10 »Nein. Absolut nicht.«
Talaith stand auf und folgte Briec, der in ihrem Schlafzimmer herumstolzierte.
»Ich finde, du bist unvernünftig«, sagte sie.
»Ich bin Vater.«
»Nein. Du bist dein Vater.«
»Du musst nicht gleich gemein werden!«, schoss er zurück und drehte noch eine Runde ums Bett.
»Lass sie einfach den Tag mit ihm verbringen. Er muss sie mögen, wenn er das nach dem, was du getan hast, immer noch tun will.«
Briec blieb stehen und wirbelte zu ihr herum. »Natürlich mag er sie noch. Sie ist perfekt. Sie ist …«
»Deine Tochter. Ja, ja. Das wissen wir alle. Was bedeutet, dass du verstehen solltest, wie stur und schwierig deine Tochter werden kann, wenn sie nicht ihren verflixten Willen bekommt.«
»Sie ist zu jung«, argumentierte er jetzt.
»Sie ist sechzehn, Briec. Und zwar nicht in Drachenjahren, sondern sie ist ein gesundes, sechzehnjähriges Mädchen, das einen Jungen mag. Daran ist nichts Verwerfliches.«
»Du willst, dass sie sich mit diesem … diesem …«
Talaith verschränkte die Arme vor der Brust. »Mensch?«
»Ich wollte Dreibeiner sagen, aber Mensch trifft es auch.«
Sie machte ein paar Schritte von ihm weg und rieb sich die Augen. »Sie will doch nur mit ihm in die Stadt gehen. Ein bisschen einkaufen und in der Taverne zu Mittag essen. Nicht gleich seine Frau werden.«
»Nein.«
»Ich habe es schon mit Brastias besprochen, und er sagt, er begleitet sie. Du weißt, wie sein Beschützerinstinkt gegenüber seiner Nichte ist.«
»Warum kann ich dann nicht mit?«
»Weil der arme Junge sich jetzt einnässt, wenn er dich sieht. Das ist also keine gute Idee.«
»Diese Schwäche! Warum sollte meine Tochter sich mit jemandem abgeben, der so schwach und nichtsnutzig ist?«
»Du könntest sie aufhalten, wenn du willst …«
»Gut.« Er ging zur Tür. »Das werde ich.«
»Genau wie meine Mutter mich aufgehalten hat. Izzy ist der Beweis dafür, wie erfolgreich das war.«
Briec hielt mit der Hand auf der Türklinke inne; sein ganzer Körper war gespannt.
»Willst du wirklich von irgendeinem Nebenprodukt des Stammbaums von Lord Pombray ›Großvater‹ genannt werden?«
Bei dem Gedanken schauderte ihr Gefährte, und Talaith biss sich auf die Innenseite der Wangen, um nicht zu lachen. Als er sich nicht rührte, trat sie hinter ihn und schlang ihm die Arme um die Taille. Sie legte die Wange an seinen Rücken und sagte: »Die Pombrays bleiben nicht lange. Lass sie gehen. Nur ein Tag, und dann werden sie heimlich flirten, bis er wieder abreist.«
»Und Brastias wird …«
»Sie ganz genau im Auge behalten. Ich verspreche es.«
»Und wenn du dich irrst?«
»Dann kannst du es mir aufs Brot schmieren, bis unsere Vorfahren uns nach Hause holen.«
Er nickte. »So lange du das nicht vergisst.«
Izzy zügelte ihr Pferd neben Éibhears, und sie blickten auf die Stadt hinab. Hinter der Stadt konnte sie Annwyls Burg sehen, wo sie bei dem Anblick von Drachen, die um die hohen Türme kreisten, ihr immer wusste, dass sie wieder zu Hause war.
»Alles klar?«, fragte sie.
»Aye. Hab nur gerade daran gedacht, wie lange es her ist, seit ich das letzte Mal hier war.«
»Sicher, dass du nicht als Erstes deine Mutter besuchen willst? Ich weiß, dass sie dich sehr vermisst hat.«
»Woher weißt du das?«
»Weil sie gesagt hat: ›Ich vermisse meinen Sohn sehr.‹«
Er schnaubte leise, lächelte aber auch. »Du stehst nicht auf Euphemismen, oder?«
»Ich weiß nicht einmal, was das heißt, also sage ich mal Nein. Tue ich nicht.« Sie fasste die Zügel fester. »Ich kann dein Pferd für dich nehmen, wenn du nach Devenallt willst.« Devenallt Mountain war das Machtzentrum der regierenden Südlanddrachen, wo die Drachenkönigin, Éibhears Mutter und Izzys angeheiratete Oma, lebte.
