12 Izzy holte sich saubere Kleider aus ihrem alten Zimmer und ging an einen der Seen, um zu baden. Sie schrubbte sich in dem kalten Wasser sauber und versuchte, nicht zu viel daran zu denken, wie Éibhear sie berührt hatte. Es überraschte sie, was diese eine Berührung für eine Wirkung auf sie hatte. Es hätte ihr egal sein müssen, wo Éibhears Hände waren – das einzige Gefühl hätte vielleicht leichter Ekel sein sollen.

Izzy tauchte noch einmal unter und hoffte, das würde sie alles vergessen lassen. Es funktionierte nicht.

Doch als sie zurück ans Ufer ging, lächelte sie die Frau an, die geduldig bei ihren Kleidern auf sie wartete.

»Lady Dagmar«, grüßte sie.

»Generalin Iseabail.«

»Stimmt etwas nicht?«

»Da ist ein … Etwas in meinen Hundezwingern. Es frisst Metall, Holz und Steine. Und es scheißt. Überallhin.«

»Scheißt es Metall, Holz und Steine? Denn das wäre faszinierend.«

Dagmar spitzte missbilligend die Lippen und tippte mit einem Zeh auf den Boden, und Izzy kicherte.

»Ich hasse dieses Etwas, Izzy!«, rief Dagmar schließlich aus und lachte mit ihr. »Ich hasse es!«

»Er ist treu, und ich liebe ihn. Du hast gesagt, die Treue eines Hundes sei alles.«

»Ich habe gelogen«, sagte die Nordländerin trocken. »Er ist hässlich. Er furzt. Ständig. Er sabbert. Und er schlenkert ständig seinen riesigen Penis überall herum!«

»Was kann er denn dafür? Und was soll ich dagegen tun? Ihn zwingen, Hundeleggings zu tragen?«

»Na ja, tu auf jeden Fall etwas, denn als Erstes ist er aus seinem Auslauf ausgebrochen und hat versucht, sämtliche läufigen Hündinnen zu besteigen, in deren Nähe er kommen konnte.«

»War Mum deshalb sauer? Oder Annwyl? Denn sie wurden schon von anderen in Besitz genommen.«

Wieder tippte Dagmar mit dem Zeh auf den Boden, doch sie rang mit einem Lächeln. Sie konnte es nicht ganz verbergen. »Nicht diese Hündinnen, liebe Nichte. Die vierbeinigen.«

»Ach so.«

Sie lachten beide, und Izzy umarmte ihre Tante. »Keine Sorge. Ich nehme ihn mit in mein Haus. Ich werde wahrscheinlich sowieso dortbleiben, während ich hier bin.«

»Du machst mich ganz nass!«, beschwerte sich Dagmar und schubste Izzy spielerisch von sich. »Ich kann nicht kühl kalkulieren, wenn ich voller Seewasser bin.«

»Keine Sorge, liebe Tante. Du kalkulierst immer kühl, egal, was passiert.«

»Wohnst du in deinem Haus?«, fragte Dagmar, der nichts entging.

»Ich mag mein Haus. Gwenvael hat es für mich bauen lassen.«

»Das hat er. Aber du übernachtest nur dort, wenn du dich mit einem Mann triffst …«

»Dagmar!«

»… oder einem Streit mit deiner Mutter aus dem Weg gehst. Aber normalerweise braucht ihr zwei eine Weile, bis ihr in eine hübsche, hitzige Auseinandersetzung geraten seid, und ich habe nichts davon gehört, dass du im Moment mit jemandem schläfst …«

»Warte. Woher weißt du, wenn ich mit …«

»… also bleibt nur eine dritte Möglichkeit, deshalb nehme ich an, du gehst dem lieben, süßen Éibhear aus dem Weg.«

»Dem lieben, süßen wer?«

Éibhear stieg aus der Badewanne und nahm ein riesiges Tuch, um sich abzutrocknen.

Erst ein paar Stunden zu Hause und schon zwei Prügeleien mit seinen Brüdern und ein Busengrapscher bei Izzy. Auch wenn der Busengrapscher ein Versehen gewesen war. Das wollten seine Brüder natürlich nicht hören. Sie wollten nur glauben, er sei ein Bastard, der herumlief und Frauen ohne Hemmungen an die Brüste fasste.

