14 »Du siehst aus wie ein zerbeulter Misthaufen.« Hellblaue Augen blickten böse zu ihm auf, und Éibhear hob eilig die Hände. »Nur eine Feststellung!«
»Tja, du kannst dir deine Feststellung in deinen dicken, fetten …«
»Einen fröhlichen guten Morgen, Onkel Éibhear!« Rhi schrie beinahe und warf sich zwischen ihn und Izzy.
»Hallo, kleine Nichte.« Er beugte sich nieder und küsste sie auf die Wange. »Du siehst wundervoll aus an diesem schönen Morgen.«
»›Du siehst wundervoll aus an diesem schönen Morgen‹«, äffte Izzy ihn brummelnd nach, während Rhi ihr Kleid vorführte.
»Ich denke, es ist das Kleid. Tante Keita sagt, die Farbe betont meine Augen.«
Abrupt richtete sich Izzy auf und sah ziemlich wach aus. »Keita ist hier?«
»Aye. Sie ist heute Morgen angekommen.«
»Gut. Jetzt kann ich vielleicht herausfinden, wer bei den verfluchten Höllen mich hergerufen hat.«
»Weißt du das immer noch nicht?«, fragte Éibhear.
Izzy biss die Zähne zusammen. »Zufällig nicht. Und sprich nicht mit mir!«
»Aber du bist so freundlich!«
Rhi kniff ihn in den Arm und flüsterte: »Hör auf!«
»Aber sie macht es mir so leicht!«
Sie seufzte resigniert, dann schaute sie an Éibhear vorbei. »Morgen, Frederik.«
»Äh … Morgen …« Der Junge runzelte die Stirn, und sie beobachteten ihn, wie er dastand … und die Stirn runzelte.
Schließlich hatte Rhi genug und erinnerte ihn: »Rhianwen.«
»Richtig. Richtig.« Er nickte. »Rhianwen. Ich muss nur daran denken …« Dann schnippte er mit der Hand in ihre ungefähre Richtung, und Éibhear beschloss, es sei wohl das Beste, nicht zu fragen, was das heißen sollte.
Stattdessen konzentrierte er sich auf den nahe gelegenen Übungsplatz. Im Ring waren Talwyn und eine der Kyvich-Hexen. Eine Frau mit schwarzen Tätowierungen im Gesicht und auf den Armen, und wenn Éibhear richtig sah, fehlten ihr mehrere Finger an beiden Händen. Es sah aus, als wären diese Finger abgehackt worden.
Talwyn hielt ein riesiges Schwert, aber ihre rechte Schulter war zu tief. Die Kyvich sah das ebenfalls und rammte ihr eine verstümmelte Hand dagegen. Ein Schlag, der einem kräftigen Menschen die Schulter gebrochen hätte.
»Halt die Schultern gerade, Idiotin! Das habe ich dir schon so oft gesagt!«
Talwyn korrigierte die Schultern. Die Kyvich ging um sie herum und boxte ihr von hinten gegen den Oberschenkel. »Kräftige das Bein, oder ich lasse dich wieder bluten!«
Ohne den Blick von Talwyn und ihrer Ausbilderin abzuwenden, streckte Éibhear die Hand aus und hielt Izzy am Arm fest. Er riss sie zurück, bevor sie über den Zaun springen konnte.
»Lass es!«, befahl er.
»Das ist meine Cousine, die sie da herumschubst!«, knurrte Izzy und versuchte, ihm ihren Arm zu entreißen.
»Du bist erschöpft, du hast nichts gegessen und du bist immer noch sauer auf mich, auch wenn du gelogen und das Gegenteil behauptet hast. Du würdest es nur an dieser armen, missgestalteten Hexe auslassen.«
»Sie ist nicht missgestaltet. Sie hat diese Körperteile im Kampf verloren. Und ich bin nicht immer noch sauer auf dich. Lass es endlich gut sein!«
»Rhi, du kannst doch Lügner so gut erkennen. Hat deine Schwester mir verziehen, oder wickelt sie mich nur ein, während sie plant, eine arme, hilflose Hexe zu verprügeln, um meiner jungen Nichte zu helfen?«
Rhi ließ den Blick zwischen ihnen wandern und sagte dann: »Wie wäre es, wenn ich euch beiden ein bisschen Brot hole? Ihr müsst am Verhungern sein! Bin gleich zurück.« Dann war sie schon auf dem Weg zur Burg, und zwar schneller, als Éibhear es in diesem langen Kleid für möglich gehalten hätte. »Lass mich los!«, befahl Izzy. Sie versuchte gar nicht erst, ihren Arm wegzuziehen.