»Damit ich gleichzeitig meinen Vater sehen muss?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube, ich befasse mich lieber erst mit meinen Brüdern.«
»Ich würde mir keine Sorgen machen«, neckte sie ihn. »Ich bin mir sicher, sie haben nicht einmal gemerkt, dass du weg warst.«
»Danke. Das ist sehr nett.«
»Ich bereite dich nur auf den Rest der Familie vor. Sind Nichten nicht dafür da?«
Éibhear verdrehte die Augen. »Nicht schon wieder die Leier, oder?«
»Oh, lieber alter Onkel.« Sie tätschelte sanft seine Wange. »Du lieber alter Kerl. Du weißt, du bist mein liebster alter Onkel.«
»Gemeine Kuh«, murmelte Éibhear vor sich hin. »Herzlose, gemeine Kuh«, korrigierte er sich.
Lachend trieb Izzy ihr Pferd an und machte sich auf den Weg nach Hause – was auch immer dort auf sie wartete.
Éibhear schaute Izzy nach. Brannie hielt neben ihm und musterte ihn kurz. »Willst du so, wie du aussiehst, auf die Insel Garbhán?«
»Was ist mit meinem Aussehen?«
Seine Cousine seufzte, schüttelte den Kopf und folgte Izzy.
Er beobachtete die beiden eine Weile, bevor er knurrte: »Und wo wollt ihr anderen hin?«
»In den Pub«, antwortete Aidan für sie alle.
»Kommt ihr nicht mit mir?«
»Ich kenne deine Brüder, was eigentlich schon Antwort genug sein sollte. Und Cas und Uther haben deine Geschichten die ganzen Jahre auch gehört, alsoooo … nein. Wir gehen in den Pub. Betrinken uns. Besorgen uns Weiber. Spielen vielleicht ein bisschen. Viel Glück wünschen wir dir.«
Seine Kameraden schlugen einen Pfad ein, der zum nächsten Pub führte, und ließen Éibhear stehen. Erst jetzt dachte er darüber nach, wie schwierig alles möglicherweise werden könnte. Seine Sippschaft, sowohl die königliche Seite als auch die Cadwaladrs, hielt nicht viel von den Mì-runach. Die Royals mieden sie und die Cadwaladrs hielten sie für verrückte Hunde, die man im Kampf losließ, wenn einem egal war, wie er ausging. Éibhear hatte einst dasselbe gedacht … bis er selbst einer geworden war. Bis er gemerkt hatte, wie wichtig die Mì-runach für das Überleben seiner Sippe waren. Doch er würde sich hüten zu versuchen, seine Verwandten davon zu überzeugen. Drachen änderten ihre Meinung selten, es sei denn, sie wurden dazu gezwungen, und Éibhear war nicht mehr so tolerant, wie er einmal gewesen war.
Dennoch … es war zehn Jahre her. Er war nicht mehr das Küken, das sie alle geliebt hatten, und auch nicht der unglückliche Heranwachsende, mit dem sie wenig Geduld gehabt hatten. Jetzt war er Éibhear der Verächtliche, Truppenführer bei den Mì-runach; von den Eislanddrachen gehasster Südländer und Zerstörer von sechzehn Eislanddrachen-Stämmen – eine Zahl, die alle anderen Mì-runach übertraf.
Als ihm bewusst wurde, dass nichts davon seine Geschwister beeindrucken würde, dachte er kurz darüber nach, seinen Kameraden in den Pub zu folgen. Doch Éibhear wusste, dass er ihnen nicht ewig aus dem Weg gehen konnte.
Also tippte er seinem Pferd mit den Hacken in die Seiten, und das Tier setzte sich in Bewegung und brachte Éibhear nach Hause – was auch immer ihn dort erwartete.
Dagmar gab sich größte Mühe, nicht zu reagieren, als sie hörte, wie Briec der Mächtige seine Tochter herrisch informierte, dass er ihr »erlaube«, den Nachmittag mit Lord Pombrays Sohn zu verbringen. Sie behielt den Kopf gesenkt und ihr Lächeln für sich.
