13 Éibhear verlor sich wie immer in den Büchern. Statt sie lediglich in der Ecke der Bibliothek zu stapeln und vor dem Abendessen ein Schläfchen zu halten, endete es damit, dass er versuchte, nicht nur die neuen Bücher zu ordnen, sondern auch die, die noch aus der Zeit vor Annwyls Vater stammten.

Eigentlich hatte er gedacht, Dagmars Neffe hätte sich bereits davongemacht – der Junge wirkte, als wäre er ständig benommen –, aber wie Éibhear schien auch er sich in der Bibliothek wohlzufühlen und führte Anweisungen, wo er Bücher hinstellen oder welches Regal er ausräumen sollte, damit sie es neu ordnen konnten, schnell und gewandt aus.

Es war angenehm und ruhig, und Éibhear wurde bewusst, dass er so etwas schon eine ganze Weile nicht mehr genossen hatte. Bei den Mì-runach wurde es nicht gern gesehen, wenn man mehr als ein- oder zweimal in der Woche ein paar Stunden las. »Wer hat schon Zeit für Bücher, wenn er trinken, herumhuren oder töten kann?«, fragte dann der alte Angor, bevor er Éibhear ein Buch, das ihm Annwyl oder Talaith geschickt hatten, aus den Händen schlug und ihn in die nächste Schänke schob.

Nicht, dass Éibhear etwas gegen das Trinken, Herumhuren oder Töten gehabt hätte. Das hatte er nicht. Aber er hatte immer das Gefühl, dass auch Lesen und Bücherkaufen gut in diese Liste passten.

Frederik reichte ihm ein weiteres Buch. »Ich wünschte, ich könnte besser lesen.«

»Verbring deine Zeit hier drin, dann wirst du es bald können. Lesen lernt man, indem man es tut. Das kann fast jeder bis zu einem gewissen Grad, wenn er übt.« Er beugte sich vor und fügte leise hinzu: »Abgesehen davon ist es ein wunderbares Versteck vor deiner Familie, wenn es sein muss.« Achselzuckend richtete er sich wieder auf und schaute auf den Buchrücken. »Es sei denn natürlich, sie spüren dich auf und …«

»Mein lieber, süßer Sohn!«

Éibhear unterdrückte ein Seufzen und drehte sich langsam um. Er lächelte. »Hallo, Mum.«

Izzy hatte den kochenden Eintopf gerade noch einmal umgerührt, als es klopfte.

Eilig ließ sie den Kochlöffel auf den Tisch fallen und rannte durch den kleinen Raum. Sie riss die Tür auf und strahlte.

Brannie hielt mit breitem Grinsen zwei Flaschen von Bercelaks Bier in die Höhe. Doch was – oder in diesem Fall: wer – hinter Brannie stand, brachte Izzy dazu, sich an ihrer Freundin vorbeizudrängen und sich direkt in die Arme des Drachens zu werfen, der dort stand.

»Celyn!«

Starke Arme legten sich um ihre Taille, hoben sie hoch und drückten sie. »Meine kleine Izzy.«

»Hört auf damit, ihr zwei«, sagte Brannie und trat ein. »Es gibt Eintopf, Brot und Bier … Wir können uns die Umarmungen für später aufheben.«

Éibhear umarmte seine Mutter und lächelte, als sie ihm ins Ohr flüsterte: »Oh, wie ich dich vermisst habe, mein Sohn.«

»Ich habe dich auch vermisst, Mum. So sehr.«

»Hast du mich auch vermisst, Junge?« Éibhear hörte den höhnischen Unterton in dieser anderen Stimme und zog verärgert die Oberlippe hoch, als er seinen Vater in der Tür entdeckte.