»Erst, wenn du mir versprichst, nett zu den Todfeindinnen der Hexenschwestern deiner Mutter zu sein.«
Izzy griff nach dem goldenen Dolch, den sie im Schwertgürtel trug, und lachend ließ Éibhear sie los. Sie zog die Waffe nicht, versuchte aber auch nicht noch einmal, über den Zaun zu springen. Stattdessen standen sie nebeneinander und schauten zu.
»Sie ist gut«, gab Éibhear schließlich zu, nachdem er seine Nichte fast eine halbe Stunde beobachtet hatte.
»Gut ist sie schon seit ihrer Geburt. Aber sie will die Beste sein.«
»Und ihr Bruder?«
»Der will einfach nur gut sein. Sein Vater scheint zu glauben, Vögeln sei alles, wonach er strebt«, – wie sein Onkel Gwenvael, doch das blieb unausgesprochen – »aber ich glaube nicht, dass er auch nur annähernd so zielstrebig ist, wie er gerne vorgibt. Ein bisschen wie deine Schwester …«
»Einen schönen guten Morgen meiner geliebten Familie!«
»… Keita«, sagten Izzy und Éibhear gleichzeitig, dann lachten sie.
Izzy wandte sich zu Keita um.
»Oh, mein süßes Mädchen«, sagte Keita und umarmte Izzy. »Was bist du schön!« Sie machte einen Schritt zurück, nahm Izzys Hände und betrachtete sie von oben bis unten. »Einfach wunderschön!«
Nickend fragte Izzy: »Was willst du, Keita?«
»Nichts! Überhaupt nichts!« Sie zog Izzy an sich und schlang ihr einen Arm um die Schultern. »Ich freue mich einfach, dich zu sehen. Es ist ewig her!«
»Es war vor zehn Monaten. Damals wolltest du auch etwas.«
»Willst du mich nicht begrüßen, Schwester?«, fragte Éibhear hinter ihnen.
»Ich rede immer noch nicht mit dir.«
»Immer noch nicht? Wann hast du damit angefangen? Nicht zu reden, meine ich, denn normalerweise schaffe ich es nicht, dich zum Schweigen zu bringen.«
Knurrend löste Keita den Arm von Izzys Schultern und wirbelte mit einem anklagend ausgestreckten Zeigefinger zu ihrem Bruder herum. »Ich habe dir nichts zu sagen. Um genau zu sein, bin ich sicher, dass ich dir die nächsten Jahrhunderte nichts zu sagen habe!«
»Und doch sprudeln ständig Worte von deinen Lippen …«
Da Izzy sehr gut wusste, wie lächerlich und sinnlos das werden konnte, stellte sie sich zwischen die Geschwister und fragte: »Keita, kannst du mir sagen, wer nach mir geschickt hat? Éibhear schien es nicht zu wissen.«
»Also, ich habe Éibhear überhaupt nichts aufgetragen. Ich habe ihm gesagt, dass er dich nicht holen soll. Das wollten Ragnar und ich machen. So hätten wir ein bisschen Zeit mit dir verbringen, reden und uns amüsieren können …«
»Keita«, unterbrach Izzy sie. »Wer hat nach mir geschickt?«
»Ich! Deshalb hatte ich ja vor, dich zu holen.«
Izzy schüttelte den Kopf. »Warum hättest du nach mir schicken sollen? Was ist los?«
»Ach, nichts ist los! Überhaupt nichts!« Wieder legte Keita Izzy den Arm um die Schultern und zog sie eng an sich. »Ich würde dich nur gern jemandem vorstellen, von dem ich glaube, dass du ihn sehr … interessant finden wirst.«
Izzy entzog sich der Drachin mit einem Ruck. »Willst du mir erzählen, du hättest mich aus einem götterverdammten Krieg abgezogen, damit ich einen Mann kennenlerne?«
»Nein, nicht irgendeinen Mann. Einen adligen Mann!«
Aus Angst, dass sie womöglich ihrer eigenen geliebten Tante ins Gesicht schlagen könnte, wollte Izzy weggehen, doch Keita hielt sie zurück, mit überraschend viel Kraft für eine Drachin, die für ihre körperliche Schwäche bekannt war.
