21 Annwyl schaute zu, wie Dagmars junger Neffe sich über den Picknickkorb beugte und hineinschaute. Sie versuchte, nicht zu sehr die Stirn zu runzeln – man hatte ihr gesagt, ihr Stirnrunzeln könne furchteinflößend sein –, aber es gefiel ihr nicht, wenn jemandes Nase dem Essen zu nahe kam, an dem sie alle teilhaben sollten. Sie legte ihm die Hände auf die Schultern, um ihn sanft wegzuziehen, zuckte aber zusammen, als der Junge beinahe zu Tode erschrak.
»Entschuldigung«, sagte sie eilig. »Ich wollte dir keine Angst machen.«
»Nein … ähm …«
»Möchtest du gerne mit uns kommen?«, bot sie an. Annwyl tat der Junge leid, er erinnerte sie an ihre eigene Jugend, als es scheinbar die einzige Passion ihres idiotischen Bruders gewesen war, sie zu quälen. Sie konnte erkennen, dass die Familie dieses Jungen wahrscheinlich nicht viel besser war, vermutlich nur mit ein bisschen weniger offenem Hass.
»Wir machen nur ein Picknick mit den Zwillingen, Rhi, Dagmar, Talaith und Fearghus’ Onkel Bram. Wir reden über Bücher. Na ja … ein paar von uns reden über Bücher. Talwyn zieht ein finsteres Gesicht und schweigt.«
Der Junge schaute auf seine Füße. »Ich lese nicht viel. Es fällt mir schwer.«
Dagmar murmelte etwas davon, dass der Junge nicht allzu helle sei, aber nicht jeder war ein Leser. Talwyn war sicherlich keine Leserin, aber Annwyl hätte ihre hinterhältige, intrigante Tochter wohl kaum als dumm bezeichnet. Dagmar konnte ein kleiner Snob sein, wenn es um Intelligenz ging. Die Barbarin war sich nicht zu schade, jeden auszunutzen, unabhängig von seinem Intelligenzgrad, aber in ihrem inneren Kreis akzeptierte sie nur diejenigen, die sie für »schlau genug« hielt.
Frederik dagegen war nur ein Junge. Ein Junge, der seinem Aussehen nach nicht überall hineinpasste, und das verstand Annwyl vollkommen. Ihr Götter, sie hatte sich erst mit einer komplett anderen Spezies einlassen müssen, bevor sie jene kennenlernte, die sie erträglich fanden.
»Ich bin hier! Ich bin hier!« Rhi hüpfte in einem hübschen mitternachtsblauen Kleid und mit einem Fellumhang um die schmalen Schultern drapiert die Treppe herunter. Die Ledertasche, die ihr Vater vor fast zehn Jahren für sie hatte anfertigen lassen, hing von ihrer Schulter und war höchstwahrscheinlich mit Pergament zum Zeichnen, Zeichenfedern und Tinte gefüllt. Sie nahm wenig mehr mit, wenn sie sich von der Burg entfernte.
»Es ist so ein schöner Tag draußen!«, zwitscherte sie fröhlich. »Und das direkt vor dem Winter! Ich hoffe, wir haben Käse dabei!«
Annwyl hatte Mühe, nicht zu lachen. »Aye. Wir haben Käse. Ich weiß, wie sehr du Käse liebst.«
»Kommt Daddy auch mit?«
»Dein Vater, Fearghus und Gwenveal sind alle bei deinem Großvater in Devenallt Mountain.«
»Aah, wichtige Besprechung unter Männern.«
»Das bezweifle ich.«
»Und Tantchen Keita? Onkel Ragnar?«
»Sie verbringen den Tag in Keitas Höhle.«
Rhi lächelte Frederik zu. »Kommst du auch mit, Lord Reinholdt?« Nur Rhi konnte einen vierzehnjährigen Jungen Lord Irgendwas nennen.
Der Junge runzelte verwirrt die Stirn, antwortete aber nicht. Rhi kratzte sich im Nacken. »Also dann … hmhm.«
Annwyl wollte den Jungen gerade fragen, was er vorhatte, als eine Stimme direkt hinter ihr »Mum!« blaffte und sie fast zu Tode erschreckte.
»Talan!«, schnauzte sie ihren Sohn an. »Schleich dich nicht immer an mich an!«
»Das habe ich nicht!« Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, schnappte sich einen der Körbe und begann, darin zu wühlen. Der Junge war ein hungriges Fass ohne Boden. Egal, wie viel er aß, er schien nie satt zu werden.