Natürlich hätte er die Brust sofort losgelassen, wenn es jemand anders gewesen wäre, aber es war wirklich angenehm für seine Hand gewesen. Was sollte ein Drache da tun? Abgesehen davon schien es Izzy nicht allzu viel auszumachen, und schließlich war es ihre Brust.

Nur seine Sippe konnte etwas so Unschuldiges zur schlimmsten Beleidigung in der Geschichte von Drachen und Göttern machen.

Mistkerle.

Éibhear zerrte an einer schwarzen Hose. Die Kleider hatte er vor einem Jahrzehnt hiergelassen, und zu seinem Ärger hatten seine Brüder recht: Er war wirklich gewachsen, seit er das letzte Mal in diesem Zimmer übernachtet hatte. Seine Hüften waren immer noch schmal, aber seine Schenkel passten kaum in den Stoff, ganz zu schweigen davon, dass die Hose nicht bis zu den Knöcheln reichte. Sie bedeckte kaum die Waden.

»Ich brauche neue Kleider«, beschloss er und griff nach den Sachen, die er zum Baden gerade ausgezogen hatte. Er hasste es, sie wieder anzuziehen, denn sie waren schmutzig von der Reise, aber wenigstens würde er darin nicht dämlich aussehen. Seine Brüder ließen ihn dumm genug dastehen, dabei musste er sie nicht auch noch unterstützen. Doch bevor er nach der Kalbslederhose greifen konnte, klopfte es an der Tür.

»Was ist?«

Die Tür ging auf und der verletzte Mann, den er vorhin im Saal gesehen hatte, kam herein. Éibhear hätte nicht behauptet, dass er den groß gewachsenen Jungen kannte, aber er erkannte diese schwarzen Augen.

Der Junge musterte ihn. Feixte. »Onkel Éibhear?«

»Hallo, Talan.«

»Ja.« Er kam herein und schloss die Tür. »Tante Dagmar sagte, du könntest die hier vielleicht gebrauchen.« Der Junge gab ihm einen Stapel Kleider. »Und wie ich an dieser Hose sehe … hatte sie recht.«

Éibhear gluckste, zuckte die Achseln. »Ich scheine aus den Kleidern herausgewachsen zu sein, die ich hiergelassen habe.«

»Eindeutig.«

Während Éibhear sich umzog – und den Göttern sei Dank, die Sachen passten sogar – hob der Junge den Fellumhang hoch, den Éibhear übers Bett gelegt hatte.

»Woraus ist der?«

»Büffel. Es gibt sie überall in den Eisländern, man verwendet dort ihr Fleisch und ihr Fell. Es gibt wenig an ihnen, was die Bewohner der Eisländer nicht nutzen.«

»Wie ist es dort?«

»Kalt. Sehr, sehr kalt.«

»Fandest du es furchtbar dort?«

»Nein.« Diese Erkenntnis überraschte Éibhear. »Ich wollte dort keine Höhle haben. Oder im Alter dort wohnen.« Er ließ die Schulter kreisen und verzog das Gesicht, als er hinzufügte: »Es kann passieren, dass uns die Schuppen zusammenfrieren. Ich kann dir nicht sagen, wie unangenehm das sein kann. Vor allem, wenn du gerade in die Schlacht ziehen willst.«

Als er endlich in Kleidern steckte, die passten und nicht aus rohen Tierfellen gemacht waren, seufzte Éibhear. Er hatte vergessen, wie es war, seine menschliche Gestalt in hübschere Kleider zu stecken oder in einem echten Bett zu schlafen, etwas zu essen, das er nicht selbst erschlagen hatte.

»Du bist also der berüchtigte Éibhear der Verächtliche«, sagte der Junge.

Éibhear wandte sich seinem Neffen zu. »Bin ich das?«

»Ist das nicht dein Name?«

»Das ist mein Name, nur, dass ich berüchtigt bin, wusste ich nicht.«

Der Junge musterte ihn mit verschränkten Armen. Für jemanden, der so jung war, war er erstaunlich selbstbewusst.

»Würdest du mit mir trainieren?«, fragte Talan.

»Wenn du möchtest.«

»Ich habe zugeschaut, als du meine Onkel und meinen Vater fertiggemacht hast. Das würde ich gerne lernen.«

»Das war nur brüderliche …«

»Misshandlung?«

»Manche würden es so nennen. Aber ich bevorzuge gutmütige …«

»Rauferei? Schlägerei? Körperverletzung? Vernichtung?«

Éibhear zuckte die Achseln. »Kommt darauf an, wen du fragst.«

»Also weiß keiner, warum ich hier bin?«, fragte Izzy, während sie sich abtrocknete.

