43 Rhi summte vor sich hin und zeichnete einen schönen Baum, der ein paar Hundert Meter entfernt stand. Sie war sehr gut gelaunt. Ihre Schwester und ihr Onkel waren beide in Sicherheit, kamen nach Hause. Mussten eigentlich jeden Augenblick zurück sein. Was Izzy zu sagen haben würde, wusste Rhi allerdings immer noch nicht. Und falls ihre Mutter es wusste, sagte sie es ihr noch nicht.
Das war aber okay. Sie konnte warten. Denn im Moment zählte nur, dass ihre Schwester und ihr Onkel in Sicherheit waren. Und, wie sie annahm, sehr verliebt.
Rhi hörte auf zu summen, damit sie lächeln konnte.
»Lady Rhianwen?«
Rhi blickte auf, ihr Lächeln wurde strahlender. »Hallo, Frederik! Und bitte, nenn mich Rhi. Das machen alle.«
»Wenn ich das tue, schaut dein Vater mich böse an.«
»Nimm es nicht persönlich. Mein Vater schaut alle außer mir und Izzy böse an. Sogar meine Mutter. Sie findet es allerdings süß.« Sie musterte den Jungen aus den Nordländern. »Das ist ein ziemlich großer Bücherstapel, den du da dabeihast.«
»O ja. Tante Dagmar hat mir Leseaufgaben gegeben.«
»Wie viel Zeit hast du, um all das zu lesen?«
»Ziemlich viel. Bis zum Abendessen.«
Rhi blinzelte. »Oh. Na gut.« Sie zeigte auf eine Ecke der Felldecke, auf der sie saß. »Würdest du dich gern zu mir setzen? Ich zeichne nur, und ich verspreche, dich nicht beim Lesen zu stören.«
»Bist du sicher? Ich will dich nicht unterbrechen.«
»Nein, nein. Tust du nicht. Wir sind jetzt so was wie eine Familie, also sollten wir uns auch so verhalten. Bitte, setz dich!«
Mit einem Nicken legte er die Bücher im Gras ab und setzte sich auf die gegenüberliegende Ecke der Decke. Er hätte nicht so weit weg sitzen müssen, aber sie machte ihm auch keinen Vorwurf. Ihr Vater hatte vor dem armen Frederik einige Dinge gesagt, um klarzustellen, dass seine Tochter tabu war.
Rhi machte sich wieder an ihre Zeichnung; sie genoss es, wie sie langsam entstand, während sie gleichzeitig die stille Gesellschaft eines männlichen Wesens zu schätzen wusste. So arbeiteten sie fast eine halbe Stunde, als ein Schatten über sie fiel. Mit der Hand schirmte sie die Augen vor den hoch am Himmel stehenden Sonnen ab, blickte auf und lächelte Albrecht an. Ihr Besuch in der Stadt neulich war wirklich gut gelaufen; Onkel Brastias war nicht annähernd so brutal wie ihr Vater, wenn Lord Pombrays Sohn Rhi zu nahekam.
»Hallo, Lord Albrecht. Wie geht es dir?«
Der Junge antwortete nicht, und sofort sah sie das Leid auf seinem Gesicht.
»Albrecht?«
»Ich … es tut mir so leid.«
Starke Hände packten Rhi und rissen sie hoch. Lord Pombrays Wachen waren hinter sie getreten, und sie hatte nichts davon bemerkt.
»Was soll das?«
»Gib nicht dem Jungen die Schuld.« Lord Pombray kam um seine Wachen herum und schaute auf Rhi hinab. »Es ist wirklich nicht seine Schuld.«
»Was tut ihr?«
»Du kommst mit uns.«
»Du glaubst doch nicht wirklich, dass meine Sippe dich damit durchkommen lässt, oder?«
»Wenn sie dich lebend wiederhaben wollen …«
»Vater …«, begann Albrecht.
»Halt den Mund!« Er lächelte Rhi an. »Dein Vater, dein Onkel und alle anderen Drachen sind heute nicht hier, also wird dir keine Flugechse zu Hilfe kommen. Deshalb lass es uns nicht schwerer machen als nötig. In Ordnung?«
»Bitte tu das nicht«, flehte Rhi.
»Wir werden dir nicht wehtun, Mädchen. Ich verspreche es.«
»Ich fürchte, sie macht sich nicht um sich selbst Sorgen.«
Pombray warf Frederik einen ärgerlichen Blick zu.
