

Morfyd räusperte sich. »Nichts.«

Annwyl hörte Fearghus kommen; die Höhle erzitterte unter jedem seiner mächtigen Schritte. Sie sah nicht von ihrer Mahlzeit auf, bis er den Raum betrat. »Drachenfürst.«

»Lady Annwyl.«

»Ich hatte mich schon gefragt, wann du kommen und mich besuchen würdest.«

Der Drache würdigte Morfyd kaum eines Blickes. »Musst du nicht irgendwohin, Morfyd?«

»Nein.«

Der Drache stieß ihren Stuhl mit einer seiner Krallen an. Sie starrte ihn böse an, stand aber auf. »Na schön. Ich gehe zurück ins Dorf.«

»Gute Idee. Du musst dich um all die kranken Menschen kümmern.«

Morfyd lächelte den Drachen verächtlich an, während sie sich an Annwyl wandte. »Wir sehen uns morgen, Annwyl.«

»Ich wünsche dir eine gute Nacht.«

Annwyl aß ihren Eintopf auf, dann wandte sie sich dem Drachen zu, einen Becher Wein in der Hand.

»Also, Drachenfürst, was sind deine Pläne für den heutigen Abend?«

Er setzte sich unbeholfen zurecht, und das Ende seines tödlichen Schwanzes landete sanft in ihrem Schoß. »Tja, ich dachte, wir könnten noch mal diese Sache machen.«

»Diese Sache?« Annwyl versuchte mit aller Macht, ihr Lächeln zu unterdrücken, während sie mit der Hand über die geschuppte Spitze strich. Das äußerste Ende war geformt wie eine Pfeilspitze und genauso scharf. Sie dachte kurz darüber nach, ob der Drache sie wohl mit einem Stein schleifen musste. »Du meinst reden?«

»Ja. Ja. Wie auch immer man es nennt.«

»Du redest gern, was? Gib es zu!«

»Ich rede gern mit dir. Und das ist alles, was ich zugebe.«

»Na gut. Kein Grund, brummig zu werden.« Seine Schnauze kam ebenfalls näher. Ohne auch nur darüber nachzudenken, streichelte sie mit der Hand darüber. Und der Drache ließ es zu. »Also, erzähl mir mehr von deiner Familie.«

»Langweilen dich meine Familiengeschichten nicht?«

»Überhaupt nicht.« Sie beugte sich vor und sah ihn an, die Hand wieder auf seiner Schwanzspitze. »Ich warte.«

Fearghus seufzte. »Also gut, einmal haben wir unserem kleinsten Bruder den Kopf rasiert.«

Annwyl lachte schallend auf.