Multihaus

Die allein stehende Frau mit dem schwarzen Pudel, die Zigeunerröcke trug und lange dünne Zigaretten rauchte, ist ausgezogen. Kein Theater mehr im Treppenhaus. Jedes Mal, wenn wir uns zufällig dort begegnet waren, hatte sie mir so geheimnisvoll zugelächelt, als ob wir eine Affäre miteinander hätten. Doch genauso hatte sie auch die Vietnamesen aus dem Gemüseladen angeschaut, wenn sie im Erdgeschoss einkaufen ging. Diesen so genannten »Orgasmusblick« hatte ich oft bei Theaterleuten beobachtet. Nun ist die Frau weg.

Zweimal musste der Lkw hin- und herfahren. Übrig blieb eine von ihrem Pudel zum Teil zerfetzte tropische Pflanze in einem Tontopf, ein altes Poster mit einem mir gänzlich unbekannten Musiker in einer unmöglichen Pose, eine Chromnickelstahl-Stehlampe mit einem gelben Plastikschirm und eine Pappkiste mit Küchengeschirr. Das alles stand als eine Art Installation zum Thema »Großstadtmüll« im Hinterhof unseres Hauses und ließ mich jedes Mal an solch unangenehme Dinge wie Verfall, Verwüstung, Leiden und Tod denken.

In die leere Wohnung zogen sofort die Vietnamesen ein. Sie expandierten. Die Familie aus dem Gemüseladen hatte schon immer eine Wohnung direkt über uns gehabt. Die Besitzer des Textilgeschäfts im Haus nebenan, die mit dem lustigen Spruch »Textilien: billig und günstig« warben, wohnten nun direkt unter uns.

Ich kenne sie bereits. Früher saßen sie ständig auf drei Stühlen vor ihrem Geschäft, tranken Tee und taten nicht einmal so, als ob sie die sechshundert Badelatschen in der Auslage wirklich verkaufen wollten. Von den zwölf Wohnungen in unserem Haus sind nur noch vier an Deutsche vermietet: Da ist der dicke alte Mann im ersten Stock, der jeden Tag an der Haltestelle vor dem Haus sitzt und scheinbar auf die Straßenbahn wartet, aber niemals wegfährt. Dann die Motorradfrau, eine sportliche Dame, die ihr Motorrad mit in die Wohnung nimmt. Außerdem die ganz alte Mieterin neben uns, die uns für Bulgaren hält, und jedes Mal mit mir über Sofia reden will, obwohl ich ihr schon mehrmals gesagt habe, dass ich dort noch nie gewesen bin. Und dann ganz oben im Dachgeschoss ein Mann ohne Alter, mit dem Gesicht eines Massenmörders und einer kolumbianischen Frau. Zwei Wohnungen haben die Asiaten: Das sind die Badelatschenvietnamesen und die Gemüseladenvietnamesen. Dazu gibt es noch die Russen, eine islamische Gruppensexfamilie im oberen Stock und die Latino-WG.

Was unser Haus von den anderen unterscheidet, ist sein ganz besonderer Geruch. Ich würde sogar behaupten, es ist ein einmaliger Geruch. Am besten kann man ihn so gegen drei Uhr riechen. Wenn die Vietnamesen von oben und die von unten anfangen, ihren angefaulten Fisch zu frittieren, die alte Dame von nebenan ihre Kohlsuppe auf den Herd stellt, die Türken ihre Lammbrocken braten und die Latinos mit »Guantanamera« für die musikalische Begleitung des Mittagessens im Haus sorgen.

Neulich bekam ich einen Anruf von der »Abendschau«, und ein Journalist erkundigte sich höflich, ob er mit einem kleinen Fernsehteam bei mir zu Hause vorbeischauen dürfte: »Wir brauchen dringend für morgen irgendetwas zum Thema ‘Russen in Berlin’.«

»Was ist denn passiert?«, fragte ich.

»Na ja, der russische Präsident kommt nach Deutschland, und überhaupt... Wir kommen um drei und verschwinden wieder um vier.«

Schnell und schmerzlos sollte es sein, versprach mir der Journalist. Ich bin inzwischen schon fast ein Profi auf diesem Gebiet geworden und kann sogar im Schlaf eine klare Einschätzung zum Thema »Russen in Berlin« abgeben. Das Fernsehteam kam um drei – genau rechtzeitig zum Mittagessen. Der Kameramann wurde sofort aschgrau im Gesicht und musste sich die ganze Zeit ein Taschentuch vor die Nase halten. Der Journalist war mutig.

»Haben Sie eine Leiche in der Wohnung?«, fragte er mich.

»Nein«, antwortete ich, »so riecht unser Haus mittags immer.«

»Und woher kommt das?«

»Das ist Multikulti!«, sagte ich verlegen.

»Hochinteressant«, röchelte der Journalist.