Seine Mutter schob ihn eilig von sich und fragte: »Und wer ist dieser junge Mann?«

Vater und Sohn knurrten sich an, bis seine Mutter Éibhear anstieß. »Stell uns vor, Sohn!«

»Das ist Frederik Reinholdt. Lady Dagmars Neffe.«

»Oooh, na, du bist mir ja mal ein strammer Junge!«, rief seine Mutter aus. Sie winkte Frederik näher. »Ich bin Königin Rhiannon, aber du kannst mich Königin Rhiannon nennen.«

Mit leicht offenem Mund und starrem Blick nahm Frederik die Hand, die ihm Rhiannon reichte, und verbeugte sich tief aus der Hüfte. »My … Mylady.«

Rhiannon lächelte strahlend, als sie sich vorbeugte und sagte: »Was bist du bezaubernd! Ich könnte dich auf der Stelle auffressen!«

»Mum!«

»Na ja, das meine ich doch nicht wörtlich!«

Izzy nahm den Eintopf vom Feuer und stellte ihn auf den Tisch, während Brannie Schüsseln und Löffel herausholte und Celyn das Bier einschenkte. Es war ein altes Ritual, das sie vor ein paar Jahren begonnen hatten. Schwer zu glauben allerdings, angesichts von alledem, was passiert war.

Auch wenn Izzy wusste, dass viele ihr nicht glaubten, hatte sie nie vorgehabt, dass die Dinge zwischen ihr, Éibhear und Celyn so endeten. Sie war jung gewesen und … neugierig. Es hatte ein paar unter ihren Soldatenkameraden gegeben, die anboten, diese Neugier zu befriedigen. Manche höflich, manche mit einem direkten »Ich vögle dich richtig durch«, was Izzy nur dazu gebracht hatte, nach der nächsten Waffe in Reichweite zu greifen oder Hiebe zu verteilen. Celyn dagegen hatte ihr Interesse einfach dadurch geweckt, dass er lieb, lustig und selbstbewusst war. Er biederte sich nicht an, weil er es nicht nötig hatte. Und eines Nachts, allein im Wald, hatten sie den nächsten – zumindest für sie – logischen Schritt gemacht.

Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass alles so böse enden würde. Andererseits hätte sie auch nie gedacht, dass Éibhear es herausfinden würde. Und falls doch, hätte sie nicht gedacht, dass es ihm etwas ausmachen würde. Und auch wenn die sechzehnjährige Izzy, die sich Hals über Kopf in den Drachen verliebt hatte, als sie ihn und seine blauen Haare das erste Mal sah, hatte glauben wollen, dass sie ihm wichtig war, dass er eifersüchtig war – die abgebrühtere, realistischere Neunzehnjährige, die sie zu der Zeit gewesen war, hatte es besser gewusst. Hatte gewusst, dass es mehr um sein Ego und den Wettstreit mit seinem Cousin ging als um sie persönlich.

Zum Glück war das alles lange her, und viel hatte sich verändert. Zumindest für Izzy.

»Du hast also meinen Cousin gesehen?«, fragte Celyn, als er mit seinem Eintopf fertig war und seine leere Schüssel von sich schob, um sich zurückzulehnen, die langen Beine ausgestreckt, die Hand um einen Becher Bier gelegt.

»Er hat uns nach Hause eskortiert.«

»Und wie ist das gelaufen?«

Izzy versuchte, mit den Fingern durch das wirre, schmutzige Durcheinander von Macsens Fell zu streifen. Es war ja nicht so, dass sie ihn nicht striegelte. Das tat sie sogar oft, aber wenn sie mit dem hinteren Ende durch war, war das vordere Ende schon wieder ein wirres, schmutziges Durcheinander. Aber da es dem Hund nichts auszumachen schien …

»Warum fragst du?«

»Weil ich furchtbar neugierig bin.«

Izzy lachte. »Wenigstens bist du ehrlich.«

»Als ein Mitglied der auserwählten Leibwache der Drachenkönigin bin ich durch Blut daran gebunden, ehrlich zu sein.« Er blickte in die Ferne und fügte hinzu: »Es sei denn, die Königin sagt mir, ich soll lügen … was auch schon vorgekommen ist.«

»Schockierend«, murmelte Brannie und griff nach der Bierflasche, um ihren Becher nachzufüllen.

