35 Das Abendessen war nicht annähernd so unangenehm, wie Izzy befürchtet hatte. Tatsächlich amüsierte sie sich sogar. Dass Éibhear auch Spaß hatte, glaubte sie nicht, aber er ertrug es, was sie wirklich zu schätzen wusste.

»Darf ich dich etwas fragen?«, sagte Izzy zu ihrer Tante Layla. »Warum waren Éibhear und ich in Gewahrsam? Ich dachte, das hier sei eine offene Stadt?«

»Ist es auch.« Layla zuckte die Achseln. »Oder vielleicht: war es. Wir hatten in letzter Zeit Probleme mit einem Kult.«

»Was für ein Kult?«, fragte Éibhear.

»Er hat keinen Namen, aber wir haben Opfer in den Tunneln unter der Stadt gefunden. Und ein paar Leichen draußen in der Wüste. Eine hässliche Sache.«

»Also habe ich befohlen«, schaltete sich Izzys Großmutter Maskini, die Generalin, ein, »dass alle, die bewaffnet sind, aber keine Farben tragen, ins Gefängnis gebracht und festgehalten werden, bis wir sie befragen können.« Sie lächelte Izzy an. »Du warst bewaffnet und trugst keine Farben.« Sie warf einen Seitenblick auf Éibhear. »Und du warst einfach irgendwie Furcht einflößend.«

Er zuckte die Achseln. »Tut mir leid.«

»Wisst ihr«, – Izzy schaute alle am Tisch an – »ich bin ein bisschen überrascht.«

»Worüber?«

»Dass es hier so viele weibliche Soldaten gibt. Meine Mutter hat mir von meinem Vater erzählt, aber sie hat nie groß über das Leben hier in den Wüstenländern gesprochen, außer, dass Frauen nicht allein reisen.«

»Niemand sollte allein reisen«, sagte Layla, und nippte an ihrem Wein.

»Die Frauen hier«, erklärte Zarah, »sind schon seit ein paar Jahrhunderten Kriegerinnen. Wir waren es aber nicht immer. Einst folgten wir den Regeln, die die Menschengötter aufgestellt hatten. Die Männer fochten die Kriege aus, und die Frauen bekamen die Kinder und zogen sie auf.«

»Was hat sich verändert?«

»Vor langer Zeit kämpfte ein Feind mit den Männern dieser Stadt weit draußen in der Wüste.«

»Während die Stadt schutzlos zurückblieb.«

»Genau. Die Tore wurden geschlossen und verbarrikadiert, aber es nützte nichts. Die Tore wurden überrannt. Es war … sehr schlimm. Ein paar der Frauen beschlossen, sich und ihre Kinder zu töten. Eine Frau allerdings, die schon drei ihrer Kinder während der Belagerung verloren hatte, war so voller Wut, dass sie die überlebenden Frauen zum Kampf versammelte. Und sie waren klug. Sie warteten, bis die Soldaten ziemlich betrunken waren, und töteten sie dann. Sie haben sie alle umgebracht. Als die Männer zurückkehrten, wurde beschlossen, dass die Männer ihre Frauen nie wieder schutzlos zurücklassen sollten, aber sie wussten alle, dass das nicht genügte. Denn eine Frau muss wissen, wie sie sich schützen kann. Also haben die Frauen trainiert, ihre Töchter wurden ausgebildet, dann ihre Enkelinnen. Und mit jeder Generation wurden wir stärker, mächtiger. Jetzt sind wir eine Macht. Jetzt sind wir niemals schutzlos, egal, wer in der Stadt ist oder davor.«

Izzy verstand den Wunsch, sich nie wieder schutzlos zu fühlen, sehr gut und nickte, während sie sich noch von dem Ochsen nahm, den es zum Abendessen gab. Er war gut, und sie fand die Gewürze recht interessant.

»Erzähl uns, Izzy«, fragte Maskini, »wie bist du Generalin von drei Legionen geworden?«

Izzy schluckte und antwortete: »Habe viele getötet.«

Éibhear zuckte bei Izzys Antwort zusammen. Noch schlimmer war, dass sie nicht einmal zu bemerken schien, dass alle mit dem Kauen aufgehört hatten und einander anschauten.