»Na, na! Ich weiß, was du denkst.«
»Nein, weißt du nicht. Sonst würdest du die Finger von mir nehmen.«
»Du denkst, dass ich von irgendeinem nutzlosen Mann spreche, der dir kaum einen Orgasmus schenken könnte, ganz zu schweigen von schönen Juwelen.« Izzy versuchte wieder zu gehen, doch erneut wurde sie zurückgerissen. »Aber ich spreche von einem Mann mit viel mehr Potenzial. Und er mag deinen Typ.«
Izzy wollte gerade noch einen Fluchtversuch machen, blieb aber stehen und schaute Keita an. »Meinen Typ?«
»Mhm. Deinen Typ.«
Da sie nicht recht wusste, was das bedeuten sollte, versuchte Izzy es mit Raten: »Du meinst … meine Hautfarbe?« Da sich so wenige Leute aus den Wüstenländern in die Dunklen Ebenen vorwagten, wurden Izzy und ihre Mutter von einigen Männern oft für »exotisch« gehalten, allein wegen ihrer Hautfarbe.
»Nein. Ich meine eher deine … Statur.«
»Meine Statur?«
»Sie meint wahrscheinlich deine kräftigen Schultern«, warf Éibhear ein.
»Warum sprichst du, wenn ich doch nicht mehr mit dir rede?«, blaffte Keita.
»Das sagst du ständig«, schoss er zurück, »aber dann redest du doch die ganze Zeit mit mir.«
»Ich glaube, mir ist nicht ganz klar«, unterbrach Izzy sie energisch, »was du von mir willst.«
»Es klingt, als wolle sie dich verschachern.«
Keita holte nach ihrem Bruder aus, und ihre kleine Faust traf ihn an der Brust. Izzy verzog beim Geräusch von brechenden Knochen schmerzlich das Gesicht und sah, wie Keita ihre Hand umklammerte und mit dem Fuß aufstampfte. »Verdammt, Éibhear!«
»Was schreist du mich an? Ich bin nicht derjenige, der versucht, unsere Nichte zu verschachern!«
»Ich versuche überhaupt niemanden zu verschachern! Du anmaßender Mistkerl!«
»Jetzt beschimpfst du mich schon? Wo ist unsere Liebe hin, Keita?«
»Ach, halt die Klappe!«
»Ich glaube, ich gehe frühstücken«, sagte Izzy.
»Du gehst nirgendwo hin, Iseabail! Nicht, bevor wir fertig geredet haben!«
Izzy schaute ihre Tante an. »Glaub mir, Keita. Wir sind fertig.«
Dagmar saß am Tisch und ging durch, was für die Sicherheit während des bevorstehenden Erntefestes gebraucht werden würde. Bercelak hatte schon mehrere Truppen Drachenkrieger zugesagt, jetzt brauchte sie nur noch die Zahlen der menschlichen Soldaten. Es würden noch viele weitere königliche Besucher kommen, und sie wollte für ihren Schutz sorgen. Es war nicht akzeptabel, dass einer von ihnen ermordet wurde, während er unter dem Schutz der Königin stand.
»Dagmar.«
»Oh, gut. Brastias. Hast du die Zahlen, um die ich gebeten hatte?«
Morfyds Gefährte und Annwyls Oberbefehlshaber kam herüber. »Habe ich. Ich habe sie eben bekommen.«
Er reichte ihr das Pergament, und Dagmar prüfte kurz die Zahlen der Soldaten, die entbehrlich waren; in ihrem Kopf begann sofort die Organisation.
»Das wird gut funktionieren. Danke.«
»Gerne.« Brastias wandte sich schon von ihr ab, drehte sich aber plötzlich wieder um. »Und bevor ich es vergesse: Kann ich davon ausgehen, dass du mit den Kasernen fertig bist? Ich brauche sie für die Kommandeure, die mit ihren Soldaten kommen.«
Dagmar blickte zu ihrem Oberbefehlshaber auf. »Was für Kasernen?«
»Die, in denen du deine Neffen untergebracht hast.«
»Ich muss sie erst fragen, wann sie aufbrechen wollen, bevor ich mit Sicherheit sagen kann …«
»Aber sie sind doch schon weg.«
»Was? Was meinst du mit weg?«
»Sie sind irgendwann letzte Nacht aufgebrochen. Das haben mir die Torwächter gesagt.«
Verwirrt stand Dagmar langsam auf. »Sie sind ohne ein Wort gegangen? Bist du sicher, dass sie nicht nur jagen gegangen sind?«
»Der Wächter hat sie danach gefragt, wegen Annwyls Jagdbeschränkungen bis nach dem Fest. Sie meinten, sie wollten zurück in die Nordländer – und er solle dir ›Auf Wiedersehen‹ sagen.«
Talaith, die gerade mit einer Schüssel heißem Haferbrei zum Tisch hinübergegangen war, starrte die beiden an. »Wirklich? Aber ich habe Frederik vorhin noch gesehen. Er war bei Éibhear. Hätten sie ihren Cousin hiergelassen?«
Dagmar schloss die Augen, ballte die Fäuste; das Pergament, das sie noch in der Hand hielt, zerknitterte. »Diese Mistkerle! Das haben sie geplant!«
Sie konnte nicht fassen, dass sie so dumm gewesen war. Dass sie es nicht hatte kommen sehen. Dass sie eines Morgens aufwachen würde, und ihre Neffen waren fort – aber Frederik blieb. Es war eine Familientradition, für die die Reinholdts wohlbekannt geworden waren: nutzlose männliche Familienmitglieder zu einem kleinen »Besuch« mitbringen und dann ohne sie wieder aufbrechen. Dagmar kannte alle Zeichen. Wusste, dass genau das kommen musste. Aber sie war schon so lange in den Südländern und hatte mit so viel rationaleren Wesen zu tun als ihre eigenen Brüder es waren, dass sie alle Zeichen ignoriert hatte. Und jetzt hatte sie ihn am Hals!