»Aaah, die Eifersucht einer Schwester. Bist du so verbittert über meine Ernennung, liebe Brannie?«

»Nein. Ich habe nur genug davon, Mum ständig davon reden zu hören.«

»Oh, kleine Schwester, du solltest nicht so empfindlich sein. Du weißt, dass Mum mich einfach lieber hat als dich – au! Das ist mein Schienbein, Menschenfrau!«

»Ich weiß!«, blaffte Izzy, der es leidtat, dass sie heute Abend barfuß war, denn Celyns Schienbeine waren wie Granit.

»Es mag dir nicht bewusst sein, Bruder, aber Izzy ist mir gegenüber loyal. Also zwing mich nicht, sie auf dich loszulassen.«

»Und jetzt machst du dich über mich lustig«, beschwerte sich Izzy.

»Nein. Das ist eine ernsthafte Drohung«, gab Celyn zu. »Sie wird von vielen in der Familie eingesetzt. Vor allem von Briec. Er liebt es, Leuten, die ihm auf die Nerven gehen …«

»… also allen …«, stellte Brannie fest, während sie das letzte Stück Brot in drei Stücke riss.

»… mit seiner schönen ältesten Tochter zu drohen, die dir die Schuppen vom Rücken und das noch schlagende Herz aus der Brust reißen wird, bevor sie auf deinen Leichnam spuckt.«

Izzy hob die Hand an die Brust und sagte mit zitternder Stimme, als kämpfe sie gegen die Tränen: »Das ist das Schönste, was ich je gehört habe!«

»Er liebt seine beiden Mädchen.«

»Das habe ich gebraucht.« Sie nahm Brannie das Stück Brot ab. »Heute habe ich mich ein bisschen … schlecht gefühlt.«

»Schlecht?« Celyns neckender Gesichtsausdruck verwandelte sich in Besorgnis. »Weshalb?«

»Éibhear hat mir erzählt, die Familie habe ihn ferngehalten, weil sie ihn nicht in meiner Nähe haben wollten. Und Daddy und Fearghus sagen, dass das im Großen und Ganzen so stimmt. Aber sie haben auch erzählt, dass Opa Éibhear gezwungen hat, sich den Mì-runach anzuschließen, und in den letzten zehn Jahren saß er dann in den Eisländern fest. Keiner sollte in den Eisländern festsitzen. Keiner.«

Celyn und Brannie starrten sie lange an, dann tauschten sie Blicke untereinander, schauten wieder sie an und sagten dann gleichzeitig: »Nein.«

»Nein? Was meint ihr mit Nein?«

»Niemand befiehlt den Mì-runach etwas«, erklärte Celyn. »Außer der Königin. Sie sagt ihnen, was sie will, und die Mì-runach setzen es um.«

»Setzen es um? Wie?«

Celyn zuckte die Achseln. »Wie sie wollen. Die Mì-runach enden bei den Mì-runach, weil sie keine Befehle befolgen. Zumindest keine, die von jemand anderem als der Königin kommen.«

»Wenn sie keine Befehle befolgen können, warum …«

»Nein. Ich sagte, dass sie keine Befehle befolgen, nicht, dass sie es nicht können.«

»Das ist ja noch schlimmer.«

»Als Krieger sind sie oft zu gut, um sie nicht einzusetzen.«

»Unser Großvater zum Beispiel«, fügte Brannie hinzu. »Er war ein mächtiger Krieger, aber der Schlimmste im Heer. Bis dann unsere Großmutter …«

»Er vögelte, aß und trank gern. Und er liebte einen guten Kampf. Aber er hasste es, Befehle ausführen zu müssen.«

»Hasste Generäle und Kommandeure.«

»Hasste es, morgens aufzustehen.«

»Vor allem nach einer guten Nacht voller Vögeln und Trinken.«

Izzy fragte lachend: »Also hat er sich den Mì-runach angeschlossen?«

»Man schließt sich den Mì-runach nicht an.«

»Nicht freiwillig«, warf Brannie ein.

