Neue Zürcher Zeitung
Finnische Burleske
Arto Paasilinnas neuer Roman
International bekannt wurde Arto Paasilinna, der 1942 geborene Finne, durch den Roman «Das Jahr des Hasen» (deutsch 1993): Ein Journalist, der genug hat von der Lohnschreiberei, steigt aus und entflieht der Zivilisation. Vom Schicksal eines Einzelgängers handelt auch Paasilinnas Roman «Der heulende Müller», der in den frühen fünfziger Jahren im Norden Finnlands spielt.
Dort taucht eines Tages ein Fremder auf, der sich Gunnar Huttunen nennt. Er meldet sich nicht, wie es die Wandersleute aus dem Süden gewöhnlich tun, zur Saisonarbeit, nein, Huttunen erwirbt die alte Mühle. «Der Kauf wurde für unsinnig gehalten, denn die Mühle war seit den dreissiger Jahren ausser Betrieb und bereits sehr verfallen.» Den Zweiflern und Spöttern zum Trotz bringt Huttunen die Mühle aber wieder in Schuss. Die Dörfler staunen. Huttunen ist nicht nur tüchtig und bärenstark, er ist auch impulsiv und leicht erregbar. Wenn er sich ungerecht behandelt fühlt, dann setzt er sich vehement und mit ungewöhnlichen Mitteln zur Wehr. So versenkt er die Waage des Dorfkaufmanns im Ziehbrunnen. Huttunen hat gute Zeiten und schlimme Zeiten. Er ist ausgelassen, unterbricht ohne ersichtlichen Grund die Arbeit und starrt in die Ferne. «Seine dunklen Augen quollen qualvoll über, sein Blick war stechend und gleichzeitig traurig.»
Der Mann sei «ein manisch-depressiver Irrer», befindet der Dorfarzt. Der Bedauernswerte wird in eine Nervenklinik verfrachtet. Die Frage, ob Huttunen tatsächlich «ein Irrer» ist, beantwortet der Roman nicht eindeutig. Die Psychiater, denen Huttunen begegnet, wirken nicht allzu vertrauenerweckend, und der Roman entwickelt sich denn auch zu einem munteren Stück Psychiatriekritik. In der Klinik gefällt es Huttunen ganz und gar nicht. «Das Patientenzimmer wurde täglich von einer mürrischen Frau aufgewischt, die die eingefleischte Gewohnheit hatte, die Bewohner nach Strich und Faden zu beschimpfen. Sie nannte die Kranken faul und nichtsnutzig, bezeichnete sie als Schmutzfinken. Zu Huttunen sagte sie wütend: ‹So ein grosser Kerl, und hat nichts Besseres zu tun, als verrückt zu werden!›»
Huttunen gelingt die Flucht. «Hätte er ein schmerzendes Geschwür in der Brust gehabt, so dachte er bei sich, dann hätte man ihn in Ruhe gelassen, man hätte ihn bedauert, ihm geholfen, ihn umsorgt. Aber dass sein Gemüt anders war, wurde nicht geduldet, sondern man verstiess ihn aus der menschlichen Gemeinschaft.» Huttunen versteckt sich in der Wildnis der Wälder, wo er nun Abenteuer auf Abenteuer erlebt.
In Aleksis Kivis Roman «Die sieben Brüder» (1870), einem grundlegenden Text der finnischen Literatur, ziehen die der Zivilisation entflohenen Titelhelden jahrelang durch die Wälder, um aber am Schluss den Weg in die Gemeinschaft zu finden. Im Falle Huttunens ist eine Reintegration nicht möglich. Zwischen ihm, dem Verfemten und Einsamen, dem Aussenseiter, und den Dörflern steigert sich die Auseinandersetzung zu einem Duell auf Leben und Tod. Paasilinna schreibt pointiert und in flottem Tempo. Die Qualität des Textes gründet nicht zuletzt in der Spannung zwischen dem tiefernsten, ja traurigen Kern der Geschichte und ihrer burlesken Verarbeitung.
Aldo Keel
Kurzbeschreibung
In einem kleinen Dorf im Norden Finnlands taucht Anfang der fünfziger Jahre ein sonderbarer Mensch namens Huttunen auf, der die seit langem unbenutzte Mühle des Dorfes kauft und wieder in Betrieb setzt. Zunächst nimmt man ihn wohlwollend auf, aber bald stellt sich heraus, dass er mit einem Makel behaftet ist: er verfällt bisweilen in tiefe Traurigkeit, und bei Widrigkeiten aller Art flüchtet er in die Wälder und heult wie ein Wolf den Mond an. Die Dorfbewohner, um ihren Schlaf gebracht, beginnen den Müller zu hassen und verfallen schließlich auf die Idee, ihn ins Irrenhaus einweisen zu lassen. Huttunen kann in die Wälder fliehen. Mit seinen nun folgenden nächtlichen Ausfällen in das Dorf bringt er die Einwohner erst recht gegen sich auf: die Treibjagd auf den heulenden Müller beginnt ...