»Reg dich nicht auf«, beruhigte Talaith sie.
Knurrend presste Dagmar sich die geballten Fäuste gegen die Augen – und gegen ihren plötzlichen Kopfschmerz. »Doch, ich rege mich auf! Ich hätte es wissen müssen! Sie haben diesen kleinen Analphabeten hier bei mir gelassen, und was zur Schlachtenscheiße soll ich jetzt mit ihm anstellen?«
Brastias räusperte sich, und Dagmar ließ die Fäuste sinken. Sie war nicht in der Stimmung, beruhigende Worte von ihm oder Talaith zu hören. Aber sie stellte fest, dass graue Augen, ihren eigenen ganz ähnlich, sie vom Eingang des Bankettsaals aus anschauten. Da stand Frederik mit Keita, Izzy und Éibhear, und der ganze Raum war jetzt still; sogar die Diener waren bestürzt.
Doch bevor Dagmar ein Wort sagen konnte, verschränkte Keita die Arme vor der Brust, blickte zu Éibhear auf und sagte selbstzufrieden: »Du kannst mir nicht erzählen, dass das nicht schlimmer ist, als wenn ich Izzy verschachere.«
Talaith blinzelte. »Warte … du hast was getan?«
Gähnend verließ Ragnar das Zimmer, das er mit Keita teilte, und ging in Richtung Bankettsaal. Als er sich der Treppe näherte, sah er Rhianwen am Geländer sitzen, die langen Beine durch die Gitterstäbe gestreckt. Ihre Hände lagen um die Stäbe, und sie spähte hindurch und beobachtete irgendetwas im Saal.
Ragnar setzte sich neben sie, und ohne ihn anzuschauen, lächelte sie und sagte: »Hallo, Onkel Ragnar.«
»Hallo, meine liebste Rhi. Was für ein Drama habe ich verpasst, während ich ein Bad genommen habe?«
»Zuerst war alles ruhig und ich saß nur hier und habe nachgedacht.« Lächelnd warf sie ihm einen Blick zu. »Ich sitze und denke viel.«
»Ich weiß. Das mag ich an dir.«
»Dann kam Onkel Brastias herein und sagte Tante Dagmar, dass ihre Neffen mitten in der Nacht gegangen sind und Frederik hiergelassen haben.«
Ragnar verzog das Gesicht. Das war typisch für Nordländer und das einzige Zeichen von Schwäche, das ein männliches Wesen aus den Nordländern – egal, welcher Spezies – bereit war zu zeigen. Wenn es auch nicht ihre Art war, die Schwächeren ihrer Horde zu töten, waren sie sich nicht zu fein, mit dem schwächeren Hordenmitglied einen Verwandten zu »besuchen« und es dann dortzulassen.
»Armer Frederik«, seufzte Rhi. »Ich würde mich schrecklich fühlen, wenn meine Verwandten mich einfach verlassen würden.«
»Das ist wirklich nicht sehr nett, Rhi, aber glaub mir, wenn ich dir sage: Es war zu Frederiks Bestem. Mein eigener Vater hat das mit mir gemacht, als ich kaum zehn Winter alt war. Er hat mich bei Meinhards Vater gelassen und behauptet, es sei nur für ein paar Tage … Ich habe ihn erst wiedergesehen, als ich fast neunzig war. Und weißt du was? Das war das Beste, was mir je passiert ist. Und ich schätze, wenn Frederik hierbleibt, ist das auch das Beste, was ihm je passiert ist.«
»Vielleicht, aber Tante Dagmar war nicht glücklich.« Ihre Stimme sank zu einem Flüstern, auch wenn er nicht wusste, warum sie sich bei dem ganzen Geschrei da unten die Mühe machte. »Sie hat etwas über den ›kleinen Analphabeten‹ geschrien, und Frederik stand direkt daneben!«
»Oooh. Das ist nicht gut.«
»Ich glaube nicht, dass sie es so gemeint hat, wie es klang, aber man konnte sehen, dass es ihm wahrscheinlich etwas ausgemacht hat.«
»Wahrscheinlich.«
»Aber bevor sich irgendjemand bei ihm entschuldigen konnte, sprach Keita davon, Izzy zu verschachern, und von da an ging es bergab.«
Ragnar nickte und blickte in die Ferne.