Annwyl riss ihm den Korb aus den Händen. »Wo ist deine Schwester?«
»Sie kommt nicht mit.«
»Was meinst du damit?«
Er hob die Hände und zuckte die Achseln. »Sie kommt nicht mit.«
Verärgert wollte Annwyl wissen: »Warum nicht?«
»Ich weiß nicht.« Er griff in einen anderen Korb und zog einen Laib Brot heraus. »Sie war draußen auf dem Übungsgelände. Ich sagte: ›He, los, wir gehen!‹«
»Und was hat sie erwidert?«
»Nichts. Eine von diesen Kyvich hat gesagt«, – Annwyls Sohn senkte seine bereits tiefe Stimme noch mehr – »›Mylady wird nicht teilnehmen.‹«
Annwyl spürte den Zorn in sich hochsteigen und fragte: »Und welche Kyvich hat das gesagt?«
Talan zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Eine von den burschikosen.«
»Sie sind alle ein bisschen burschikos«, flüsterte Rhi und fühlte sich wahrscheinlich furchtbar, weil sie nur diese Andeutung machte.
»Das macht mir nichts aus«, fuhr Talan fort. »Nur der ganze Mist, den sie im Gesicht haben, gibt mir zu denken.«
»Dieser Mist«, fuhr Rhi sie an, »ist Teil eines heiligen Rituals, das …«
»Bla bla bla, mir egal. Können wir endlich gehen, Mum?«
»Nicht ohne deine Schwester.«
»Mum, lass es gut sein. Wenn sie mit den burschikosen Hexen Schwertkämpferin spielen will, dann lass sie. Zum Gespräch trägt sie sowieso nicht viel bei.«
»Darum geht es nicht!«, brüllte Annwyl. »Ich bin die Königin!«
Talan lehnte seufzend den Kopf an die Stuhllehne. »Und wir sind …«
»Ich bin hier die Königin, und ich regiere. Ich regiere hier! Nicht die götterverdammten Kyvich. Nicht deine Schwester. Ich!«
»Mum!«
»Nein! Ich sagte, sie geht mit zu dem verdammten Picknick, und sie wird zu dem verdammten Picknick mitgehen! Und dass es ja keine von diesen Schlampen wagt, mich abhalten zu wollen!«
Talan schaute seiner Mutter nach, als sie mit geschwollenen Muskeln zur Tür hinausstürmte. Ihre Finger zuckten schon in Vorfreude, sich eines der zwei Schwerter zu schnappen, die sie auf den Rücken geschnallt überallhin mitnahm – ja, sogar zu einem Picknick mit der Familie.
Während er noch darüber nachdachte, die nötige Energie aufzuwenden, aufzustehen und ihr nachzulaufen, traf ein für die Größe des daranhängenden Mädchens ziemlich großer Fuß sein Schienbein.
»Au!«
»Das hast du ganz furchtbar gemacht, Talan!«, tadelte ihn Rhi.
»Was habe ich getan?«
»Wie konntest du deiner Mutter so etwas sagen?«
»Ich fand, ich habe es ziemlich gut gemacht. Ich habe ihr schließlich nicht erzählt, dass ich in den Augen der Kyvich ›Scheiß auf diese Schlampe von Königin‹ gelesen habe, oder? Das habe ich für mich behalten. Ich dachte, du wärst stolz auf mich.«
»Oh!« Rhi warf ihre Zeichentasche auf den Tisch, hob den Saum ihres Kleides an und rannte seiner Mutter nach.