»Du wurdest von keinem von uns gerufen, soweit ich weiß«, sagte Dagmar, »aber ich bin froh, dass du hier bist.«

»Warum?«

»Ich habe Sorgen.«

O-oh. Dagmar erwähnte keine »Sorgen«, wenn sie nicht furchtbar beunruhigt war.

»Sorgen wegen was?«

Dagmar seufzte und blickte in die Ferne. »Ach, wo soll ich anfangen …«

O-oh.

Sie fielen lautlos ein, wie die Mì-runach. Schlüpften in sein Zimmer, während er mit dem Jungen sprach. Zuerst nur Talans Zwillingsschwester Talwyn. Eine wahre Schönheit, aber gefährlich. Unglaublich gefährlich. Wie ihre Mutter. Doch in ihren grünen Augen lag nichts von der Liebe in Verbindung mit dem Wahnsinn, die Éibhear immer in Annwyls Augen gesehen hatte. Was für Anführer würden diese Zwillinge abgeben? Beide wirkten überraschend kalt, aber neugierig. Wie Dschungelkatzen, die mit dem verwundeten Wild spielen, das sie neben einem Baum gefunden haben. Sie stupsen mit den Tatzen, beißen hinein. Sie testen, kosten und überlegen sich: Lohnt es sich, es noch mehr zu quälen? Oder ist es schon tot?

Doch dann kam seine jüngste Nichte Rhianwen. Sie wurde jetzt von allen Rhi genannt und war gerade sechzehn Winter alt. Sie war, kurz gesagt, schön. Umwerfend. Und er verstand, warum seine Brüder so einen Beschützerinstinkt entwickelt hatten. Nicht nur wegen ihrer Schönheit – Schönheit gab es überall. Es war dieses wundervolle, strahlende Lächeln, diese natürliche Unschuld und diese intensive Güte. Ihre Wärme. Während ihre Cousins Éibhear musterten wie einen sehr großen Käfer, den sie unter ihren Betten gefunden hatten, kam Rhi mit ausgebreiteten Armen und Tränen in den Augen auf ihn zu.

»Ich freue mich so, dich nach all den Jahren wiederzusehen, Onkel Éibhear.« Sie umarmte ihn fest, die Arme um seine Taille, den Kopf an seine Brust gelegt. »Wir haben dich sehr vermisst.« Sie schniefte und neigte den Kopf zurück, um zu ihm aufzuschauen. »Auch wenn das außer meiner Mutter und meinen Tanten keiner je zugeben wird.«

Er küsste sie auf die Stirn und erwiderte ihre Umarmung. »Keine Sorge. Das weiß ich schon.«

»Er wird uns trainieren«, erzählte Talan seiner Schwester.

»Gut. Etwas Neues lernen.«

»Später!«, tadelte Rhi. »Lasst ihn erst einmal ankommen, bevor ihr ihn mit euren dummen Bitten überfallt.«

»Also gut.«

»Von mir aus.«

Dann waren die Zwillinge fort – schnell und lautlos. Es war ein wenig mehr als beängstigend.

»Lass dich nicht von ihnen beunruhigen«, sagte Rhi, obwohl er kein Wort gesagt hatte. »Sie sind nicht annähernd so furchtbar, wie alle glauben … aber sie können einem auf die Nerven gehen.«

»Gut zu wissen.«

Sie trat zurück und nahm seine Hände. »Ich habe gehört, dass du ganz gern liest.«

»Nicht nur ganz gern.«

Rhi grinste. »Ich auch! Aber Zeichnen liebe ich auch. Ich wette, wir sind uns total ähnlich, du und ich!«

Äh … alles klar.

Dagmar atmete aus und strich die Vorderseite ihres schmucklosen Kleides glatt. Sie trug kein Kopftuch mehr über ihren langen Haaren wie damals, als sie hier angekommen war, obwohl es bei Nordlandfrauen Tradition war. Stattdessen trug sie ihre Haare in einem einfachen Zopf, der ihr bis tief über den Rücken reichte – Izzy war sich sicher, dass es Gwenvael Vergnügen bereitete, ihn jeden Abend zu lösen. Doch abgesehen davon sah sie nicht anders aus als die Nordländerin, die vor all den Jahren mit Gwenvael hier angekommen war. Sie trug immer noch ihre schlichten grauen Kleider, mit Fellstiefeln im Winter und Lederstiefeln im Sommer. Und ihre Augengläser. Ihr Götter, wer könnte diese Augengläser vergessen, von denen Gwenvael sprach, als wären sie lebende menschliche Wesen? Wie immer balancierten sie spröde auf ihrer Nasenspitze, während dahinter funkelnde graue Augen Izzy beobachteten. Kalkulierten. Dagmar kalkulierte immer.