»Was weißt du schon davon, Barbarenjunge?«
»Ich wusste, was du vorhattest. Deine Männer sind redselig, wenn sie im Pub betrunken sind. Und ich wandere gerne in Pubs herum … wegen der Betrunkenen, die zu redselig werden.« Frederik stand auf. »Meine Tante Dagmar weiß schon davon. In diesem Moment ist Rhis Drachensippe auf dem Weg hierher.«
»Du kleiner Bastard.«
»Aber selbst wenn sie nicht schnell genug sein sollten, habe ich schon gelernt, dass Lady Rhianwen niemals wirklich allein ist.«
»Und was bei den Höllen soll das …«
Das Schwert stieß durch Pombrays Rücken und vorn wieder heraus; Blut bespritzte Rhis Gesicht.
Die Klinge wurde herausgerissen, und die Zwillinge kamen um Pombray herum. Von Talwyns Schwert tropfte das Blut. Wie die meisten anderen ihrer Drachensippe war sie eine Freundin von Überraschungsangriffen. Während Talan eher nach seiner Mutter kam. Er wog eine Streitaxt in den Händen, schwang sie und trennte Pombrays Kopf von seinen Schultern.
»Mylord, nein!«, schrie einer der Wächter.
Rhi schaute Albrecht an. »Lauf«, sagte sie. »Lauf und schau dich nicht um. Lauf!«
Der Junge rannte los; Tränen strömten ihm über die Wangen, während Talwyn Pombrays Kopf zur Seite trat.
»Also, wer von euch ist der Nächste?«, fragte sie lächelnd.
»Tu das nicht, Talwyn!«, flehte Rhi ihre Cousine an. »Bitte!«
»Sei nicht so schwach!«, blaffte ihre Cousine. »Die Grenze wurde überschritten. Sie sterben.«
Der Wächter, der Rhi festhielt, packte ihre Haare und riss ihren Kopf nach hinten. »Aber zuerst stirbt diese Schlampe, du Monster.«
Angst und Panik rasten durch Rhi wie ein Feuersturm, und bevor sie es aufhalten konnte, brach ihre Macht aus ihr heraus wie ein aktiver Vulkan.
Als der Himmel sich plötzlich verdunkelte, brachte Izzy ihr Pferd zum Stehen, und ihr Vater ließ sich vor ihr auf den Boden fallen.
»Daddy?«
»Izzy! Deine Schwester! Wo ist sie?«
»Ich weiß …«
Éibhear neigte den Kopf. »Izzy … was ist das für ein Geräusch?«
»O ihr Götter«, flüsterte Izzy, als ein schreckliches brausendes Geräusch an ihre Ohren drang. Obwohl sie es noch nie zuvor gehört hatte, konnte sie leicht erraten, wo es herkam.
»Éibhear«, befahl Briec. »Bring Izzy hier weg. Sofort!«
Aber Izzy packte Éibhear am Arm, bevor er seine Drachengestalt annehmen konnte, und sah zu, wie Elisa und die anderen Nolwenns, die sie eskortiert hatten, von ihren Pferden abstiegen und ihre gebündelte Aufmerksamkeit auf die Tiefe des Waldes richteten.
Sie alle hoben die Hände und sprachen einen Zauber, und Izzy spürte, wie die Kraft, die sie entfesselten, explosionsartig aus ihnen heraus und in den Wald strömte. Das Brausen aus dem Inneren des Waldes stieß auf die Macht von außen. Die Mächte kollidierten, der Boden unter ihren Füßen bebte, der Himmel über ihnen verdunkelte sich weiter. Ihre Pferde gerieten in Panik, und Izzy ließ Éibhear los, damit sie beide ihre Tiere unter Kontrolle bekommen konnten.
Der Krieg zwischen den beiden Mächten tobte, dann … erstarb er abrupt.
Das Beben hörte auf. Der Himmel wurde wieder strahlend blau.
Elisa senkte die Hände, taumelte rückwärts, und ihre Nolwenn-Schwestern fingen sie auf. Zwar war Izzys Urgroßmutter von all dem geschwächt, aber sie und die Nolwenns hatten tun können, was sonst keiner geschafft hatte: Rhi stoppen, bevor sie alle vernichtete, die sie liebte.
»Mir geht es gut«, sagte Elisa schwach. »Oder es wird mir wieder gut gehen. Ich brauche Essen. Wein.«
Izzy streckte die Arme aus. »Gebt sie mir.«
Sie hob ihre Urgroßmutter aus den Armen der Hexen und stemmte sie mit Leichtigkeit auf ihren Sattel. »Halt dich fest.«
Dann brachte Izzy Elisa direkt nach Garbhán.