»Izzy will damit sagen …«

»Ich will damit sagen, ich habe getötet. Eine Menge. Das ist meine Aufgabe. Niemand schickt Izzy die Gefährliche, um den Frieden zu wahren oder eine Grenze zu halten. Sie schicken mich und meine Soldaten zum Töten. Wenn sie den Frieden sichern wollen, schicken sie General Borden von der zehnten und dreizehnten Legion.«

»Und … wann hat das für dich angefangen?«, fragte Zarah.

»Na ja.« Sie nahm noch einen Bissen Ochsen und dachte kurz nach. »Ich habe meinen ersten Nordlanddrachen getötet, als ich siebzehn war. Mit der Hilfe meiner Mutter.«

Zachariah blinzelte. »Du hast mit Talaith einen Drachen getötet?«

»Mhm. Direkt, nachdem ich als Gefreite zu einer Legion berufen wurde. Als dann der Krieg gegen die Eisendrachen und die Sovereigns anfing, wurde ich Annwyls Knappe, und da wurde alles …« Izzy schaute zur Decke auf, blies ein wenig die Wangen auf, und endete schließlich mit: »Nun … ja. Es ist eine Weile her.«

»Na gut.« Zarah wandte sich an Éibhear. »Und was ist mit dir, Prinz Éibhear?«

Izzy kicherte, aber er ignorierte sie und sagte: »Du kannst mich einfach Éibhear nennen. Wir benutzen eigentlich keine Titel. Na ja … meine Mutter schon, aber nur, weil sie ihren Titel wirklich mag.«

»Ich verstehe. Dienst du in der Armee deiner Mutter?«

Éibhear räusperte sich. »Gewissermaßen.«

»Was heißt gewissermaßen?«, hakte Zachariah nach.

»Ich bin ein Mì-runach.«

»Was ist das?«

»Das sind Berserker«, schaltete sich Izzy ein.

»Wir sind keine Berserker!«

»Sie kämpfen nackt«, fuhr sie fort. »Mit bloßen Händen mitten in der Schlacht.«

»Tun wir nicht!« Er wandte sich an die Familie, die ihn anstarrte. »Wirklich nicht. Ich schwöre es.«

»Ich habe eine Frage«, sagte einer der Jugendlichen. »Wie bist du zu einem unserer Kampfhunde gekommen?«

»Ist es das, was ich rieche?«, beschwerte sich Maskini und spähte unter den Tisch, wo Macsen schon während einem Großteil des Abendessens lag. »Die ganze Zeit dachte ich, es sei der verdammte Drache.«

»Tja, ich hatte ein paar Tage nicht die Möglichkeit zu baden«, schoss Éibhear beleidigt zurück.

Izzy ignorierte das und fragte den Jungen: »Euer Kampfhund?«

»Das ist ein Wüstenland-Kampfhund. Die findest du in fast jeder Armee der Region.«

»Wirklich? Ich habe ihn in der Nähe der Westlichen Berge gefunden, wo wir gegen einen dieser Pferdestämme gekämpft haben.«

»Dann war er weit von zu Hause entfernt.«

»Bist du sicher, dass er nicht eigentlich ein Dämon ist?«, konnte Éibhear sich nicht zurückhalten zu fragen.

Izzy warf die Hände in die Luft, aber der Junge nickte und fragte: »Du meinst das Steine-Fressen?«

»Und er hat den Kopf meiner Stahlaxt zerkaut.« Éibhear schaute Izzy an. »Übrigens, du schuldest mir eine Axt.«

»Ich habe dir doch gesagt, du sollst deine Waffen nicht herumliegen lassen. Der Hund kann der Versuchung nicht ewig widerstehen!«