»Ich bin … besorgt.«

»Wegen Lord Pombrays Sohn?«

»Oh, ihr Götter, nein.« Sie verdrehte die Augen. »Dieser Junge und deine Schwester sind die geringsten meiner Sorgen.«

Izzy hockte sich auf den Boden und zog Socken und Stiefel an. »Dann sind es also die Zwillinge.«

»Es geht um Talwyn. Sie ist in letzter Zeit … sehr vertraut mit den Kyvich. Vor allem mit Kommandantin Ásta.«

Izzy zuckte die Achseln, zog ihre Stiefel hoch und überlegte, ob sie sich ein neues Paar besorgen sollte, jetzt, wo sie eine Weile zu Hause war.

»Na ja, sie ist jung. Und Ásta ist eine attraktive Frau.« Sie stand auf und stampfte mit den Füßen, um die Stiefel in die perfekte Position zu bringen. »Ich bin mir sicher, es gibt keinen Grund zur Sorge. Manche Frauen fühlen sich einfach mit anderen Frauen wohler. Das heißt nicht, dass sie nicht mit einem Mann Nachwuchs bekommen kann, wenn sie alt genug ist, und dann können sie und die andere Frau das Kind zusammen …«

»Nein, nein.« Dagmar schaute Izzy an. »Das meinte ich nicht, Iseabail.«

»Oh.« Izzy zuckte die Achseln. »Was ist dann deine Sorge? Sie waren ihre Beschützerinnen. Natürlich ist Talwyn ihnen nahe, genau wie ich meinen Beschützern nahe war.« Als Dagmar sie nur anstarrte, sagte Izzy: »Du glaubst, sie wollen mehr?«

»Sie ist ein mächtiges Mädchen. Sie kann kämpfen … und man hat mir gesagt, sie habe unerschlossene Magie in sich. Nicht auf derselben Stufe wie Rhi natürlich, zumindest hat sie das noch vor niemandem von uns gezeigt. Aber diese Magie würde die Kyvich sicherlich anziehen.« Das stimmte. Die Kyvich waren Kriegerhexen, die sich hauptsächlich aus Außenstehenden rekrutierten. Aber … »Sie nehmen nur Kinder, Dagmar. Soweit ich weiß.«

»Das stimmt.« Dagmar rückte ihre Augengläser zurecht. »In den Nordländern gibt es Geschichten, dass die Kyvich aus den Eisländern kommen und weibliche neugeborene Babys aus den Armen ihrer Mütter reißen. Aber wie die meisten werden sie von Macht angezogen.«

»Und Talwyn hat Macht.«

»Sehr viel.«

»Und meine Schwester?«

»Sie ist eine geborene Nolwenn-Hexe. Die Kyvich sprechen kaum mit ihr.«

»Und Talan ist männlich.«

Dagmar grinste. »Sehr.«

»Verstehe. Wie der Onkel, so der Neffe?«

»Er hat noch nicht so viele weibliche Opfer angesammelt wie Gwenvael der Schöne, aber er arbeitet eindeutig daran.«

Izzy hob ihre Tasche auf und stopfte die schmutzigen Kleider und Waffen hinein. Dann hakte sie sich bei Dagmar unter, und die beiden machten sich auf den Rückweg zur Burg.

»Soll ich mal mit Talwyn reden?«

»Ich weiß nicht. Um ehrlich zu sein, Izzy, ist es mir relativ egal, ob Talwyn hierbleibt oder loszieht und eine Kyvich wird. Ich liebe sie, aber ich mache mir keine Illusionen über meine Nichte.«

»Aber …?«

»Es geht um Annwyl.«

Natürlich ging es um Annwyl. Sie war eine geniale Kriegerin, eine gütige Königin, aber wenn man sie auf dem falschen Fuß erwischte, hatte sie schon ganze Bataillone nur mit ihrem Schwert und ihrer Wut bewaffnet erledigt.