»Dann werden sie also gezwungen«, mutmaßte Izzy, der Éibhears Lage schon wieder leidtat.

»Sie haben eher keine große Wahl«, antwortete Celyn. »Normalerweise ist es die Entscheidung zwischen den Mì-runach und den Salzminen.«

»Viele nehmen die Salzminen.«

»Aber wenn du die ersten zwei Jahre Ausbildung überlebst … wirst du Mì-runach.«

»Wenn du die Ausbildung überlebst?«

»Was schwer genug ist, aber wenn du ein vollwertiger Mì-runach bist, ziehst du trotzdem ohne Rüstung in den Kampf …«

»… ohne Farben …«

»… ohne wirklichen Anführer.«

Schockiert, die Hände an die Wangen gepresst, fragte Izzy: »Haben sie wenigstens Waffen?«

»Manchmal schon, denke ich.« Celyn schüttelte den Kopf. »Ich will ehrlich sein, Iz. Ich würde es nicht tun.«

»Aber …« Izzy verzog unwillkürlich ungläubig das Gesicht. »Éibhear?«

»Nach dem, was Austell dem Roten passiert ist …« Der junge Drachenkrieger-Rekrut war während der letzten Schlacht des Krieges gegen die Eisendrachen umgekommen. Izzy hatte gehört, dass Éibhear das sehr mitgenommen hatte und er sich aus irgendeinem Grund selbst die Schuld daran gab, aber keiner wollte Izzy je genau sagen, warum. Nach einer Weile hatte sie aufgehört zu fragen, da sie das Gefühl hatte, sie wollte auch gar nicht so genau wissen, warum Éibhear sich selbst die Schuld gab.

»Na ja«, fuhr Celyn schließlich fort, »mein Cousin war danach nie wieder ganz der Alte.«

»Er ließ sich nicht ausbilden. Hat sich geweigert, zuzuhören.«

»Hat gegen jeden gekämpft. Éibhear war einfach wütend.«

»Also hat ihn Großvater zu den Mì-runach geschickt?«, fragte Izzy und winkte Brannie, ihr die Bierflasche herüberzureichen.

»Ich war nicht überrascht, dass Onkel Bercelak ihn geschickt hat«, stellte Celyn fest. »Aber ich war überrascht, dass die Königin ihn gehen ließ.«

»Weil es Éibhear war?«

»Weil kein Drachenprinz je bei den Mì-runach war, egal in welcher ihrer Formen.«

»In welcher ihrer Formen?«

Brannie zuckte die Achseln. »Die Mì-runach gibt es schon fast so lange wie die Drachenarmeen. Aber sie hatten keinen offiziellen Namen, bis Großvater Ailean dazustieß. Davor waren sie einfach ›diese irren Bastarde, die für ein Pint und eine Hure töten würden‹.«

»Ganz reizend.«

Celyn lachte. »Jetzt sind sie ein bisschen organisierter, aber sie sind immer noch irre Bastarde. Und soweit ich gehört habe, passt Éibhear perfekt dazu.«

»Man erzählt sich, dass das ganze Eisland erleichtert aufgeatmet hat, als Éibhear der Verächtliche endlich das Gebiet verließ.«

Izzy beschloss, dass sie genug getrunken hatte, und schob ihren halb vollen Becher von sich. »Dann glaubst du also nicht, dass die Mì-runach gezwungen wurden, ihn fernzu…«

»Die Mì-runach haben ihn in den Eisländern behalten, weil sie dort in den letzten Jahren gebraucht wurden. Und ich bin mir sicher, bei seinem Ruf und mit seinem Kampfgeschick wäre keiner von den Mì-runach einverstanden gewesen, wenn Éibhear einfach zu einem Familienbankett oder dem Geburtstag deiner Schwester geflitzt wäre.«

»Wenn du zu den Mì-runach gehörst, sind sie deine Familie. Nur deine Gefährtin zählt mehr.« Brannie dachte kurz nach. »Falls einer von ihnen überhaupt eine hat.«