Auch wenn sie in höchstem Maße daran zweifelte, dass die Beziehung zwischen dem Jungen und Rhi über ein bisschen unschuldiges Flirten hinausgehen würde, wusste sie, dass es wichtig für Rhi war, eine Weile ihrem überfürsorglichen Vater, ihren Onkeln und Cousins zu entkommen. Dagmar wollte für Briecs Tochter nicht dasselbe Leben, das sie gehabt hatte. Lügen zu müssen, Verschwörungen anzuzetteln und still und heimlich im Hintergrund die Fäden zu ziehen, während die Männer die Lorbeeren dafür ernteten, war kein Leben für eine Frau. Und jetzt, wo Dagmar seit Jahren die Sicherheit dieses Landes und die Politik der Südländer anvertraut war, konnte sie sich nicht mehr vorstellen, in das Leben zurückzukehren, das sie im Norden geführt hatte.
Vor allem, als sie nun den Sohn ihres Bruders in den Bankettsaal wandern sah. Der arme, verwirrte Idiot. Er war schon mehrere Tage hier, und doch wirkte er ständig perplex. Leute sprachen mit ihm, und er starrte sie stumpfsinnig an. Sie bemerkte sogar, dass Frederiks Brüder und Cousins dem Jungen wenig Aufmerksamkeit schenkten. Die Männer ihrer Familie hatten ihn eindeutig schon aufgegeben. Sie fühlten sich nicht wohl mit Männern, die so klug waren wie Dagmar – ja, sie wusste, sie war klug … definitiv klüger als sämtliche Männer in ihrer Familie –, aber sie hatten auch keine Verwendung für Männer, die zu dumm für einfache Gespräche waren, gleichzeitig aber vollkommen unfähig, ein Schwert, eine Axt oder sonst eine Waffe zu führen. Und der Junge konnte nicht mit Waffen umgehen. Er war so schlecht wie Dagmar, und das sagte viel.
Deshalb wusste sie, dass ihre Neffen sie bitten würden, Frederik eine Weile bei sich zu behalten. Die Mistkerle sollten bloß nicht selbst versuchen, sich um den tragischen Dummkopf zu kümmern. Stattdessen würden sie probieren, ihn jemand anderem anzudrehen. Nun ja, Dagmar hatte nicht vor, das diesmal zuzulassen. Sie weigerte sich, diese lächerlichen Spiele mit ihrer Familie zu spielen. Dennoch musste sie den Jungen im Augenblick ertragen. Das war das Mindeste, was sie für ihn tun konnte.
Dagmar unterdrückte ein Seufzen und winkte ihn zu sich, aber er runzelte nur die Stirn. Also blaffte sie: »Frederik!«
Er schaffte es zu ihr herüber, stieß sich aber das Bein am Tisch, bevor er sich auf den Stuhl neben ihr setzte. Sie war überzeugt, der Junge musste am ganzen Körper blaue Flecke von all den Dingen haben, gegen die er im Lauf des Tages stieß.
»Morgen, Tante Dagmar.«
»Morgen, Frederik. Gefällt dir dein Zimmer?«, fragte sie, in das langweilige Muster verfallend, das sie bei den meisten königlichen Besuchern anwandte.
»Ja, ja. Es ist sehr nett.«
»Gut.«
Als ihr nichts mehr einfiel, was sie zu dem Jungen sagen konnte, las sie weiter ihre Sendschreiben aus verschiedenen Häfen, die Annwyls Soldaten kontrollierten, und versuchte, Rhis aufgeregtes Geplapper auszublenden. Schade, dass Keita nicht in der Nähe war. Sie wäre begeistert gewesen von diesem ganzen Gerede über Kleider und was man als Mädchen tragen sollte, wenn man einen Spaziergang in die Stadt machte und mit einem Jungen einkaufen ging.
»Nichts Freizügiges!«, warnte ihr Vater.
»Daddy!«, empörte sich Rhi.
»Willst du, dass der Junge die Geburt seiner Kinder mit irgendeiner anderen langweiligen Menschenfrau erlebt, oder willst du an seinem Scheiterhaufen weinen? Du hast die Wahl.«
»Daddy!«
Dagmar schüttelte den Kopf und kicherte vor sich hin, als sie sie in der Nähe spürte.
Sie hob den Kopf und stellte fest, dass Talan zu ihrer Rechten saß und ihr Butterbrot aß, das sie auf einem Teller neben all ihren Papieren gehabt hatte. Talwyn saß Frederik – der immer noch nichts bemerkt hatte – gegenüber, die Füße auf der abgenutzten Holzplatte, und beobachtete mit ihren strahlend grünen Augen Rhi und Briec am anderen Ende des Tisches.