»Du machst dir Sorgen, was sie tun wird.«

»Wir wollen nicht, dass die Kyvich uns als Feinde ansehen. Das weiß ich. Ich versuche gerade, all ihre früheren Vereinbarungen mit anderen Monarchen nachzulesen, um sicherzugehen, dass wir nicht unwissentlich Grenzen überschreiten, aber besonders viel gibt es nicht über die Kyvich zu erfahren. Sie bleiben meistens unter sich.«

»Na ja, mal sehen, was ich herausfinden kann. Wie ich Talwyn kenne, benutzt sie sie nur, um neue Kampftechniken zu lernen.«

Dagmar seufzte. »Ich hoffe wirklich, dass es nur das ist.«

Éibhear hob seine Nichte hoch, damit sie das Buch oben im Regal erreichen konnte.

»Hast du es?«

»Ja!«

Lächelnd ließ er Rhi wieder herunter.

»Hier.« Sie gab ihm das Buch. »Ich denke, das wird dir gefallen.«

»Hat es Annwyl gefallen?«

»Natürlich nicht. Es geht weder um Krieg, Tod oder Spione, noch um trockene historische Einzelheiten über Krieg, Tod oder Spione. Nur um Romantik.«

»Perfekt.« Er beugte sich nieder und küsste sie auf die Wange. Doch bevor er sich wieder aufrichten konnte, schlang sie ihm die Arme um den Hals und drückte ihn.

»Ich bin froh, dass du wieder zu Hause bist, Onkel Éibhear. Es ist so lange her.«

»Ich weiß. Aber ich werde in nächster Zeit öfter hier sein, glaube ich.« Er drückte sie ebenfalls, jedoch nicht zu fest. Sie war so klein, und er hatte Sorge, dass er sie zerbrechen könnte. »Geht es dir gut, Rhi?«

Sie seufzte tief. Einer dieser Seufzer, an die er sich noch aus der Zeit erinnerte, als sie ein Baby war. In einem Alter, in dem niemand so tief und bedeutungsvoll seufzen sollte. Aber im Gegensatz zu seinen Nörglern von Brüdern seufzte sie nicht nur, weil Éibhears Atmen sie nervte oder weil das Pferd, das es zum Abendessen geben sollte, davongelaufen war. Wenn Rhi seufzte, tat sie das normalerweise aus einem sehr guten Grund.

Sie ließ ihn los und trat mit gesenktem Kopf zurück. »Ich brauche deine Hilfe bei Mum und Izzy.«

»Bei deiner Mutter kann ich dir auf jeden Fall helfen. Bei Izzy hingegen …«

Sie riss den Kopf noch und schaute ihm in die Augen. Dieses schöne, ernste Gesicht. Éibhear konnte sich nicht vorstellen, was er mit dem Mann anstellen würde, der einmal das dazugehörige Herz brach.

»Du verstehst das nicht, Onkel Éibhear. Du hast großen Einfluss auf Izzy.«

»Rhi, ich habe deine Schwester jahrelang nicht gesehen. Sie sagt, sie hat mir verziehen … aber ich bin mir nicht sicher, ob ich ihr glaube. Ich glaube, sie hasst mich.«

»Sie hat dich nie gehasst. Das ist das Problem.«

Überrascht meinte Éibhear: »Na ja … Ich, äh, werde das im Hinterkopf behalten. Aber es geht doch nicht um diesen Pombray-Jungen, oder? Denn deine Mutter und Izzy werden die geringsten deiner Sorgen sein …«

»Nein, nein.« Sie winkte ab. »Es ist etwas anderes.«

»Vielleicht solltest du mir sagen, was es ist, damit ich mir einen Plan für die beiden stursten Frauen der Welt überlegen kann.«

Rhi seufzte wieder. »Das werde ich, aber später.« Sie machte zwei Schritte, blieb stehen und fügte hinzu: »Aber geh nicht fort.« Sie ging noch ein paar Schritte, blieb stehen. »Ich meine, geh nicht sehr lange fort. Also, nicht einen Monat oder so.« Ein paar Schritte, ein weiterer Halt. »Ich meine, wenn es furchtbar wichtig ist, solltest du natürlich gehen. Ich würde es vollkommen verstehen. Aber ich wüsste es zu schätzen, wenn du in der Nähe bleiben würdest, zumindest irgendwo in der Umgebung …« Rhi unterbrach sich. »Jetzt gehe ich mir selbst auf die Nerven.«

Kichernd ging Éibhear zu seiner Nichte hinüber und streckte ihr die Hand hin. »Ich weiß, was dich von solchen großen Sorgen ablenken wird, kleine Nichte.«

Rhis Lächeln wurde strahlender und ihre Nase kräuselte sich, als sie ihre kleine Hand in seine schob. »Bücher kaufen?«, fragte sie hoffnungsvoll.