Jetzt bemerkte Talan den neuen Jungen. »Hey, Freddy.«
»Ich heiße Frederik.«
»Ja, von mir aus. Du holst am besten Tante Dagmar.«
»Warum?«
»Weil die Chancen gut stehen, dass meine Mutter gleich jemandem den Kopf abschneidet.«
»Wörtlich?«
»O ja«, lachte Talan. »Wenn Mum dich nicht mag oder du sie ärgerst … dann haut sie dir den Kopf ab.«
Der Junge machte mit vor Entsetzen aufgerissenem Mund einen Schritt rückwärts. »Aber … sie …« Er räusperte sich. »Sie wirkt nicht, als würde sie so etwas tun.«
»Na ja, da du zur Familie gehörst, würde sie das mit dir nicht tun, wenn das deine Sorge ist … und ein bisschen zu jung bist du auch. Aber hauptsächlich, weil du zur Familie gehörst.«
»Aha.«
»Also bist du sicher.« Dann fügte er vorsichtshalber hinzu: »Verrate uns nur nicht. Familie oder nicht – Mum schlägt dir den Kopf ab, wenn du uns verrätst. Sie hält viel von Loyalität.«
»Ich hatte nicht vor …«
»Dachte mir nur, ich stelle das klar.« Talan riss ein Stück Brot von dem Laib und stopfte es sich in den Mund. Als er fertig gekaut hatte, merkte er, dass der Junge immer noch dastand und ihn anstarrte. »Wie alt bist du? Vierzehn Winter?«
»Fünfzehn in zwei Monden.«
»Ja, na ja … immer noch zu jung, um zu trinken. Sag mir Bescheid, wenn du darfst. Dann gehen wir in den Pub. Besorgen uns ein paar Frauen. Magst du Frauen?«
»Hä?«
Talan setzte sich auf und ignorierte, dass der Junge eilig noch weiter zurückwich. Er winkte ihn fort. »Geh schon, Freddy«, sagte er, als er im Kopf das geknurrte Hau wieder ab! Sofort! seiner Schwester hörte. »Geh Dagmar holen.«
Rhi versuchte, ihre Tante aufzuhalten. Aber es gab kein Halten für Annwyl die Blutrünstige, wenn sie erst einmal in Fahrt war. Wenn sie wütend war. Und mit jedem Schritt in Richtung Trainingsgelände wuchs ihr Zorn.
»Bitte, Tante Annwyl, lass mich mit Talwyn reden. Bitte!«
Aber nicht Talwyn war das Ziel von Annwyls Zorn. Nein, Rhis Tante machte eher die Hexen verantwortlich als ihre Tochter. Die Spannungen zwischen der Südlandkönigin und den Eislandhexen waren von Tag zu Tag stetig gewachsen, seit Talwyn ein Kind gewesen war.
Und ums Reden ging es Annwyl eigentlich auch nicht. Das überließ sie Tante Morfyd und Dagmar. Annwyl war eine Königin der Tat – der brutalen, gewalttätigen, tödlichen Tat – und Rhi bezweifelte, dass sich das jemals ändern würde.
In den nächsten fünf Sekunden würde es sich jedenfalls definitiv nicht ändern.
Annwyl stolzierte zum Übungsring, trat durch das offene Tor und ging zu den drei Hexen hinüber, die gerade mit Talwyn sprachen. Das hätten sie auch zu jedem anderen Zeitpunkt tun können, und Rhi wusste nicht recht, warum diese beiläufige Unterhaltung nicht bis nach dem Picknick warten konnte. Ihre Tante hatte das sicherlich auch schon bemerkt.
Talwyn! Ihre Cousine blickte auf, und ihre grünen Augen wurden schmal, als Rhi in ihrem Kopf schrie.
Was ist los?, wollte Talwyn wissen.
Was glaubst du wohl?
Verdammte Scheiße.
Jetzt steh nicht einfach so da rum!, empörte sich Rhi im Kopf ihrer Cousine. Tu etwas!
Doch als Talwyn den Blick abwandte, wusste Rhi, dass ihre Cousine nichts tun würde, um das zu stoppen. Gar nichts!
Rhi geriet in Panik, war aber auch wütend. Wütend, dass ihre Cousine das zuließ, ohne einen Finger zu rühren. Rhis kombinierte Panik und Wut bedeuteten nichts Gutes. Und diese Erkenntnis versetzte sie nur noch mehr in Panik.
Annwyl ging auf die anderen zu; ihr Körper sah entspannt aus, auch wenn Rhi wusste, dass er es nicht war. Sie konnte die Wut und Angst förmlich in Wellen von ihrer Tante ausstrahlen sehen.
»Können wir dir helfen, M’lady?«, fragte eine der Hexen. Ihr Name war Odda. Sie lächelte viel, aber Rhi mied sie, denn dieses Lächeln war nicht echt. Sie versuchte, es zu verbergen, aber sie war böse und nicht gerne hier. Vor allem mochte sie Tante Annwyl nicht.