»Dass also seine Brüder den Mì-runach Anweisung gegeben haben, ihn die letzten zehn Jahre in den Eisländern festzuhalten …?«

»Ist nie passiert.«

Izzy ließ sich auf ihrem Stuhl nach hinten fallen. »Warum bei allen Höllen lassen sie ihn dann in dem Glauben?«

Celyn tätschelte ihr über den Tisch hinweg die Hand. »Weil dein Vater und deine Onkel grausame Mistkerle sind, Schatz. Wie kannst du das immer noch nicht bemerkt haben?«

Izzy riss ihre Hand weg. »Ach, halt die Klappe!«

Königin Rhiannon setzte sich neben ihren jüngsten Sprössling auf den Hügel mit Blick auf die Burg der Insel Garbhán und ihre Anlagen. Beim letzten Mal, als sie hier mit ihrem Sohn gesessen hatte, hatte er gerade den sehr hässlichen Übergang vom Kind zum Erwachsenen durchgemacht. Als sie jetzt zu seinem Profil aufschaute, sah sie, was diese Veränderung ihn gekostet hatte. Da waren keine weichen Linien mehr. Keine makellose, zarte menschliche Haut. Jetzt war sein Kiefer stark, und sie konnte sehen, dass er mindestens einmal gebrochen gewesen war. Seine Wangenknochen waren scharf, und er hatte Narben am Hals und im Gesicht, was bedeutete, dass Stahlklingen durch harte Schuppen in das Fleisch darunter geschnitten hatten.

Als sie den Mì-runach Aufgaben geschickt hatte, hatte sie Mühe gehabt, nicht daran zu denken, dass ihr Sohn möglicherweise zu der Einheit gehörte, die sie aussenden würden, um sie auszuführen. Der Gedanke, dass er schreiend, ohne Rüstung auf feindliches Gebiet stürmte und alles zerstörte, was ihm in den Weg kam, bis er sein Ziel erreicht hatte, hielt sie oft nachts wach. Nicht nur, was ihm möglicherweise körperlich zustieß, sondern was ihn verändern könnte. Was ihn zu einem Drachen machen könnte, mit dem sie lieber nicht sprechen, von dem sie lieber nicht hören oder auch nur zugeben wollte, dass er ihr Sprössling war.

In anderen Worten: Würde es ihn zu einem Schuft machen, ein Mì-runach zu sein?

Natürlich war es beim Abendessen schwer zu beurteilen gewesen. Vor allem, weil ihr Gefährte und ihre älteren Söhne ihn so hänselten. Éibhear hatte nicht viel gesagt. Hatte einfach weitergegessen, bis er irgendwann aufgestanden und gegangen war. Dann hatte sie sich das Gezänk zwischen ihren Söhnen und deren Gefährtinnen anhören müssen. Würde das denn nie ein Ende haben? Aber wenigstens taten diese Menschenfrauen, was sie konnten, um Éibhear zu beschützen.

Rhiannon bereitete sich auf ihre Rede vor. Die Rede, die sie Éibhear über die Jahre mehr als einmal gehalten hatte, und auch ihren älteren Söhnen, als diese jünger gewesen waren. Die Rede, in der Dinge vorkamen wie:

»Ich bin mir sicher, dein Vater hat es nicht so gemeint.«

»Natürlich liebt dich dein Vater.«

»Nein. Er hat nicht versucht, dein Ei an den höchstbietenden Menschen zu verkaufen.«

»Und natürlich hat er nie versucht, dich im Schlaf umzubringen!«

Sie bereitete diese Rede vor, doch bevor sie sie aufsagen konnte, wie sie das in den letzten Jahrhunderten getan hatte, sagte ihr Sohn: »Izzy war nicht beim Abendessen.«

Rhiannon blinzelte und klappte den Mund zu. »Nein. Morfyd sagte, sie sei müde und wollte schlafen.«

»Aber sie ist nicht in ihrem Zimmer.«

»Sie hat jetzt ein Haus.«

Endlich schaute ihr Sohn sie an, mit Neugier in den strahlenden silbernen Augen … wie immer. Vor allem, wenn es um Iseabail ging.