»Bücher kaufen.«

Izzy staunte mit offenem Mund den Tisch an. »Ist das dein Ernst?«, fragte sie den Drachen neben sich.

Er zuckte die wuchtigen Schultern. »Es ist ein bisschen außer Kontrolle geraten.«

»Ein bisschen

Er verzog das Gesicht und schaute die Bücher an, die auf drei Karren geliefert worden waren. »Na ja, du liest doch gern, oder?« Sie hörte das Flehen in seiner Stimme.

»Eigentlich nicht.« Sie klopfte ihm auf die Schulter. »Viel Spaß dabei, die alle in die Bibliothek zu bringen.«

»Hilfst du mir nicht?«

Sie ging auf die großen Türen zu. »Eher würde ich mich selbst in Brand stecken.«

»Das kann ich auch übernehmen«, brummelte er.

Izzy blieb stehen und schaute über die Schulter zu ihm zurück. »Was war das?«

Er seufzte. »Nichts.«

»Das dachte ich mir.«

Da bemerkte Izzy den Jungen. Er stand in der Ecke, wo er sich wahrscheinlich versteckte und hoffte, dass Éibhear ihn nicht bemerken würde. Das konnte sie verstehen. Wenn er sich auf etwas konzentrierte, zog Éibhear ein äußerst finsteres Gesicht. Damit sah er aus wie der massenmörderische Mistkerl, als den man ihn in den letzten Jahren bezeichnet hatte.

»Wie wäre es, wenn du ihm mit all den Büchern hilfst, äh …?«

Mit aufgerissenen Augen stammelte der Junge: »Fred … Frederik. Reinholdt.«

»Dagmars Neffe.« Auch wenn das allein durch sein Aussehen nicht schwer zu erkennen war. Er war blass, als habe er nie die Sonnen gesehen, und groß wie die meisten Nordlandmänner. Er sah nicht schlecht aus, nur ein wenig ängstlich im Kreis dieses unzivilisierten Haufens. »Kannst du lesen?«

»Ein bisschen.« Er wandte den Blick ab. »Es fällt mir noch schwer.«

»Egal. Lesen lernt man, indem man es tut, und die Götter wissen, Éibhear kann Hilfe gebrauchen.« Sie nahm den Jungen an der Schulter und führte ihn zu dem Tisch. »Das muss bis zum Abendessen weggeräumt sein.«

Éibhear stieß den Atem aus. »Verdammt. Das Abendessen.«

Lachend ging Izzy.

Éibhear warf dem süßen Hintern, der den Bankettsaal verließ, einen finsteren Blick nach, dann wandte er sich wieder dem Jungen zu. »Frederik?«

»Ja, Sir.«

»Schön, dich kennenzulernen. Ich bin Éibhear.«

Der Junge blickte stirnrunzelnd zu ihm auf. »Du bist sehr … groß.«

»Du auch … für einen Menschenjungen.«

»Bist du wirklich ein Drache?«

»Bin ich.«

»Und die Lady?«

»Die Lady?«

»Die gerade gegangen ist.«

Éibhear lachte. »Ich würde Izzy keine Lady nennen. Damit fängst du dir womöglich eine. Das ist Generalin Iseabail, Tochter der Talaith.«

»Ihr habt weibliche Generäle? Sie zieht in die Schlacht? Und ihr lasst sie?«

»Das wirst du noch lernen, Junge: Man lässt die Frauen der Südländer rein gar nichts tun. Man geht ihnen einfach aus dem Weg und betet, dass sie einen nicht überrennen.« Er zeigte auf die Bücher. »Bringen wir die einfach in die Bibliothek. Ordnen können wir sie später.«

Als Izzy die Stufen vom Bankettsaal herunterkam, bog Morfyd gerade um die Ecke. Sie trug das weiße Gewand der heilenden Priesterin und ihre Tasche mit den Kräutern und Zauberutensilien über der Schulter.

»Morfyd!« Izzy winkte, und Morfyd eilte herüber. Sie umarmten sich.

