36 Eine halbe Stunde saß Izzy da und schaute ihrer Großmutter – und Oberbefehlshaberin der Schutzmacht der Stadt – zu, wie sie Izzys Zutritt zum Nolwenn-Tempel verhandelte. Ihre Tanten und Onkel, ein paar ihrer älteren Cousins und Cousinen und ihr Großvater standen neben ihr und Éibhear und warteten ebenfalls. Doch während die Sonnen über ihnen weiterzogen, begann die Hitze Izzys Gehirn in ihrem Schädel zu kochen; sie wurde immer genervter.

Sie versuchte, nicht genervt zu sein. Sich auf andere Dinge zu konzentrieren. Wie die Schönheit der Stadt. Sefu war eine glanzvolle Stadt mit einem großen Fluss, der sie mit dem Meer und mehreren größeren Wüstenland-Häfen verband. Sie war geschäftig, lebhaft und schön gebaut, besaß eine der größten Bibliotheken und ein wichtiges Theater.

Doch allein beim Nachdenken über diese Dinge ärgerte sich Izzy noch mehr, denn sie würde sie nicht genießen können. Schließlich hatte sie Dinge zu erledigen.

Maskini kam die lange Treppe herab.

»Es tut mir leid, Izzy«, sagte sie, als sie nahe genug war, um ihren Misserfolg nicht herausschreien zu müssen. »Sie haben vorgeschlagen, dass du morgen wiederkommst. Sie gehen davon aus, dass einer ihrer Termine abgesagt wird, und sagen – Izzy? Wo willst du hin?«

»Ihr alle wartet hier.«

Zwei Stufen auf einmal nehmend, ging Izzy zu den Tempeltoren hinauf. Sie drückte dagegen, aber sie bestanden aus solidem Marmor und waren von innen verriegelt.

»Izzy?« Über die Schulter schaute sie Éibhear an. Er war ihr die Treppe hinauf gefolgt.

Sie machte einen Schritt rückwärts und zeigte auf die Türen. »Reiß sie ein.«

Éibhear schaute sich um. »Bist du dir sicher?«

»Du hast keine Ahnung, wie sicher ich mir bin. Und jetzt tu’s.«

Éibhear zuckte die Achseln und ging wieder ein paar Schritte hinunter. Er streifte die Kleider ab und gab sie Izzy. Dann bedeutete er ihr mit einer Handbewegung, weiter wegzugehen und verwandelte sich, denn seine natürlichen Kräfte waren noch stärker, wenn er in Drachengestalt war.

Als Drache holte er tief Luft und schleuderte einen Flammenstrom auf die Tore. Der dicke Marmor gab nach, die Hitze schmolz einen Teil des Tors. Doch sie hielt. Ohne seinen Flammenstrom zu stoppen, rannte Éibhear nach vorn und rammte die Schulter gegen den Marmor. Die Türen wurden aus den Angeln gerissen und flogen ins Innere, krachten gegen die Wände und die Decke, bevor sie mehrere Meter weiter auf dem Boden landeten.

Jetzt trat Éibhear zurück und nickte in Richtung des offenen Durchgangs. Izzy legte seine Kleider ab und ging die Stufen hinauf in den Tempel. Éibhear warf einen Blick auf Izzys schockierte Familie, die mit großen Augen, teilweise auch mit offenem Mund, dastand. Er zwinkerte ihnen zu und folgte Izzy hinein.

Izzy betrat den Nolwenn-Tempel. Er war ziemlich schön. Und groß. So groß, dass Éibhear ihr ins Innere folgen konnte, ohne sich in einen Menschen zurückzuverwandeln.

Sie schaute sich zwischen den Marmorstatuen und dem Marmorboden um und fragte: »Wo ist Haldane?«

»Dann bist du also Talaiths Tochter?«, fragte eine junge Hexe sie.

»Haldane«, wiederholte Izzy, während sie auf die junge Hexe zuging.