»Morgen, Tante Dagmar«, murmelte Talan mit ihrem Essen im Mund. Erst achtzehn, und seine Stimme war nur ein tiefes Grollen. Das war schon so, seit er zwölf war. Was sie immer noch ein bisschen beunruhigte.
»Hallo, Talan.«
»Was Interessantes da drin?«, fragte er und versuchte, in ihre Dokumente zu spähen.
Dagmar legte den Arm über das Pergament und schaute ihrem Neffen direkt in die schwarzen Augen. »Nichts für deine Augen, das kann ich dir versichern.«
Sein Grinsen war beängstigend gefährlich für jemanden, der so jung war. Dieses Lächeln hatte seine Schwester nur, wenn es um Waffen ging.
»Was soll das alles?«, fragte Talwyn und wies mit ihrem Apfel den Tisch entlang.
»Rhi verbringt den Tag mit dem jungen Albrecht.«
»Was?« Talwyn schaute Rhi an. »He!«
Rhi seufzte, und Dagmar wusste, das Mädchen wappnete sich. Die Verbindung zwischen den Zwillingen und Rhi war unglaublich stark. Aber ihre Streits …
Ihr Götter. Ihre Streits.
Rhi wandte sich langsam zu ihrer Cousine um. »Aye?«
»Was ist das mit dem Pombray-Bengel?«
»Das hat nichts mit dir zu tun, Talwyn. Halt dich da raus.«
»Ich halte mich nicht raus.« Talwyn schaute ihren Onkel an. »Und du bist damit einverstanden?«
»Ich habe meine Erlaubnis gegeben.«
»Was ist los mit dir?«
»Ich muss zugeben«, sagte Briec, »es gefiel mir besser, als du nichts gesprochen hast.«
»Lass gut sein, Talwyn.« Das kam von Talan. Bruder und Schwester schauten sich an, und Dagmar lehnte sich instinktiv auf ihrem Stuhl zurück.
Natürlich beugte sich Frederik, wie immer ahnungslos, dichter an den Tisch, um sich den Teller mit Essen näher anzuschauen, den einer der Diener vor ihn hingestellt hatte. Was erwartete er da eigentlich zu sehen? Abgesehen von Eiern und Fleisch?
»Halt dich raus, Talan!«
»Lass sie in Ruhe, Schwester!«
»Du hast mir nicht zu sagen, was ich tun soll, Bruder!«
»Wenn sie Zeit mit Pombrays Sohn verbringen will …«
»Du glaubst vielleicht, es sei in Ordnung, deinen Schwanz in alles zu stecken, was sich bewegt …«
»Was hat mein Schwanz damit zu tun?«
»… aber ich traue weder Pombray noch seinem Sohn, und ich lasse sie mit keinem von ihnen Zeit verbringen.«
»Das geht dich nichts an, Schwester. Lass die Finger davon.«
»Zwing mich doch.«
Rhi stampfte mit dem Fuß auf. Wieder einmal verdarb ihr das Gezänk ihrer Cousins den Spaß. Das ertrug sie in den letzten Jahren immer weniger. »Hört auf, alle beide!«
Aber es war zu spät. Bruder und Schwester hatten sich aufeinander eingeschossen; sie standen auf und die Hände gingen zu den Waffen, die sie Tag und Nacht bei sich trugen.
»Ich meine es ernst«, versuchte Rhi es noch einmal. »Hört auf!«
Dagmar erhob sich ruhig, die Papiere an die Brust gedrückt. Doch als sie gehen wollte, merkte sie, dass Frederik noch da war und mit etwas Schinken herumspielte. Vollkommen ahnungslos. Sie streckte den Arm nach ihm aus, als eine Hand, die sie sehr gut kannte, an ihr vorbeigriff, den Jungen hinten am Baumwollhemd packte und ihn vom Stuhl riss.
Dagmar taumelte gegen die Wand, nickte aber dankbar zu ihrem Gefährten hinauf, der den Jungen immer noch an sich drückte.
»Da lasse ich dich mal fünf Minuten allein …« scherzte er leise.
Sie schmiegte sich an die Seite von Gwenvael dem Schönen. »Ich weiß. Man kann mich einfach nicht allein lassen.«
»Du tragisch schwache Frau.«
Er zwinkerte ihr zu, doch dann waren die Zwillinge auch schon auf dem Tisch und gingen mit Kurzschwertern aufeinander los.
