Unsere Nachbarn
Einmal verschlug mich das Schicksal nach Alt-Moabit. Ich hatte dort eine Lesung in einer Buchhandlung. Während der Lesung hörte man von draußen Polizeisirenen, Schreie und anderen Lärm, den man sonst eigentlich nur von Hollywoodfilmen kennt. Später erzählte mir der Buchhändler, während meiner Lesung sei der »Penny Markt« in dem Haus nebenan ausgeraubt worden und ein Fluchtwagen habe außerdem das Gebäude des Amtsgerichtes gerammt. »Das ist typisch für unsere Gegend«, meinte er. Wir standen draußen vor dem Geschäft und rauchten. Ich unterhielt mich mit einigen Gästen, die etwas zu spät zu der Lesung gekommen waren und deswegen nicht mehr hineingedurft hatten, weil die Polizei die Straße abgesperrt hatte. Nicht wegen der »Penny Markt«-Räuber, sondern weil in dem Schulhof der Realschule zwei Häuser weiter ein Schüler einen anderen abknallte. Ich war von der Kriminalität in Alt-Moabit schwer beeindruckt.
»Das ist ja richtig Wilder Westen hier«, meinte ich. »Bei uns im Prenzlauer Berg ist nichts dergleichen zu sehen. Da haut höchstens einer aus Liebeskummer mit dem Baseballschläger ein paar Schaufenster kaputt. Und in der Presse wird dabei ständig behauptet, die Kriminalität schleicht aus dem Osten heran.«
»Kommt darauf an«, meinten die Alt-Moabiter zu mir. »Drogenmafia und Raubdelikte sind eher eine westdeutsche Angelegenheit. Dafür kommen aber die Kinderficker alle aus dem Osten.« Draußen knallte es schon wieder.
Nach dem drittem Anlauf gelang es mir ein Taxi zu stoppen und nach Hause zu fahren. Dort wartete schon Besuch. Unsere Nachbarn Carsten und Susanne waren gerade dabei, neue Geschichten aus ihrem Arbeitsleben zu erzählen. Die beiden haben so interessante Jobs, dass ich nicht müde werde, ihre Geschichten anzuhören. Susanne ist Krankenschwester in einer Reha-Klinik und erzählt uns immer wieder von ihren Nachtschichten. Der kleine blinde Zwerg hatte letztens eine neue Niere bekommen von einem Mann, der 200 Kilo wog. Jetzt ist der Zwerg, der sein ganzes Leben lang im Krankenhaus verbracht hat, unglaublich aktiv geworden. Er hat sich richtig in seine neue Niere verliebt; er will alles über sie wissen und terrorisiert das Personal mit Fragen, wie sie denn wohl aussehe. Alle haben seine Niere gesehen, nur er nicht – weil blind. Manchmal redet er auch mit seiner Niere und nennt sie jedes Mal bei einem neuen Namen. Der Zwerg gehört zu Susannes Lieblingspatienten. Sie muss aufpassen, dass er auch weiter so fröhlich bleibt.
Neben dem Zwerg liegt eine andere Patientin von Susanne, eine alte Frau die alle Geräte im Zimmer nachpiepst. Außerdem versucht sie den Zwerg immer anzufassen, wenn er im Krankenzimmer herumrennt. Die ganze Zeit hat Susanne einen Defibrilator auf dem Rücken. Wenn ihr Reha-Pieper piept, heißt das, jemand im Krankenhaus ist gerade dabei, den Geist aufzugeben. Dann muss Susanne mit dem Defibrilator losziehen.
Auch Carsten hat einen tollen Arbeitsplatz. Er arbeitet in Neukölln im »Haus des älteren Bürgers« und ist dort für die Inkontinenten-Singgruppe zuständig. Jede Woche versammelt sich diese Gruppe in dem großen Saal des Hauses, um ein Kartoffellied zu singen. Carstens Aufgabe ist es, die Stühle für die Gruppe aufzustellen. Außerdem soll er jede Woche eine neue Strophe zum Kartoffellied dazu reimen. Am Wochenende macht Carsten Hausbesuche. Er hilft den alten Leuten, die ihre Rente irgendwo in ihrer Wohnung versteckt haben und dann nicht mehr finden können, wieder an das Geld zu kommen. Darin ist Carsten ein richtiger Profi geworden und kann mit geschlossenen Augen in jeder fremden Wohnung Geld finden. Nur in seiner eigenen kann er das nicht, weil sowohl seine Arbeit als auch die von Susanne so schlecht bezahlt werden.
Carsten studiert zur Zeit Leibniz, besonders interessiert ihn die berühmte Monadenlehre. Auch an diesem Tag war er ganz voll davon. »Wir bestehen alle nur aus Monaden und die ganze Welt um uns sowieso«, meinte er bestürzt. Wir tranken Tee, und ich versuchte Carsten zu beruhigen. »Das Leben lässt sich in keine Theorien packen. Ich bin zum Beispiel stolz, eine Monade zu sein. Ja warum eigentlich nicht?«
Wir kuckten aus dem Fenster: Im Westen verschmolz eine runde, knallrote Monade mit dem Horizont, im Osten hing eine andere, gelb und wie mit Tinte befleckt. Es war still im Haus. Ich schaltete das Radio ein. »Sie hörten ein Monadenkonzert von Brahms«, verkündete plötzlich eine süßliche Stimme aus dem Lautsprecher. Es dämmerte.