»Du kannst ruhig lachen, das ist in Ordnung«, sagte Rhi. Also tat er es.
»Ich liebe diese Frau!«
Rhi stimmte in sein Lachen ein. »Ich weiß.«
»Was ist nur in sie gefahren?«
»Sie schien zu finden, dass es nicht so schlimm sei wie das, was Tante Dagmar gesagt hat. Mum war anderer Meinung. Und seitdem streiten sie. Izzy hat versucht, sie zu beruhigen … Es funktioniert nicht.«
»Soll ich hingehen und ihr helfen?«
»Ich würde es nicht tun.« Sie nahm ein kleines Tablett vom Boden auf. »Einer der Diener hat mir Käse und Brot gebracht. Hier, bedien dich. Ich finde, es macht das Zuschauen noch besser.«
»Ich stimme dir zu.« Er wählte eine Scheibe Käse aus und eine Scheibe Brot, um den Käse daraufzulegen. »Abgesehen von diesem ganzen Drama – wie geht es dir?«
Rhi seufzte, wandte ihm den Kopf zu und legte ihre Wange an die Holzstange. »Nicht so gut, wie es mir lieb wäre, Onkel Ragnar. Ich glaube … es ist Zeit.«
»Ich glaube, du hast recht.«
»Sie werden nie einverstanden sein.«
»Aber jetzt ist deine Schwester hier. Vielleicht kann sie helfen.«
»Vielleicht.« Rhi senkte den Blick aus veilchenblauen Augen. »Aber ich habe Angst.«
»Ich weiß, Rhi.«
»Ich fürchte sehr, dass ich irgendwann … am Ende noch jemanden töten werde.«
Ja, dachte Ragnar. Das wirst du wahrscheinlich.
Während Izzy sich bemühte, ihre Mutter und Keita zu beruhigen, drehte sich Éibhear um und begleitete Frederik nach draußen zur Treppe. Er kauerte sich vor dem Jungen hin.
»Du musst mir einen Gefallen tun.«
»Schon gut«, sagte der Junge. »Ich wusste, dass sie das vorhatten. Zumindest habe ich es geahnt. Mir tut nur Tante Dagmar leid.«
»Das muss sie nicht. Sie hat eine Menge um die Ohren. Ich bezweifle, dass überhaupt etwas davon mit dir zu tun hat. Aber du musst etwas für mich überprüfen. Ich habe meine drei Freunde seit gestern Abend nicht mehr gesehen. Kannst du in die Stadt gehen und sie suchen?«
Er nickte, und Éibhear gab ihm einen Lederbeutel mit ein paar Goldmünzen.
»Wofür ist das?«
»Nur für den Fall. Vertrau mir. Frag nach Aidan. Er spricht normalerweise für sie alle.«
»Ich kümmere mich darum.«
»Danke.«
Éibhear schaute dem Jungen nach. Nichts war schlimmer als herauszufinden, dass die eigene Sippe einen nicht wollte. Er machte Dagmar viel weniger einen Vorwurf als ihren lächerlichen Brüdern und Neffen.
Éibhear richtete sich wieder auf und machte sich auf den Rückweg in den Bankettsaal. An der Tür traf er Izzy.
»Hältst du es nicht mehr aus?«, fragte er.
»Sie lassen mich nicht zu Wort kommen. Ich sehe mal, ob ich Brannie finde.«
»Und dann gehst du Kleider kaufen? Damit du Keitas Freund umwerben kannst?«
Sie verzog den Mund und ihre Augen wurden schmal. Er war froh, diesen angewiderten Blick zu sehen. Der Gedanke, sie könnte auch nur erwägen, dabei mitzumachen, was auch immer Keita da vorhatte, gefiel ihm gar nicht.
Ohne ein weiteres Wort ging sie hinaus, und Briec und Fearghus kamen herein. Sie stellten sich links und rechts von Éibhear.
»Worüber streiten sie jetzt?«, fragte Briec.
Éibhear hätte einfach sagen können: »Oh … nichts Besorgniserregendes.« Hätte er sagen können.