Rhi stampfte wieder mit dem Fuß auf und schrie: »Hört auf!«
Mit vor Schreck offen stehendem Mund schaute Dagmar zu, wie Talan gegen die Wand geschleudert wurde und Talwyn quer durch den Saal und zur Tür hinausflog.
»Ha«, sagte Gwenvael. »Das ist neu.«
Dagmar schüttelte ihre Überraschung ab und sagte eilig zu Frederik: »Du hast nichts davon gesehen, verstanden?«
»Was gesehen?«, fragte der Junge.
Dagmar hätte gerne geglaubt, dass Frederik schnell geschaltet hatte, doch in Wirklichkeit wusste sie, dass er einfach nur schrecklich ahnungslos war.
Nachdem sie ihre Pferde zu den Ställen gebracht hatten, ging Brannie zu einem der nahe gelegenen Seen, wo viele ihrer Drachenverwandten immer lagerten, wenn sie kamen, um die Insel Garbhán zu besuchen oder zu verteidigen. Laut Éibhear waren die drei anderen Mì-runach in der Stadt geblieben, um einen der Pubs aufzusuchen, während Izzy und Éibhear zur Burg gingen.
Sie überquerten den Hof und näherten sich den Stufen, die sie in den Bankettsaal führen würden, als Éibhear plötzlich stehen blieb und den Kopf schief legte. Izzy hielt ebenfalls inne. Der Drache hatte das beste Gehör, das sie je erlebt hatte, und wenn er meinte, etwas zu hören …
Plötzlich war sein Arm um ihre Taille, und er riss sie aus dem Weg, als ein lautes Krachen aus dem Saal drang und etwas durch die Tür brach.
Sie schauten dem Etwas nach, wie es an ihnen vorbeischoss und gegen eines der Nebengebäude krachte. Als es landete, seufzte Izzy. »Talwyn.«
»Gute Götter!«, rief Éibhear aus. Dann fügte er hinzu: »Sie ist groß geworden.«
»Allerdings.«
»Glaubst du, das war Talan?«
»Ich weiß nicht. Normalerweise finde ich sie ineinander verkrallt vor und nicht einander herumwerfend.«
Sie schwiegen, und da wurde Izzy bewusst, dass Éibhears Arm immer noch um ihre Taille lag. Sie schaute auf seinen Arm hinab und dann zu ihm auf. Er lächelte sie an, bis sie murmelte: »Da ist aber jemand ein unartiger Onkel.« Dann konnte er sie nicht schnell genug loslassen.
Izzy wollte gerade zu ihrer Cousine hinübergehen, um nach ihr zu sehen, als Rhi die ersten paar Stufen der Treppe herunterstolperte. Sie warf einen Blick auf Talwyn und schlug mit schreckgeweiteten Augen die Hand vor den Mund. Da wusste Izzy, wer das getan hatte.
Zum ersten Mal dankbar, dass sie nach Hause gekommen war, drehte sie sich um und ging auf den Bankettsaal zu.
»Rhi«, rief sie, und ihre Schwester blickte mit den strahlend veilchenblauen Augen ihres Vaters auf sie herab. Sie war schön, mit langen silbernen Haaren, die ihr hinreißendes Gesicht umrahmten, und brauner Haut, die perfekt war, weich und vollkommen narbenfrei.
»Izzy?« Rhi brach in Tränen aus. »Izzy!« Sie rannte die Treppe hinab, und Izzy kam ihr am Fuß entgegen. Ihre Schwester warf sich ihr in die Arme und schluchzte hemmungslos.
»Schon gut. Alles ist gut«, murmelte sie und tätschelte Rhi den Rücken.
»Ich habe sie umgebracht!«
»Hast du nicht.« Izzy sah, dass Éibhear hinübergegangen war, seine Nichte aufgehoben hatte und sie jetzt zur Treppe trug. »Siehst du? Es geht ihr gut.«
Rhi hob den Kopf, und Talwyn winkte lächelnd. »Mir geht es gut. Versprochen.«
Aber Rhi schluchzte nur noch lauter und klammerte sich weiter an ihre Schwester.
Mit einem Achselzucken trug Éibhear Talwyn wieder hinein. Als sie allein waren, fragte Izzy ihre Schwester: »Was ist los, Rhi? Ihr geht es gut.«
»Es geht ihr nicht gut!« Rhi blickte mit gequälter Ernsthaftigkeit zu ihrer Schwester auf. »Sie hat gelächelt. Izzy … Talwyn hat gelächelt!«
Untröstlich klammerte sie sich noch fester an Izzy, schluchzte noch lauter, und Izzy konnte nichts weiter tun, als ihrer Schwester den Rücken zu tätscheln und zu seufzen.