»Nein«, sagte Annwyl. Sie machte Talwyn ein Zeichen. »Gehen wir!«
Odda schenkte ihr dieses spezielle Lächeln. »Es tut mir leid, M’lady, aber Kommandantin Ásta hat uns gebeten, heute mit Talwyn zu arbeiten. Also wird sie euer kleines Picknick leider verpassen.«
»Hast du den Eindruck, dass ich euch um Erlaubnis bitte? Wegen irgendetwas? Auf meinem Hoheitsgebiet?« Sie gab Talwyn noch ein Zeichen. »Na los!«
Talwyn machte einen Schritt nach vorn, aber Odda hob einen Finger, und zu Rhis Entsetzen blieb ihre Cousine stehen. Augenblicklich, widerspruchslos. Seit wann tat sie das? Befehle befolgen? Von irgendwem? Sie befolgte nie Befehle. Nicht einmal vernünftige, logische. Niemals!
»Vielleicht ein andermal, Mylady. Aber heute … habe ich meine Befehle.«
Es geschah so schnell, dass Rhi nichts sah, bis Blut die Vorderseite ihres hübschen Kleides befleckte. Da entdeckte sie den blutverschmierten Dolch in Annwyls Hand und den brutalen Schnitt über Oddas linke Gesichtshälfte. Er zog sich von direkt neben ihrem Auge über die Wange bis zum Mundwinkel. Blut floss ihre Wange herab auf ihre Schulter und Brust.
Die blauen Augen der Hexe wurden dunkler, und sie ballte die Fäuste, während Annwyl dicht an sie herantrat und sagte: »Ich weiß, ihr könnt das behandeln, sodass es in ein oder zwei Tagen nichts weiter als eine schwache Erinnerung sein wird. Aber wenn du dich noch einmal zwischen mich und die Meinen stellst – dann wird der nächste Schnitt nicht zu reparieren sein. Verstanden?«
Die beiden starrten sich unverwandt in die Augen, aber Rhi bemerkte, dass plötzlich weitere Kyvich erschienen. Sie wussten es, wenn ihre Hexenschwestern verletzt oder in Gefahr waren, und sie beschützten einander, wie Annwyl die Ihren beschützte. Rhi begann zu zittern, als sie die Kyvich von den Ställen, vom Schmied und aus ihren Quartieren kommen sah.
Ein Arm legte sich um sie, und Rhi schaute zu Talan auf.
»Aye, Mylady«, antwortete Odda. »Ich verstehe.«
Dann versetzte die Hexe Annwyl einen Rückhandschlag, der sie quer über das Gelände und durch den Holzzaun hindurchfliegen ließ.
Sie waren in flottem Tempo auf der Straße in Richtung Garbhán unterwegs, als Izzy ihre Mutter nicht weit vor sich entdeckte.
»Mum!«
Talaith drehte sich um und winkte. »Hallo!«
Izzy ritt neben ihre Mutter. »Hallo, Mum.«
Ihre Mutter trat näher und legte die Hand auf ihren Stiefel. »Fühlst du dich jetzt besser?«, fragte sie leise.
»Äh …«
Sie wusste, was ihre Mutter meinte, und um ehrlich zu sein, hatte sie nicht mehr weiter daran gedacht, nachdem das Vögelfestival mit Éibhear begonnen hatte. Aber das würde sie ihrer Mutter bestimmt nicht sagen. Nicht jetzt. Niemals.
»Wir sollten uns noch einmal unterhalten«, sagte sie stattdessen. »Ich habe immer noch viele Bedenken.«
»Ich weiß, ich weiß. Ich auch. Trifft sich aber gut. Ich wollte gerade zurück zur Burg. Wir veranstalten ein Picknick.« Talaith warf einen Blick hinter sich. »Oh. Du hast Gesellschaft mitgebracht.«
»Aye. Gaius Domitus.«
»Der Rebellenkönig? Er ist hier?«
»Mitsamt seiner Schwester. Er ist hier, um Onkel Bram zu treffen. Er will eine Audienz bei Annwyl und Rhiannon.«
»Ihr Götter. Das kann nichts Gutes bedeuten.« Talaith hielt ihrer Tochter die Hand hin. »Ich reite mit dir. Ich bin mir sicher, Annwyl ist …«
Talaith unterbrach sich abrupt, und ihr Blick ging zur anderen Seite von Izzys Pferd. Izzy schaute hinüber zum Wald, sah aber nichts.
»Mum?«
Talaith blinzelte, dann packte sie Izzys Arm. »Deine Schwester«, war alles, was sie sagte. Alles, was sie sagen musste.