»Ein Haus? Izzy hat ein Haus?«

»Gwenvael hat es für sie bauen lassen. Es ist direkt vor der Stadt.« Rhiannon beugte sich ein wenig vor und sagte leise: »Ich glaube, sie hat sich hier ein bisschen beengt gefühlt.«

»Talaith?«

»Die Zwillinge. Sie sind entsetzlich neugierig.« Als ihr Sohn sie nur anschaute, ergänzte sie: »Im Gegensatz zu mir!«

Er grunzte und blickte wieder über die Landschaft. »Ich habe eine Burg gekauft.«

»Wofür?«

»Ich schlafe gern in einem Bett.«

»Man kann auch in Höhlen Betten haben.«

»Ich habe auch eine Höhle. Aber ich wollte eine Burg.«

Sie schüttelte den Kopf. »Genau wie dein Großvater. Ich konnte es nicht fassen, als dein Vater mich entführte und in Aileans Burg brachte statt in eine Höhle. Stell dir vor! Eine ganze Drachenfamilie, die gezwungen wird, in einer Burg zu leben!«

»Musst du immer darauf herumreiten, dass du von unserem Vater entführt wurdest?«

»Es stimmt doch!«

»Daddy sagt, du wurdest auf seiner Schwelle abgeworfen wie königlicher Abfall. Und du warst auch noch hochmütig deswegen.«

»Ich war nicht hochmütig. Ich bin einfach besser als er. Als er das erst verstanden hatte, war alles gut.«

Und da war es. Das, was sie so lange vermisst hatte: Éibhear der Blaue lächelte.

»Ich habe dich vermisst, Mum.«

»Ich habe dich auch vermisst.« Sie legte den Kopf an seinen Arm und staunte über die Größe des Muskels unter ihrem Ohr. »Und ich bin froh, dass du zu Hause bist. Zumindest für eine Weile.«

»Ja, ich auch.«

Nachdem ihre Freunde gegangen waren, räumte Izzy den Tisch ab, ließ Macsen hinaus und wusch ab. Sie war gerade dabei, ins Bett zu kriechen, als ein Klopfen an der Tür sie zwang, sich ein Nachthemd über den nackten Körper zu ziehen und ihr Schwert zu packen. Sie öffnete die Tür einen kleinen Spalt und senkte sofort die Waffe.

»Ja?«

»Ich habe schlecht geträumt.«

Izzy öffnete die Tür, blieb aber im Türrahmen stehen, damit ihre Schwester nicht hereinkommen konnte. »Du hast schlecht geträumt?«

»Ja.«

»Also bist du in Nachthemd und Morgenrock den ganzen Weg von der Burg hier hergekommen, damit du in meinem Bett schlafen kannst?«

»Ja.«

»Der Plüschbär ist ein hübsches Accessoire.«

»Danke.«

»Bist du allein gekommen?«

»Nein, nein. Die Zwillinge sind auch da.«

Izzy beugte sich hinaus und schaute sich um. »Die Zwillinge sind – wo?«

»Auf den Bäumen.«

»Warum …« Izzy warf einen Blick nach oben und versuchte, das Ganze zu verstehen. »Warum sitzen sie auf den Bäumen?«

»Zum Schlafen.«

»Sie wollen nicht hereinkommen?«

»Sie schlafen gern auf Bäumen. Ich dagegen nicht.« Rhi schlang die Arme um den Körper. »Es wird kälter …«

»Erwartest du von mir, dass ich Macsen rauswerfe?«

»Macsen liebt mich!« Rhi schob sich an ihr vorbei. »Du bist so gemein!«

Lachend ging Izzy nach draußen und sagte zu den Bäumen: »Ihr könnt bei mir auf dem Boden schlafen.«

»Nein, danke«, kam es zurück. Sie zuckte die Achseln und ging hinein, schloss die Tür hinter sich, ließ aber den Riegel offen. Sie wusste, wenn die Zwillinge nicht hereinkamen, würden sie die ganze Nacht in den Bäumen bleiben und für Rhis Sicherheit sorgen.