»Sie hat leider viel zu tun, und ich glaube nicht, dass sie die Zeit finden wird, das Kind einer Verräterin zu treffen …«

Izzy schnitt der Hexe das Wort mit einem rechten Haken gegen ihren Kiefer ab. Die Hexe sank zu Boden und Izzy stieg über sie hinweg.

»Ich will meine Großmutter sehen«, sagte sie laut; ihre Stimme hallte von dem ganzen Marmor wider. »Und zwar sofort.«

Als sie den langen Flur entlangging, tauchten Hexen aus kleineren Nebenräumen auf, schauten sie an, sagten aber nichts.

Schließlich erreichte Izzy einen riesigen Torbogen. Sie ging hindurch, blieb aber kurz dahinter stehen und blinzelte mehrmals.

Éibhear kam hinter ihr herein, und sie hörte, wie er nach Luft schnappte.

»Ihr Götter!«, hörte sie ihn flüstern.

Noch bevor Izzy mit ihrer Mutter wiedervereint war oder wusste, wie sie aussah, hatte Rhydderch Hael Izzy immer gesagt, dass sie ihrer Mutter und ihrem Vater sehr ähnlich sähe. Sie habe das Gesicht ihrer Mutter, aber die Augen und das Lächeln ihres Vaters, hatte er gesagt. Und nach einem Abend mit der Familie ihres leiblichen Vaters wusste Izzy, dass er recht gehabt hatte, denn sie hatten es ihr alle bestätigt. Also hatte sie erwartet, dass ihre Großmutter ein bisschen wie Talaith aussah. Doch sie hätte nie geglaubt, dass sie wie ihr Spiegelbild aussehen würde.

»So«, sagte die Hexe, »du bist also diejenige, für die meine Tochter all das hier aufgegeben hat.« Dunkelbraune Augen musterten Izzy. »Du.« Sie hörte die Enttäuschung in der Stimme der Hexe. »Na ja … besonders schlau war deine Mutter nie.«

Haldane, Tochter von Elisa, war mehr als vierhundert Jahre alt, was man ihr ganz und gar nicht ansah, abgesehen von ein paar grauen Haaren an den Schläfen.

Es war, gelinde gesagt, verwirrend für Izzy, ihre »Mutter« dastehen zu sehen, aber zu wissen, dass es nicht ihre Mutter war. Das letzte Mal, als das passiert war, hatte Rhydderch Hael den Körper ihrer Mutter übernommen, um ins Reich einer anderen Göttin eindringen und sie töten zu können. Aber diese Hexe, die da auf einem Podest stand und Izzy anschaute, als wäre sie vollkommen bedeutungslos, war einfach nicht ihre Mutter. Sie war von nichts besessen als einem kühlen, berechnenden Verstand. Eine herzlose Schlampe.

Und Izzy wollte sie am liebsten töten.

»Oh«, wandte sich die Talaith-Doppelgängerin an die anderen Hexen, die langsam den Raum betraten. »Sie hat uns einen Drachen mitgebracht. Ist er ein Geschenk?«

»Ich muss mir dir reden, Hexe.«

»Nach all den Jahren? Mehr als drei Jahrzehnte, und du kommst jetzt an meine Tür?«

»Es geht nicht um mich. Es geht um meine Schwester.«

»Ach, richtig. Das Kind, das es nicht geben sollte.«

»Aber es gibt sie.«

»Und ihr fürchtet ihre Macht.«

»Ich fürchte nichts an meiner Schwester. Aber ich will das Beste für sie.«

»Also wirst du sie mir übergeben?«

»Ich will das Beste für sie.«

Die Hexe kicherte. »Wenn du willst, dass mir dieses Kind nicht vollkommen egal ist, hättest du es mitbringen sollen. Du hättest mich ihm in die Augen schauen lassen sollen.«

»Du kannst mit mir nach Garbhán zurückkehren und ihr nach Herzenslust in die Augen schauen.«

»Du willst, dass ich mit« – sie machte eine abwertende Handbewegung in Izzys Richtung – »dir auf fremdes Gebiet reise?«

»Das ist mein Plan.«

Die Hexe schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube nicht. Trotzdem«, fügte sie mit einem Lächeln zu Éibhear hinüber hinzu, »nehme ich dein Geschenk gerne an.«

Éibhear schaute Izzy an.