»Sie sind hervorragende Kampfhunde«, erklärte Zarah. »Ihren Herren bis zum letzten Atemzug absolut treu ergeben. Ich hatte jahrelang einen, den ich sehr geliebt habe. Obwohl er stank und meinte, er müsse unbedingt Diamanten zerkauen. Ich konnte ihn nie ins Juwelenviertel mitnehmen, weil er an den Auslagen hochsprang und die ganzen Diamanten verschlang.« Sie schüttelte den Kopf. »Rubine mochte er aber nicht, dabei fand ich die immer viel hübscher.«

»Siehst du?« fragte Izzy Éibhear und klang ziemlich stolz dabei. »Er ist ein Hund aus einer mächtigen Linie von Kampfhunden.«

»Er stinkt«, erinnerte Éibhear sie. »Selbst nachdem du ihn gebadet hast, stinkt er und sabbert, ganz zu schweigen von seinem Problem mit Gasen.«

»Aaah!«, jubelte Zarah. »Ich habe etwas, das gegen die Gase helfen wird.«

»Aber nicht gegen den Gestank und das Gesabber?«

Zarah verzog bei Éibhears Frage ein wenig das Gesicht. »Damit wirst du einfach leben lernen müssen, fürchte ich.«

»Ja, damit wirst du leben lernen müssen, Onkel Éibhear«, brummelte Zachariah, während die anderen Männer finster dreinblickten.

Éibhear warf einen Blick zu Izzy hinüber, aber er sah, wie sie die Lippen verzog und wusste, sie war dabei, sich das Lachen zu verbeißen. Und wenn er sie jetzt anschaute, würden sie beide lachen und nicht mehr aufhören können. Also hielt er den Blick nach vorn gerichtet und betete, dass dieses verdammte Abendessen bald enden mochte.

»Meinst du, ich kann Haldane morgen treffen?«

»Wir können es versuchen«, sagte Layla, während sie Izzy einen Flur mit lauter Schlafzimmern entlangführte. Éibhear hatte Izzy ein paar Stunden mit ihrer Familie allein gelassen. Sie wusste nicht, wohin er gegangen war. Er war einfach nach draußen geschlüpft – für so einen großen Mann bewegte er sich wie eine Dschungelkatze –, und sie hatte ihn seither nicht gesehen. Doch sie wusste es zu schätzen. Sie schätzte die Gelegenheit, die Sippe ihres leiblichen Vaters kennenzulernen. Geschichten über ihn als jungen Mann und von seiner Liebe zu einer jungen Talaith zu hören. Bereits damals war ihre Mutter eine Schönheit gewesen und laut Maskini eine Rebellin. Sie hatte von Anfang an gegen die Einschränkungen der Nolwenns gekämpft und war dafür bewundert worden. Als Izzys Vater in der Schlacht gefallen und Talaith, schwanger mit Izzy, verschwunden war, war die Familie am Boden zerstört gewesen. Izzy wusste, dass es sie störte, wenn sie Briec »Dad« oder »Daddy« nannte, aber sie schienen auch zu verstehen, dass er der einzige Vater war, den sie je gekannt hatte. Und was noch wichtiger war – er war ihr ein guter Vater gewesen. Er hatte sie und Talaith beschützt. Das war ihnen wichtiger als die Frage, wie Izzy jemanden nannte.

»Haldane war nie …«

»Menschlich?«

Layla lachte. »So könnte man sagen.«

Sie blieben vor dem letzten Zimmer am Ende des Flurs stehen. »Hör mal, Izzy, die Familie hat sich wegen Macsen Gedanken gemacht …«

»Es tut mir so leid, dass er den Stuhl gefressen hat.«

»Nein, nein. Das ist kein Problem. Aber wir haben uns gefragt, ob es dir etwas ausmachen würde, wenn wir ihn uns morgen kurz ausleihen.«

»Ihn ausleihen?«

»Wir haben mehrere Weibchen in den Imperialen Wachhundezwingern, die gerade läufig sind. Vielleicht könnten wir ihn auf dem Weg zum Tempel dort absetzen. Oder vielleicht sogar über Nacht dortlassen?«