Sagte er aber nicht.
»Keita will deine älteste Tochter verschachern.«
Verwirrt runzelte Briec die Stirn, aber Keita hatte Éibhear gehört, wirbelte herum und stampfte mit ihrem winzigen nackten Fuß auf.
»Éibhear! Sag das nicht! Ich versuche nicht, sie zu verschachern!«
»Was zum Henker versuchst du dann?«, wollte Briec wissen, denn er kannte seine Schwester gut genug, um den Verdacht zu haben, dass, wenn sie sich die Mühe machte, sich zu verteidigen, durchaus die Chance bestand, dass sie genau das vorhatte, was sie abzustreiten versuchte.
Jetzt, wo Briec den Streit mit Keita übernommen hatte, kam Talaith heraus. Sie blieb kurz neben Éibhear stehen. »Wo ist Izzy hingegangen?«
»Sie sagte, sie wolle Brannie suchen.«
»Gut. Danke.«
Sie wollte gehen, aber Éibhear machte einen raschen Schritt und beugte sich hinunter, um ihr Gesicht besser sehen zu können. »Alles in Ordnung, Talaith? Diese Sache mit Keita …«
Talaith winkte ab und verdrehte die Augen. »Keine Sorge«, sagte sie und tätschelte seine Schulter. »Mir geht es gut.« Sie zog die Hand zurück, nur um sie erneut zu heben und seine Schulter zu tätscheln. Dann seinen ganzen Arm. »Ihr Götter, Éibhear!«
»Was ist?« Er schaute auf seinen Arm hinab.
Aber sie antwortete nicht, sondern ging nur ihre Tochter suchen.
Izzy hörte, wie ihr Name gerufen wurde, blieb stehen und drehte sich um. Ihre Mutter kam angerannt.
»Hast du ein bisschen Zeit zum Reden?«, fragte Talaith.
»Über Keita? Wirklich?«
»Nicht über Keita. Das lasse ich deinen Vater regeln.« Sie kam näher, schaute sich um und senkte die Stimme. »Es geht um Rhi.«
»In meinem Haus? Ich mache uns Tee.«
Ihre Mutter nickte. »Klingt perfekt.«
Arm in Arm gingen Mutter und Tochter zu Izzys Haus. Und obwohl sie freundlich plauderten, kannte Izzy ihre Mutter gut genug, um zu wissen, dass etwas sie beschäftigte. Etwas, das nichts mit Keitas neuestem empörenden politischen Manöver zu tun hatte.
Im Haus setzte Izzy ihre Mutter an den Tisch und holte etwas von dem Kuchen, den sie für das Abendessen mit Celyn und Brannie gekauft hatte. Sie schnitt mehrere Stücke ab, legte sie auf einen Teller und stellte ihn vor ihre Mutter hin. Dann machte sie sich ans Teekochen.
Als Izzy den Tee eingoss und sich ihrer Mutter gegenüber an den Tisch setzte, war deutlich zu sehen, wie angespannt diese war. Izzy nahm die Hände ihrer Mutter in ihre und fragte: »Mum … was ist los?«
»Ich bin so froh, dass du zu Hause bist. Ich brauche deine Hilfe.«
»Erzähl es mir. Wobei?«
»Ich brauche deine Hilfe mit deinem Vater. Du kannst so gut mit ihm umgehen.«
»Ich tue alles, Mum. Sag mir einfach, was los ist.«
»Deine Schwester …«
»Was ist mit ihr?«, drängte Izzy.
»Ihre Fähigkeiten als Hexe … sie sind …« Talaith befeuchtete sich die Lippen und holte Luft. »Ich will sie zur Ausbildung zu ihrer Großmutter schicken. Eine richtige Ausbildung.«
Izzy verzog das Gesicht. »Zu Oma, meinst du?« Sie zuckte die Achseln. »Das wird nicht leicht. Aber ich bin mir sicher, mir fällt etwas ein, um Dad zu überreden. Auch wenn es hart wird für Rhi auf Devenallt Mountain, wo sie doch nicht fliegen kann … warte. Kann sie fliegen?«
Talaith schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Nicht zu deiner Oma. Zu deiner Großmutter.« Talaith leckte sich wieder die Lippen und gestand: »Meiner Mutter.«
Izzy starrte ihre Mutter lange an. Dann, als sie wirklich verstand, was diese gesagt hatte, stieß Izzy die Hände ihrer Mutter weg und brüllte: »Hast du jetzt vollends den Verstand verloren?«
»Das reicht!«, knurrte Dagmar, stellte sich zwischen Briec und Keita und schwang die Arme im Versuch, das lächerliche Gerangel zwischen den Geschwistern zu beenden.