Izzy zog ihre Mutter auf ihr Pferd und schaute sich über die Schulter zu Gaius um. »Wartet hier. Ich schicke euch jemanden.«
»In Ordnung.«
»Macsen. Bleib. Pass auf!«
»Izzy«, fragte Éibhear über ihr; seine kräftigen Flügelschläge bogen die Bäume. »Was ist los?«
»Komm einfach mit!«, befahl ihre Mutter, und Izzy gab ihrem Pferd die Sporen und lenkte es nach Hause.
Talan versuchte, seine Cousine aufzuhalten, aber sie war schon immer stärker gewesen, als sie aussah, und sie befreite sich mühelos und stellte sich zwischen die vorrückende Hexe und seine bewusstlose Mutter.
»Bitte«, flehte Rhi, als sie der Hexe den Weg abschnitt. Sie hob den Arm, höchstwahrscheinlich, um die Hexe abzuwehren, aber das hier war eine Kyvich, und für die Kyvich war die kleine Rhi nichts weiter als eine der Nolwenn-Hexen. Ihre meistgehassten Feindinnen.
Rhi hatte die Hexe noch nicht einmal berührt, da packte die Kyvich sie am Arm und drehte ihn um. Talan und seine Schwester schauten sich quer über das Gelände an, aber keiner von ihnen rührte sich, um einzugreifen. Allerdings war Talan viel netter als seine Schwester und meinte: »Ich würde das nicht tun, wenn ich du wäre, Odda.«
Es überraschte nicht, dass die Hexe ihn ignorierte. Sie hatte ihn nie gemocht. Eigentlich keine von ihnen. Sie waren nur an seiner Schwester interessiert. Für die Kyvich war sie die wahre Macht. Aber ihre enge Weltsicht, was die drei anging, war ihr größter Feind.
Wie jetzt in diesem Augenblick.
Talaith stieg vom Pferd ihrer Tochter; Izzy folgte ihr auf dem Fuß. Sie gab dem Pferd einen Klaps auf das Hinterteil und schickte es allein in Richtung Ställe.
Mit einem raschen Blick auf den Übungsplatz konnte Talaith mühelos erkennen, was los war. Doch als sie näher kam, wusste sie, dass es schon zu spät war. Sie war zu spät gekommen. Sie packte ihre ältere Tochter am Arm, bevor sie hinlaufen und tun konnte, was sie immer tat, wenn es um ihre Schwester ging: sie beschützen.
»Mum?«, fragte Izzy.
Sie hatte keine Zeit, also schrie Talaith: »Éibhear! Hol sie!«
»Mum!«
»Hol sie!«
Ein blauer Schwanz mit einer geschärften Spitze wie Stahl kam herab, wickelte sich um die Taille ihrer Tochter und riss sie in die Luft. Talaith rannte ein paar Meter und landete vor der beinahe ohnmächtigen Annwyl im Schmutz. Sie hob die Hände, einen mächtigen Zauber auf den Lippen – und eine Sekunde später explodierte alles um sie herum.
Dagmar eilte auf die Tür des Bankettsaals zu; neben ihr Frederik. Sie sah Morfyd die Treppe herunterkommen und machte ihr ein Zeichen.
»Du kommst am besten mit, Morfyd. Wir brauchen dich vielleicht …«
Da legten sich Morfyds Arme um Dagmar und Frederik, und sie riss sie beide zurück, während ein eiliger Zauber die schwere Holzflügeltür zuknallte. Sie trafen auf dem Boden auf, als plötzlich die Erde unter ihnen bebte.
Dagmar hielt sich schützend die Arme über den Kopf, während Waffen und Wandteppiche, die an den Wänden gehangen hatten, herunterfielen, der lange Tisch, an dem sie fast jeden Tag aßen, sich von selbst mehrere Meter zur Seite bewegte und die Stühle umfielen.
Und genauso schnell, wie es angefangen hatte … hörte es wieder auf.
Damar hob den Kopf; sie war froh, dass ihre Augengläser dieses neue … Problem überlebt hatten.
»Was zur Schlachtenscheiße war das denn?«, fragte sie.