»Du willst meinen Hund mit einem Haufen lüsterner Hündinnen allein lassen?«

»Ich bringe gern gelegentlich ein bisschen neues Blut hinein«, sagte Layla lachend, »und Macsen ist ein besonderes Exemplar.«

Izzy runzelte die Stirn. »Ja?«

»Für unsere Kampfhunde ja. Tatsächlich könntest du ihn wahrscheinlich für eine erstaunliche Menge Gold an einen privaten Züchter verkaufen.«

»Oh, ich würde ihn nie abgeben, aber …« Izzy runzelte wieder die Stirn. »Wirklich? Du willst Macsen?« Sie schüttelte den Kopf. »Na ja, ich glaube, er wird den Imperialen Wachen nur zu gern behilflich sein … Er ist in der Beziehung sehr freigiebig.«

»Natürlich ist er das.« Sie öffnete die Schlafzimmertür. »Du kannst heute Nacht hier schlafen.«

»Und Éibhear?«

»Er hat ein Zimmer am anderen Ende des Flurs.« Layla räusperte sich. »Vater hat darauf bestanden. Ich hoffe, es macht dir nichts aus.«

»Überhaupt nicht.«

Izzy betrat ihr Zimmer, kam aber sofort stolpernd wieder zum Stehen.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Layla Izzy besorgt.

»Äh …« Sie rieb sich die Nase. »Nein. Es ist … ähm … hübsch.«

»Brauchst du noch etwas?«

»Nein, nein. Überhaupt nicht. Alles in Ordnung. Das ist super. Danke.«

Layla lächelte ihr zu. »Iseabail … Ich kann dir nicht sagen, wie sehr ich mich freue, dass du den Weg nach Hause gefunden hast.« Izzy wollte etwas sagen, aber sie unterbrach sie. »Ich weiß, du kannst nicht bleiben. Aber vielleicht kannst du zu Besuch kommen? Ein bisschen Zeit mit der Familie verbringen? Ich schaue dich an und sehe meinen kleinen Bruder. Ich will das nicht wieder verlieren.«

Izzy umarmte ihre neu gewonnene Tante. »Das wirst du nicht.«

»Gut. Gut.« Layla zog sich zurück. »Schlaf gut, Izzy.«

»Du auch. Wir sehen uns morgen früh.«

Layla ging hinaus, und Izzy schloss die Tür, drehte sich um und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Bist du wahnsinnig?«, flüsterte sie dem Drachen in Menschengestalt zu, der ausgestreckt auf ihrem Bett lag.

»Wer hätte gedacht, dass man um deine Wüstenlandfamilie noch schwerer herumkommt als um meine eigene? Sie haben mich ans andere Ende des Hauses verbannt!«

»Und genau dort solltest du auch sein. In deinem eigenen Zimmer.«

»Ich habe die letzten Nächte mit dir geschlafen. Warum sollte ich das jetzt ändern?«

Sie ging zum Bett. »Weil«, erklärte sie, immer noch flüsternd, »ich finde, es wäre unhöflich, unter ihrem Dach zu vögeln, wenn sie eindeutig nicht damit einverstanden sind.«

»Wer hat etwas vom Vögeln gesagt?«

Stirnrunzelnd fragte Izzy: »Du willst einfach neben mir schlafen?«

»Wenn ich gut schlafen will …« Er klopfte auf das Bett. »Ich verspreche es: nur schlafen.«

»Wo ist Macsen?«

»Unterm Bett, er hat es ziemlich gemütlich.«

»Unterm Bett?«

»Besser als draußen, oder?« Éibhear schaute sie mit seinen silbernen Augen an. »Zwing mich nicht, allein zu schlafen, Izzy.«

Ihr Götter, wie konnte sie dem widerstehen? Jämmerlicher Waschlappen, der sie war. Es waren die blauen Haare. Es mussten die blauen Haare sein. Sie war in sie verliebt, seit sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Und wenn er sie alle verlor? Na ja … vielleicht würde sie sich immer noch zu ihm hingezogen fühlen, aber sie bezweifelte, dass sie dann trotzdem noch so einfach rumzukriegen sein würde, wenn es darum ging, wo sie schlief und mit wem.