»Deine Lady ist sehr mutig«, sagte Éibhear zu Gwenvael, bevor er von der Frucht in seiner Hand abbiss.
»Das ist sie. Ich habe gesehen, wie sie sich absolut furchtlos ein paar der schlimmsten Tyrannen gestellt hat.«
»Du meinst Vater?«
»Er war einer davon.« Gwenvael warf ihm einen Blick zu. »Hast du das alles angefangen?«
»Ich würde eigentlich sagen, dass Keita angefangen hat, aber ich habe den Streit zu dem allgemeinen Chaos eskalieren lassen, das du jetzt vor dir siehst.«
»Hübsch gemacht, kleiner Bruder. Normalerweise bin ich der Einzige, der solch einen Grad an Zwietracht säen kann.«
»Ich habe herausgefunden, dass es viel einfacher ist, die Bewohner der Eisländer zu töten, wenn man Zwietracht unter ihnen sät, wie du es nennst, weil sie dann abgelenkt sind. Ich muss zugeben … Ich habe das zu meinem Vorteil genutzt.«
Gwenvael hob die Hand ans Herz. »Willst du damit sagen, dass ich dir geholfen habe, ein besserer Mörder zu werden?«
»Das hast du, Bruder. Das hast du.«
»Ich bin überraschenderweise stolz darauf.«
Dagmar wandte sich Keita zu. »Ich dachte, ich sollte mich um Lord Madock kümmern.«
»Du hast zu lange gebraucht, und als ich erst seine Vorliebe für Frauen mit muskulösen Schenkeln entdeckt hatte, die mehr Umfang haben als sein eigener Körper, dachte ich an Izzy.«
»Warte«, sagte Briec. »Willst du damit sagen, dass du Lord Madock tot sehen willst?«
»Das merkst du jetzt erst?«
»Und du willst, dass Izzy ihn umbringt? Einen Mann, den sie nicht einmal kennt?«
»Izzy tut den ganzen Tag nichts anderes«, gab Keita zurück. »Sie tötet und gibt anderen den Befehl zu töten. Wieso führst du dich also auf, als wäre sie irgendein schwaches Kind, das ich verheiraten will?«
»Warum hast du sie dann nicht einfach darum gebeten, dass sie sich um Madock kümmert?«, wollte Dagmar wissen. »Statt so zu tun, als wolltest du, dass sie einen Mann kennenlernt und umgarnt, der mehr als doppelt so alt ist wie sie?«
Kate zuckte die Achseln. »Celyn war auch doppelt so alt wie sie, und damit schien keiner ein Problem zu haben.«
Gwenvael saugte die Zunge gegen die Zähne.
»Was ist?«, fragte Éibhear ihn.
»Ich bin traurig, dass Talaith das nicht mitbekommen hat. Das hätte einen hübschen Faustkampf gegeben.«
»Ein Kampf, den Keita verloren hätte.«
»Ihr Götter, ja. Sie ist so damit beschäftigt, ihr Gesicht zu schützen, dass Talaith sie einfach mit Körpertreffern traktiert, bis sie ohnmächtig wird.«
Izzy lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und schaute ihre Mutter mit leicht geöffnetem Mund an. »Wie kannst du auch nur daran denken …«
»Izzy, ich verstehe deine Sorge, aber …«
»Meine Sorge?« Izzy rieb sich die Stirn und versuchte, ruhig zu bleiben. »Mum, diese Schlampe hat dich im Stich gelassen! Sie hat dich rausgeworfen, dich hilflos zurückgelassen, und das alles nur, weil du dich in meinen leiblichen Vater verliebt hast und mit mir schwanger geworden bist. Wie konntest du ihr je verzeihen, was sie dir angetan hat? Was sie zugelassen hat? Weil sie dich verlassen hat, als du sie am meisten brauchtest, konnte Arzhela an dich herankommen und dein Leben für sechzehn Jahre ruinieren.«
»Ich habe nie gesagt, dass ich ihr verzeihe, Izzy. Ich erinnere mich an alles. Die furchtbaren Dinge, die sie gesagt und getan hat, als ich ihr erzählte, dass ich deinen Vater liebe. Dass ich mit dir schwanger war. Wie sie absichtlich auf den Zeitpunkt wartete, bis die Wehen nur noch Stunden entfernt waren, bevor sie mir sagte, ich solle gehen, weil ich meine Schwestern verraten hätte. Und kurz bevor ich ging, kam die Nachricht, dass dein Vater …« – Talaith räusperte sich und holte Luft – »dass dein Vater im Kampf gefallen war. Dennoch warf sie mich aus dem Tempel. Du kannst also davon ausgehen, dass ich nicht vorhabe, Haldane, Tochter der Elisa, götterverdammt irgendetwas zu vergeben. Aber wir müssen realistisch sein, was deine Schwester angeht.«
»Was kann deine Mutter sie lehren, das Rhiannon nicht kann? Das Morfyd nicht kann? Sie sind beide weiße Drachenhexen und …«
»Richtig«, unterbrach Talaith sie. »Sie sind beide weiße Drachen. Drachen, Iseabail. Keine Menschen. Und Rhi ist halb menschlich.«
Darüber sprachen sie nie wirklich, es sei denn, es ging darum zu erklären, wie schwierig Rhi und die Zwillinge sein konnten. Denn vorher war es nie wichtig gewesen. Weder für Izzy noch für den Rest der Familie. Warum war es also jetzt wichtig?