»Izzy! Ich habe schon gehört, dass du wieder da bist. Ich freue mich so, dich zu sehen.« Morfyd trat einen Schritt zurück und musterte sie von oben bis unten. »Du bist zu dünn.«

»Wirklich?« Izzy blickte stirnrunzelnd an sich hinab. »Bin ich das?«

»In meinen Augen schon. Wohin willst du?«

»In mein Haus. Ich bin todmüde.«

»Kommst du heute Abend nicht zum Essen?«

»Nein, aber Onkel Fearghus sagte, in ein oder zwei Tagen sei vielleicht etwas los, und daran werde ich teilnehmen.« Sie grinste. »Es wird getanzt.«

»Natürlich. Also, ich bin froh, dass du hier bist. Deine Schwester will etwas mit Lord Pombrays Sohn unternehmen.«

»Begleitet Brastias sie nicht?«

»Doch, aber du musst dich um deinen Vater kümmern. Er hat den armen Jungen schon verbrannt und … Iseabail! Hör auf zu lachen!«

»Du weißt, wie Daddy ist. Erinnerst du dich noch an Lord Crom? Er wollte nur die Hand auf meinen unteren Rücken legen, und schon sah ich ihn über die Baumwipfel fliegen …« Sie dachte einen Augenblick nach und fragte: »Wie geht es ihm überhaupt?«

»Tot. Aber nicht der Sturz hat ihn umgebracht. Auch nicht die Landung. Es war Briec, der dem Ganzen noch genug Flammen hinterhergeschickt hat, um ein ganzes Dorf auszulöschen.« Sie tätschelte Izzys Arm. »Den Teil der Geschichte haben wir dir damals nicht erzählt. Es hätte dich nur aufgeregt.«

Erschüttert rief Izzy aus: »Aber er hat mich kaum berührt!«

»Und du warst kaum sechzehn. Es war vollkommen unangemessen, und Briec hatte ihn gewarnt. Zweimal. Aber er hat weitergestarrt. Die Berührung hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Lord Pombrays Sohn ist zwar im selben Alter wie deine Schwester, aber das wird für deinen Vater keinen großen Unterschied machen.«

Izzy verschränkte die Arme vor der Brust. »Was habt ihr mir über die Jahre noch alles verschwiegen?«

»Oh, einiges. Aber es war immer zu deinem Besten.«

Bevor Izzy widersprechen konnte, fragte Morfyd: »Also, was führt dich hierher? Ich dachte, wir würden dich erst kurz vor der Herbsternte wiedersehen.«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Du hast keine Ahnung, warum du hier bist?« Morfyd runzelte die Stirn. »Also bist du einfach … aus der Schlacht abgehauen?«

»Du weißt ja, wie meine Gedanken wandern …«

»Izzy.«

Izzy kicherte und antwortete: »Ragnar hat Éibhear geschickt, um mich zu holen, aber Éibhear weiß nicht, warum. Meine Mutter weiß es auch nicht. Keiner scheint es zu wissen. Aber hier bin ich.«

»Und das macht dir keine Sorgen?«

»Keita sagt immer, ich bin zu hübsch, um mir Sorgen zu machen.«

»Ihr Götter!«, rief Morfyd aus. »Wenn du anfängst, Ratschläge von dieser hirnlosen Idiotin anzunehmen …«

»Das war ein Scherz. Natürlich mache ich mir Sorgen. Aber es ist ja nicht so, als wäre ich in eine der Höllengruben gerufen worden. Im schlimmsten Fall bin ich wegen irgendeines Problems nach Hause gekommen, das sich noch herausstellen wird.« Sie tätschelte ihrer Tante die Schulter. »Mach dir keine Gedanken. Wenn Brannie und ich hier sind, wird alles gut, da bin ich mir sicher.«

Sie ging um Morfyd herum in Richtung Hundezwinger.

»Gut. Und – Izzy?«

Izzy blieb stehen und wandte sich zu ihrer Tante um.

»Hast du mal wieder von Rhydderch Hael gehört?«

Izzy holte tief Luft und log rundheraus: »Nein.«

Ihre Tante schaute sie prüfend an. »Du sagst es mir, wenn du etwas hörst.«

»Natürlich«, behauptete Izzy, jetzt wieder auf dem Weg zu den Zwingern.

Sie hatte keine Ahnung, warum sie Morfyd eben angelogen hatte, aber ihr Bauch sagte ihr, dass es zumindest im Moment am besten so war.