Izzy zog ihre Reisekleidung aus und ein langes Baumwollhemd über, das ihr bis zu den Knien ging, und schlüpfte zu Éibhear ins Bett. Sie drehte ihm den Rücken zu, und er schmiegte sich von hinten an sie, den Arm um ihre Taille gelegt, das Gesicht in ihrem Nacken vergraben.

»Machst du dir Sorgen wegen morgen?«, fragte er.

»Wahrscheinlich mehr, als ich sollte.«

»Keine Sorge. Ich werde auf Schritt und Tritt bei dir sein.«

»Um mich vor meiner Großmutter zu schützen oder meine Großmutter vor mir?«

Weiche Lippen küssten ihren Nacken, bevor sie hörte: »Beides.«

Annwyl saß mit einem Buch im Bett. Fearghus würde heute spät nach Hause kommen, sodass sie ein bisschen Zeit für sich und zum Lesen hatte. Im Gegensatz zu den meisten anderen Nächten, in denen sie irgendwann fröhlich mit Fearghus rang.

Tatsächlich freute sie sich sehr auf ein bisschen Zeit für sich, sodass sie, als es klopfte, seufzte und die Augen verdrehte, bevor sie sagte: »Was ist denn?«

Die Tür ging auf, und zu Annwyls Überraschung streckte ihr Sohn den Kopf herein. »Hallo, Mum. Hast du kurz Zeit?«

»Natürlich. Komm rein.« Sie steckte einen Lederstreifen in ihr Buch und legte es beiseite.

»Was liest du gerade?«, fragte er.

»Die Geschichte der Kriege in den Ostländern.«

»Interessant?«

»Sehr. Aber du bist nicht wegen Büchern hergekommen, mein Schatz. Was ist los?«

Talan schloss die Tür, kam herüber und setzte sich zu ihr aufs Bett. »Ich muss dir etwas zeigen.«

»Dann zeig es mir.«

Der Junge seufzte, bevor er eine Papierrolle aus seinem Stiefel zog und sie seiner Mutter gab.

»Jemand schickt dir Botschaften?«, fragte Annwyl und warf einen Blick auf das ehemals versiegelte Dokument. Normalerweise wurde Annwyl über alle Botschaften informiert, die für ihre Sprösslinge hereinkamen, aber über diese hier hatte sie nichts gehört. Nicht einmal von Dagmar.

»Aye.«

»Sag mir einfach, was drinsteht, Talan.«

Er räusperte sich und Annwyl wurde bewusst, dass dies das erste Mal war, dass sie ihren Sohn … unbehaglich sah. Und um ehrlich zu sein, war die Erkenntnis, dass er die Fähigkeit zu dieser Gefühlsregung besaß, überraschend beruhigend für sie.

»Schon gut, Talan. Erzähl.«

»Versprichst du, dass du nicht sauer wirst?«

»Nein.«

Ihre direkte Antwort brachte ihn zum Lachen. »Stimmt, ich sollte nichts Unmögliches verlangen.«

»Ich dachte, du wüsstest das inzwischen. Also, was ist los? Was ist das für eine Schriftrolle, von der du glaubst, ich sollte sie sehen – wenn dein Vater nicht hier ist?«

»Weit, weit im Westen, hinter den Sovereign-Provinzen, gibt es eine Bruderschaft von Mönchen.«

»Mönche?«

Er zuckte die Achseln. »Mönche.«

»Und was wollen die Mönche?«

»Sie haben mir einen Platz angeboten, um mich in Magie mit Natur ausbilden zu lassen. Kräfte, die fast komplett aus der Erde gezogen werden und nicht von den Göttern.«

»Du willst in ein Kloster gehen?«

»Nicht für immer.«

Annwyl musste sich schnell am Kopf kratzen, damit sie nicht lachte. »Wissen sie, dass du das nicht als dauerhafte Lösung siehst?«