Als das Beben endete, stand Talaith auf, rannte die Treppe hinunter, durch den Bankettsaal und hinaus auf die Treppe. Doch bevor sie hinuntergehen konnte, sah sie schon ihre Tochter auf den Hof reiten. Eine Frau in einem Hexengewand saß vor ihr.
»Izzy?« Zu wissen, dass ihre Tochter gesund und wohlauf war, konnte man nicht damit vergleichen, zu sehen, dass sie gesund und wohlauf war. »Den Göttern sei Dank, Izzy.«
»Mir geht es gut, Mum. Rhi auch, glaube ich. Daddy holt sie gerade.«
»Gut. Gut.« Talaith ging ein paar Stufen hinab, blieb aber mit aufgerissenen Augen stehen. »Elisa?«
Erschöpft vom Entfesseln einer immensen Nolwenn-Macht, wie Talaith jetzt klar wurde, nickte ihre Großmutter ihr zu. »Talaith. Du siehst sehr … südländisch aus.«
»Was tust du …« Talaith machte einen Schritt rückwärts. »Ist Haldane bei dir?«
»Glaubst du wirklich, sie würde mich allein herkommen lassen, um dich zu treffen?«
Damit hatte ihre Großmutter nicht unrecht.
Als sie auf dem Boden stand, schob Elisa Izzys Hände weg. »Ich kann allein gehen, Kind.« Sie stieg die Treppe hinauf. »Finde ich dort Essen?«
»Aye. Und Wein.«
»Gut.« Und ohne ein weiteres Wort betrat sie den Bankettsaal.
»Izzy … was zur Schlachtenscheiße …?«
»Ich erkläre dir alles. Später. Sei einfach … vorbereitet.«
»Vorbereitet worauf?«
»Na ja, soweit ich das beurteilen kann, hat deine Mutter sich nicht verändert.«
»Liebes Kind, das hätte ich dir auch sagen können.«
Weitere Reiter kamen auf den Hof. Talaith sah ein paar der Schwestern, mit denen sie aufgewachsen war, hatte aber keine Lust, mit ihnen zu sprechen.
»Ich gehe hinein«, sagte sie zu ihrer Tochter. »Darum kümmere ich mich später.«
»Mum … warte.«
»Izzy, bitte. Ich will einfach nichts mit meiner Mutter …«
»Vergiss sie«, unterbrach Izzy sie. »Es geht nicht um sie.«
»Worum dann?«
Izzy machte einen Schritt zurück, und Talaith beobachtete die Leibwache, die mit den Nolwenns geritten war. Das war zu erwarten gewesen. Eine der Pflichten der Imperialen Wache von Sefu war, den Nolwenns Schutz zur Verfügung zu stellen, wenn es nötig war.
Mehrere Wachen stiegen ab und schritten auf die Treppe zu. Helme wurden abgenommen und Köpfe hoben sich, um Talaith direkt anzuschauen. Sie blinzelte, neigte den Kopf. Etwas schien …
»Talaith?«
Talaith holte Luft und schaute an den jüngeren Wachen vorbei zu dem mächtigen alten Mann hinter ihnen. Ein Gefühl, das sie seit mehr als drei Dekaden nicht mehr gekannt hatte, traf sie in der Brust; sie hob die Hände an den Mund.
»Zachariah?«, fragte sie, als sie ihre Stimme wiederfand.
Der Schmied kam die Treppe herauf und betrachtete sie mit diesen hellbraunen Augen, die denen seines Sohnes so ähnlich waren. »Immer noch eine Schönheit, wie ich sehe.«
Talaith konnte es nicht erwarten, bis er bei ihr war. Sie rannte die Treppe hinunter und direkt in die starken Arme des Schmieds.
»Zachariah«, flüsterte sie, bevor sie zu weinen begann. Sie umarmte ihn fest, erinnerte sich daran, wie nett der Mann immer zu ihr gewesen war. Und ihr wurde klar, wie nett er zu Izzy gewesen sein musste. Andernfalls hätte Izzy weder ihn noch sonst jemanden von Sethos’ Sippe hierher gebracht.
»Talaith, ich danke dir so sehr«, flüsterte Zachariah zurück, »dass du so viel für mein Enkelkind geopfert hast. Für diese großartige Kriegerin, die du aufgezogen hast. Du hast mir meinen Sohn zurückgegeben. Danke. Danke.«
Und als sie sich nun an den alten Mann klammerte, erlaubte sich Talaith endlich, die erste Liebe zu betrauern, die sie je gekannt hatte, den Mann, der ihr eines der zwei größten Geschenke gemacht hatte, die zu empfangen ihr die Götter erlaubt hatten.