Morfyd half Frederik, sich aufzusetzen und nahm sich einen Augenblick Zeit, um ihn nach Verletzungen abzusuchen, bevor sie sagte: »Rhi.«
Kaum war Izzy von ihrer Mutter weggezerrt, in die Luft gehoben und auf Éibhears Rücken fallen gelassen worden, als er auch schon brüllte: »Runter!«
Sie hielt sich an seinen Haaren fest und duckte sich zwischen seine Schulterblätter. Im nächsten Moment drehten sie sich und wirbelten durch die Luft, bis Izzy sich fragte, ob sie die Wolken berühren konnte, wenn sie die Hand ausstreckte.
Es schien ewig zu dauern, bis Éibhear die Kontrolle wiedererlangt hatte, aber wahrscheinlich war es nicht einmal eine Minute. Als er sich schließlich ausgerichtet hatte und schweben konnte, hob Izzy den Kopf und fragte: »Was bei den Höllen ist hier los?«
»Ich weiß es nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es wirklich nicht.«
Izzy beugte sich ein winziges bisschen nach vorn, sodass sie um Éibhear herumschauen konnte. Da wurde ihr bewusst, wie weit der Boden entfernt war. Sooft Izzy schon auf dem Rücken eines Drachen geritten war – so hoch war sie noch nie geflogen.
»Rhi«, sagte sie leise.
»Was?«
»Das war Rhi.«
»Das ist unmöglich«, widersprach Éibhear, wobei er den Kopf so weit drehte, dass er sie sehen konnte. »Sie ist nur ein kleines …«
Sie schauten sich lange in die Augen, bis Izzy befahl: »Bring mich da runter! Sofort!«
Éibhear vollführte eine Drehung. »Halt dich fest!« Dann raste er auf die Erde zu.
Auch Éibhear wollte wissen, was bei den mächtigen Höllen vor sich ging, aber seine Neugier würde warten müssen. Seine Hauptsorge war, seine kleine Nichte in Sicherheit zu bringen.
Er hatte von ihrer Geburt an gewusst, dass Rhi mächtig war. Magie floss durch sie wie Wasser in einem Fluss. Selbst er konnte es sehen, obwohl seine Begabungen nicht in der Welt der Magie lagen. Doch bisher war ihm nicht klar gewesen, wie mächtig das Mädchen wirklich war und warum seine Sippe so besorgt war.
Es war jedoch nicht ihre mangelnde Kontrolle, die ihnen Sorgen bereitete – es war die Tatsache, dass andere diese Macht für sich selbst nutzen oder sie zerstören wollten. Und das machte seine kleine Nichte sehr angreifbar, anders als ihre Cousins, die keinen Tag in ihrem Leben verwundbar gewesen waren.
Als Éibhear sich dem Boden näherte, spürte er, wie Izzy auf seinem Rücken aufstand.
»Bring Rhi hier weg!«, schrie sie über das Rauschen des Windes hinweg. »Such mein Haus! Wir treffen uns dort!«
»Und was willst du – Izzy!«
Doch es war zu spät. Diese verrückte Frau rannte über seinen Kopf und sprang von seiner Schnauze wie von einer Klippe ins Meer. Er versuchte, sie aufzufangen, aber sie wirbelte an ihm vorbei und landete auf Brannie, die unter ihm aufgetaucht war. Sie hielt sich an Brannies Mähne fest, bis Brannie ein bisschen tiefer sank; dann ließ sie los.
Mit einem Seufzen – und weil er plötzlich verstand, warum Talaith sich ständig Sorgen um ihre Tochter machte – tauchte Éibhear tiefer. Er sah, wie Rhi nur dastand. Er wusste, selbst wenn er ihr zurief, sie solle weglaufen, würde sie weiter dort stehen bleiben. Unfähig, sich zu rühren. Unfähig zu funktionieren.
Geduckt und mit gezogenem Schwert landete Izzy vor Rhi. Nachdem sie tief Luft geholt hatte, richtete sie sich auf, und ihre Mutter stellte sich an ihre Seite.
Éibhear wusste, dass Izzy und Talaith selbst auf sich aufpassen konnten, deshalb tat er, was er gerade mit Izzy getan hatte: Mithilfe seines Schwanzes hob er seine Nichte in die Luft und riss sie aus dieser immer gefährlicher werdenden Situation.
Er wusste, es würde gefährlich werden, denn Annwyl die Blutrünstige hatte sich soeben vom Boden aufgerappelt, während Morfyd die Weiße und die Nordlandbestie aus dem Bankettsaal kamen und auf das Übungsgelände zusteuerten.
Aye … das wurde allerdings gefährlich.