»Ich weiß nicht, was sie wissen. Ich weiß nur, was ich weiß. Und ich weiß, dass ich alles, was ich kann, von Tante Morfyd, Tante Talaith und Oma gelernt habe. Aber ich bin noch nicht mit dem Lernen fertig.«

Annwyl warf einen Blick auf das Pergament in ihrer Hand. »Darf ich dich etwas fragen?«

»Ich weiß, dass ich keinen Sex haben darf, solange ich dort bin.«

»Das war nicht meine Frage, auch wenn deine direkte Antwort ziemlich aufschlussreich war. Am besten sagst du so etwas nicht in Gegenwart deines Vaters. Verstanden?«

»Ja, Ma’am.«

»Gut. Also, meine Frage ist … Gehen du und deine Schwester meinetwegen weg?«

Es dauerte nur einen Wimpernschlag, aber sie sah den überraschten Blick auf dem Gesicht ihres Sohnes. Die Tatsache, dass Annwyl wusste, dass Talwyn sich auch darauf vorbereitete zu gehen, ohne dass es ihr jemand gesagt hatte, überrumpelte ihn. Doch er überspielte seine Überraschung schnell und antwortete: »Ich verspreche dir, Mutter, wenn wir könnten, würden Talwyn und ich für immer hierbleiben. Nur … herumlungern und Streit anfangen.«

»Aber ihr könnt nicht, weil …«

»Du weißt, warum. Das hier ist nicht das Ende für uns. Wir sind nicht dafür bestimmt, Adlige zu sein wie Lord Pombrays Sohn oder auch unsere Onkel. Du hast uns von Anfang an gesagt, dass wir ohne Wissen nicht anführen, nicht kämpfen, überhaupt nichts tun können, außer zu hoffen, dass andere uns beschützen. Und Mutter … diesen Luxus können wir uns einfach nicht mehr leisten.«

Annwyl nickte. »Jetzt werden meine eigenen Worte gegen mich verwendet … und doch waren sie genial.«

Talan grinste. »Genau wie dein Sohn.«

Annwyl nahm seine Hand. »Ist es dir wirklich wohl dabei, wenn deine Schwester mit den Kyvich weggeht?«

»Nein. Nicht, weil ich glaube, es wäre schlecht für sie. Aber ich weiß, dass sie nicht vorhat dortzubleiben. Und wenn sie so weit ist, dass sie wieder gehen will, wird das ein Problem.«

»Für Talwyn?«

»Für die Kyvich.«

»Und dieses … Kloster? Willst du das wirklich?«

»Nein. Aber ich brauche es. Ich muss zugeben, ich hätte das Angebot beinahe abgelehnt. Aber du hast immer gesagt, ich soll meinen Instinkten trauen, und mein Instinkt sagt mir, ich sollte es tun. Jetzt. Nicht später. Sofort.« Er küsste ihre Hand. »Und weil ich weiß, dass du das glaubst: Ich sehe nur so aus, als würde ich dir nicht zuhören. Aber ich höre jedes Wort. Und ich danke dir. Fürs Überleben. Dass du getan hast, was du getan hast. Ich weiß ganz sicher, dass keine andere Frau im Universum meine Mutter hätte sein können.«

Annwyl musste mit den Tränen kämpfen, als sie die Arme um die breiten und immer noch nicht ausgewachsenen Schultern ihres Sohnes legte und ihn fest drückte. So blieben sie, bis die Tür wieder aufging und sie Fearghus’ Stimme hörte.

»Sag mir noch mal, warum ich mir überhaupt die Mühe mache, mich mit diesem alten Mistkerl auseinanderzusetzen. Und sag nicht, dass es nur wegen Blutsbanden ist.« Fearghus blieb stehen und beäugte seine Gefährtin und seinen Sohn. »Was hat der Junge jetzt wieder angestellt?«

Mit dem Kopf auf Annwyls Schulter antwortete Talan: »Alles, wovon du nur träumst.«

Annwyl fing Fearghus’ Hand ab und fuhr ihn an: »Fearghus, nein!«

»Nur einen Schlag auf den Hinterkopf! Nur einen!«