»Ich glaube«, begann er, »du missverstehst meine Anwesenheit hier, Herrin. Ich bin Éibhear der Verächtliche, Sohn der …«

»Ist mir egal«, unterbrach ihn die Hexe. »Ein Geschenk ist ein Geschenk.« Das Gesicht, das so sehr wie das von Talaith aussah, verzog sich grausam, als sie ausspie: »Wir werden so wundervolle Verwendung für deine Knochen haben.«

Eine der Hexen in seiner Nähe schwang den Arm, und etwas legte sich um Éibhears Hals und riss ihn zurück. Er griff danach, konnte jedoch nur seine eigenen Schuppen spüren. Doch etwas hielt ihn fest und zog ihn von Izzy weg.

Eine weitere Hexe trat vor und schwang den Arm. Etwas packte seine Beine und riss sie ihm unter dem Körper weg. Éibhear fiel auf den Bauch und wurde langsam irgendwohin geschleppt.

Haldane schaute ihre Enkelin an. »Und was dich angeht«, höhnte sie und machte wieder eine verächtliche Handbewegung. Izzys ganzer Körper wurde angehoben und flog rückwärts, als wäre sie von den Göttern selbst geschleudert worden.

Mum!, rief Éibhear in Gedanken. Mum! Izzy braucht dich!

Haldane schaute ihn an. »Ruf nach deiner Mami, so viel du willst, Drache. Sie wird dich nicht hören. Sie wird deine Überreste niemals finden.« Sie machte eine Kopfbewegung zum anderen Ende des großen Raumes hin. »Bringt ihn nach unten und bereitet ihn vor. Heute ist Vollmond. Ich habe vor, ihn voll und ganz …«

Haldane wurde das Wort abgeschnitten, als ein riesiges Stück einer Statue durch den Saal geflogen kam und ihre Brust traf, sodass sie rückwärts umgeworfen wurde.

»Haldane!«, schrie eine der Hexen auf.

Izzy kam wieder herein und sah sehr wütend aus. Aber nicht nur das, da war noch etwas anderes …

Éibhear blinzelte, schaute genauer hin. Etwas sprühte Funken von Izzys Körper. Sie war so zornig, dass er sich gut hätte vorstellen können, dass die Funken einfach von ihrer rasenden Wut kamen. Allerdings glaubte er das nicht.

Mehrere Hexen eilten zu ihrer stöhnenden Anführerin, um ihr zu helfen. Die Hexe hob die Hand und streckte den Zeigefinger aus. Sie begann etwas zu rezitieren, das Éibhear nicht verstand und noch nie gehört hatte. Da brauste Macht von ihrem Körper auf, strömte durch ihre Hand und traf Izzy direkt in die Brust.

Izzy blieb stehen, wedelte mit den Händen nach der Energie, die sie getroffen hatte, und schleuderte sie fort. Es erinnerte Éibhear daran, wenn die Mì-runach sich betranken und Schneeballschlachten austrugen. Dann schleuderten sie riesige Schneebälle aufeinander und schüttelten das Eis und den Schnee einfach ab, bevor sie sich wieder Schnee schnappten und einen neuen Schneeball formten, um sich zu rächen. Genau das tat Izzy.

Diese Magie … sie konnte ihr nichts anhaben. Sie verletzte sie nicht – obwohl sie das eigentlich hätte tun sollen. Denn alle anderen hätte sie verletzt.

Stattdessen schien die Magie etwas anderes bei Izzy zu bewirken. Sie machte sie stärker. Éibhear glaubte nicht, dass diese Kraft von Dauer wäre, aber sie genügte, damit Izzy weitermachen konnte. Da erschienen plötzlich Wachen, die ihr Leben einsetzen würden, um die Nolwenns zu schützen; mit gezogenen Waffen kamen sie aus Geheimtüren. Izzy zog Schwert und Axt, als sie auf sie losgingen. Mit beiden Händen wehrte sie die angreifenden Wachen ab. Blut und Stücke der Männer flogen im Saal herum und bespritzten den ganzen schönen Marmor und die Hexen, die ihn pflegten.