»Ich weiß, dass sie halb menschlich ist, Mum. Was hat das mit der ganzen Sache zu tun?«
»Es hat sehr viel damit zu tun, wenn es um Magie geht, um Macht. Und Rhiannons Fähigkeit, ihre Magie zu kontrollieren, zu zügeln, ist ihr angeboren. Die Kontrolle über die menschliche Magie dagegen muss gelehrt werden.«
»Und du kannst das nicht?«
»Nicht bei deiner Schwester. Ich habe es versucht, Iseabail. Ihr Götter, ich habe es versucht. Aber ihre Macht …« Talaith fiel auf ihrem Stuhl zurück; den Blick hatte sie auf einen Punkt irgendwo im Raum gerichtet. »Ihre Macht ist gewachsen, nur dass sie jetzt mit ihren Stimmungen schwankt. Als sie ein Kind war, war es nicht so schlimm, aber als sie ihre erste Blutung …« Talaith schüttelte den Kopf. »Sie hat Gwenvael angezündet.«
Izzy richtete sich abrupt auf. »Was hat sie?«
»Ich weiß. Er ist ein Drache, aber er hat gebrannt. Es war gut, dass er ein Drache ist, denn er hat sich nach ein paar Tagen erholt. Trotzdem gab es jede Menge Gejammer deswegen, was eigentlich nerviger war als alles andere, was passiert ist.«
»Mum!«
Ihre Mutter schaute sie an. »Hmm?«
»Sie hat ihn angezündet?«
»Du kennst doch Gwenvael. Er hat angefangen.«
»Aber wenn es nicht Gwenvael gewesen wäre …«
»Genau, Izzy. Und das war, als Rhi gerade vierzehn Winter alt war. Sie arbeitet mit mir, Morfyd, Rhiannon, Ragnar, ein paar mächtigen Drachenältesten … und obwohl sie sich Mühe gibt, solche Mühe … wenn ihre Wut, oder noch schlimmer, ihre Angst oder Panik ins Spiel kommen«, – Talaith legte die Hände um ihre Tasse und blickte hinein – »wird der Schaden, den sie anrichtet, immer schlimmer.«
»Was ist mit Talan und Talwyn?«
»Sie beschützen sie, genau wie immer. Das hat sich nie geändert und wird es vermutlich auch nie. Sie sind gleich mächtig, aber auf andere Art.« Sie schaute Izzy lächelnd an. »Genau wie du.«
»Mächtig? Ich?« Izzy zuckte die Achseln. »Jeder kann mächtig sein, Mum, wenn er drei Legionen hinter sich hat.«
»Unterschätze dich nicht, Iseabail. Was dir an Magie fehlt, machst du mit körperlicher Kraft und Geschick mehr als wett. Abgesehen davon ist jemanden gering zu schätzen, der keine Magie besitzt, etwas, das deine Großmutter tun würde. Ich bin mir sicher, du willst nicht denselben Fehler machen.«
»Was soll ich deiner Meinung nach sagen, Mum? Über das alles?«
»Hilf mir bei deinem Vater. Auf dich hört er.«
»Ich weiß nicht.« Sie hasste diese Frau dafür, was sie Talaith angetan hatte. Sie hasste sie.
»Izzy …«
»Lass mich eine Weile darüber nachdenken, ja?«
»Also gut.« Ihre Mutter schob den Stuhl zurück und stand auf, ohne ihren Tee oder den Kuchen angerührt zu haben. »Aber nicht zu lang, Liebes. Deine Schwester hat gestern die Zwillinge durch die Luft geschleudert wie Puppen … und da war sie nur ein bisschen verärgert. Ich habe Angst davor, was sie womöglich tut, wenn sie richtig angepisst ist …«