Als Izzy ins Schlafzimmer kam, fand sie ihre Schwester auf dem Bett vor, wo sie mit Macsen rang. Der Hund wollte ihr den Plüschbären abnehmen, den sie mitgebracht hatte.

»Gib her, du Bestie!«

»Wenn ihr zwei nicht brav spielt, dann …«

»Ihr zwei?«

Macsen riss Rhi den Bären aus den Händen, sprang vom Bett und begann, im Raum herumzuhüpfen. Fast wie ein kleines Pferd.

»Das ist jetzt aber gemein, Macsen!«

»Das genügt!« Izzy streckte die Hand aus. »Spielzeug. Sofort.«

Macsen blieb stehen und schaute sie an. »Sofort!«

Er spuckte ihr das Spielzeug vor die Füße, und Izzy hob es auf und legte es auf ein Regal, das zumindest theoretisch nicht zu erreichen war.

»Aufs Bett!«, befahl sie. Und an ihre Schwester gewandt: »Unter die Decke. Kein Drängeln!«

Giggelnd tauchte Rhi unter die Laken. Zu wissen, dass ihre Schwester so glücklich war, sie zu sehen, bedeutete Izzy wirklich eine Menge. Als Generalin gab es Tage, an denen ihre Männer ihren Anblick liebten und andere, an denen sie ihn absolut fürchteten. Aber egal, welcher Tag: Rhi war immer begeistert. Izzy schlüpfte nach ihrer Schwester ins Bett.

»Deine Füße sind eiskalt!«, beschwerte sich Rhi.

»Dann hättest du in deinem eigenen Bett bleiben sollen, Heulsuse.«

Sobald Izzy sich entspannte, war Rhi da, schlang ihr die Arme um die Taille und legte den Kopf an ihre Schulter.

»Du wurdest beim Abendessen vermisst«, sagte Rhi in die Dunkelheit.

»Ich weiß. Es tut mir leid, dass ich nicht da war.« Izzy umarmte ihre Schwester ein bisschen fester. »Ich … ich konnte es nur einfach nicht. Ich wusste, du würdest es verstehen.«

»Oh, das habe ich! Ich wünschte, ich könnte öfter beim Essen fehlen.« Sie schwieg kurz, dann fügte sie hinzu: »Onkel Éibhear sah besonders enttäuscht aus.«

»Rhianwen …«

»O-oh. Verwendung des vollen Namens.«

»So ist es. Also hör gut zu, Schwester. Es gibt und wird auch niemals etwas zu diskutieren geben, wenn es um deinen Onkel Éibhear geht. Hast du verstanden?«

»Habe ich.«

»Dürfen wir ihn überhaupt nicht erwähnen?«, fragte eine männliche Stimme in der Dunkelheit, und Izzy wurde bewusst, dass sich die Zwillinge jetzt in ihrem Zimmer, auf ihrem Bett befanden. Ausgestreckt am Fußende.

»Ich dachte, ihr zwei wolltet in den Bäumen schlafen.«

»Es war weniger bequem, als wir dachten«, sagte Talwyn gähnend.

»Also sind wir hereingekommen«, fügte Talan hinzu.

»Und wo ist der Hund?«

»Zwischen mir und Talwyn.«

Izzy verdrehte die Augen und blaffte Macsen an: »Ein toller Wachhund bist du, du verschlafener Bastard.«

»Psssst!«, flüsterte Talwyn. »Er schläft!«

Izzy beschloss, dass es keinen Sinn hatte, etwas dagegen zu tun, schloss die Augen und versuchte zu schlafen.

Ihr wurde jedoch klar, dass der Versuch Zeitverschwendung war, als das Gekicher begann, gefolgt von einer Beschwerde über das Kichern, und dann das Schnarchen. Bei den Göttern, das Schnarchen!