Éibhear betrat den Bankettsaal, blieb aber stehen, als er sah, wie Briec einen verletzten Mann mit einem der Diener wegschickte. Und wenn dieser Verletzte Talan war … na ja, dann war der Junge genau wie seine Schwester ziemlich gereift.
Das Mädchen in seinen Armen versteifte sich plötzlich, und grüne Augen blickten zu ihm auf und wurden schmal … gefährlich schmal. Wie bei ihrer Mutter.
»Wer bist du?«, fragte sie.
»Weißt du das nicht?«
»Wenn ich es wüsste, hätte ich nicht gefragt.« Sie schnüffelte. »Drache.«
Beeindruckt antwortete er: »Ich bin …«
»Éibhear?«
Lächelnd blickte er zu Dagmar Reinhold auf. »Hallo, Dagmar!«
»Éibhear!« Sie ließ ihre Papiere auf den Tisch fallen, kam gerannt und schlang ihm die Arme um die Taille.
»Du kannst mich runterlassen«, murmelte Talwyn.
»Sicher?«
»Sicher.« Er konnte den Hohn in ihrer Stimme hören. Und fragte sich, ob sie für alles nur Hohn übrig hatte. Etwas sagte ihm, dass es so war.
Also ließ Éibhear sie los. Sie landete auf den Füßen, taumelte dann jedoch rückwärts und fiel auf den Hintern. Statt ihr zu helfen, umarmte er Dagmar.
»Ich freue mich so, dich zu sehen.« Sie trat zurück und betrachtete ihn von oben bis unten. »Auch wenn ich nicht so recht weiß, was ich von deinem Aussehen halten soll.«
»Ich war zehn Jahre in den Eisländern. Was hast du erwartet, wie ich aussehe?«
»Auf jeden Fall nicht so. Aber wir arbeiten wohl alle mit dem, was wir zur Verfügung haben.«
»Was willst du hier?«, blaffte eine andere Stimme.
Éibhear schaute Briec an, der ihn finster anstarrte. »Ich habe dich auch vermisst, Bruder.«
»Ich habe dich nicht vermisst.«
Éibhear verdrehte die Augen. »Natürlich nicht.«
»Wo ist Rhi?«
»Bei Izzy. Wir sind zusammen hergekommen.«
Briec warf einen Blick zu Gwenvael hinüber, starrte ihn an, dann wieder Éibhear. »Oh«, sagte Briec. »Super. Bei Izzy geht es ihr gut.« Dann zog er sich zurück.
Dagmar bückte sich zu Talwyn. »Ich bringe sie zu Morfyd, in Ordnung?«
»Danke, Dagmar.«
»Kein Problem. Ich sage ihr Bescheid, dass du da bist. Sie wird sich so freuen, dich zu sehen.« Sie lächelte zu ihm auf. »Ich bin so froh, dass du zu Hause bist, Éibhear.« Und er wusste, sie meinte es ernst. Was einiges zu sagen hatte, denn sie meinte selten etwas ernst, wenn sie mit Mitgliedern von Königshäusern sprach.
»Ich auch.«
Éibhear schaute Dagmar nach, die Talwyn die Treppe hinauf zu den Schlafzimmern führte, bevor er sich zu Gwenvael gesellte. »Hallo, Bruder.«
»Éibhear.« Gwenvael musterte ihn. »Schöne Haare.«
»Danke. Ich gebe mir Mühe.« Éibhear zeigte auf den Menschenjungen, der gerade zum Tisch zurückging und seinen Teller nahm.
»Wer ist das?«
»Dagmars Neffe aus dem Norden.« Sie schauten dem Jungen schweigend nach, als er ging … wohin auch immer. Éibhear hatte keine Ahnung, wohin.
»Nicht der Hellste, fürchte ich«, murmelte Gwenvael, als der Junge weg war. »Aber er gehört eben zur Familie.«
»Wie wahr, wie wahr.«
Die Brüder schauten sich lächelnd an; dann packte Éibhear Gwenvael an den Haaren und rammte ihn mit dem Kopf voraus gegen die Wand.
»Gehen wir die anderen Mistkerle suchen, in Ordnung?«, fragte Éibhear und zog seinen bewusstlosen Bruder an den Haaren, die dieser Idiot hartnäckig als seine »langen, üppigen goldenen Locken« bezeichnete, den Flur entlang.