Izzy hieb sich ihren Weg zwischen den Wachen hindurch zu Éibhear. Sie ließ ihre Waffen fallen und löste mit bloßen Händen die Fesseln, die er weder sehen noch spüren konnte. Sie befreite ihn, und er stand auf.

Weitere Wachen kamen hereingerannt, und Éibhear spie Flammen, die ihnen das Fleisch von den Knochen brannten und sie auf der Stelle zu Asche verbrannten.

»Genug!«, ertönte Haldanes Stimme. Drei Hexen hatten ihr auf die Beine geholfen und stützten sie.

Sie musterte Izzy und sagte schließlich: »Deine Mutter.«

Izzy stellte sich schützend vor Éibhear. »Was ist mit meiner Mutter?«

»Sie war das. Sie hat dir diesen Schutz mitgegeben, als du noch in ihrem Bauch warst. Vor uns. Vor anderen Hexen. Wenn dich Magie trifft, bekommen deine sowieso schon übergroßen Muskeln nur noch mehr Kraft.« Haldane lachte leise. »Mein Kind war immer schlauer, als es vorgab.«

»Weil Talaith wusste, dass du versuchen würdest, mich zu töten.«

»Wenn ich dir den Hals hätte umdrehen können, bevor du deinen ersten Atemzug tatest … ich hätte es getan. Und sie wusste es.«

»Du kannst es jetzt immer noch versuchen. Hier bin ich.«

»Das wird nicht nötig sein«, schaltete sich eine andere Stimme ein, und alle Hexen fielen auf die Knie – sogar Haldane. Die ältere Frau kam hinter Éibhear hervor und lächelte ihn und Izzy an. »Hallo, ihr beiden.«

»Wer bist du?«, wollte Izzy wissen.

»Ich heiße Elisa. Ich bin eine Nolwenn-Älteste.« Sie beugte sich vor und flüsterte Izzy zu – auch wenn Éibhear sie ebenfalls sehr gut hören konnte –: »Und deine Urgroßmutter.«

Izzy riss die Augen auf. »Du musst eine Million Jahre alt sein!«

»Izzy!«

Sie schaute zu Éibhear auf. »Was denn?«

Izzy konnte etwas von Talaith im Gesicht dieser Hexe erkennen. Nicht so viel wie in Haldanes, aber sie sah die Ähnlichkeit. In ihren Augen, an ihren Wangenknochen.

»Mutter hat dich nie erwähnt.«

»Wieso hätte sie das tun sollen? Ich habe wenig Gedanken an sie verschwendet. Ich bin davon ausgegangen, dass sie wie ihre Mutter, wie meine Mutter, wie ich den Weg der Nolwenn gehen würde. Warum hätte ich mich um sie kümmern sollen, bevor sie älter war und echte Macht besaß?«

»Weil sie deine Enkelin ist? Weil du ihre Großmutter bist?«

Elisa lachte. »Du bist wirklich das Kind deiner Mutter.«

»Und stolz darauf.«

»Ich weiß. Ich kann es sehen. Sogar spüren.«

Sie machte eine Bewegung zu den Hexen und Wachen, die den Saal füllten. »Ihr alle … raus!«

»Mylady …«, begann eine von ihnen, aber da richteten sich dunkelbraune Augen, die vom Alter völlig ungetrübt waren, auf die Hexe, und sie hielt augenblicklich den Mund und neigte den Kopf.

»Zwingt mich nicht, es zweimal zu sagen!«, befahl Elisa. Es brauchte weniger als eine Minute, bis der Raum leer war.

Die Hexe wandte sich ihnen zu. »Tee?«

»Ooh«, sagte Éibhear. »Also, ein Tässchen …«

Izzy wirbelte mit erhobenen Händen, offenem Mund und gefletschten Zähnen zu ihm herum.

»Was ist denn?«, fragte er. »Ich mag Tee!«