Integration auf der Schönhauser Allee
Die Integration in eine fremde Kultur ist ohne Sprachkenntnisse nicht möglich, das weiß jedes Kind. Sogar mein Kind weiß es, obwohl es erst zehn Monate alt ist. Neulich zerrte es bereits ein dickes russisch-deutsches Wörterbuch aus dem Bücherregal, schlug es unter großen Anstrengungen auf, riss fünf Seiten heraus und stopfte sie sich in den Mund. Warum hat das Kind ausgerechnet ein deutsches Wörterbuch gefressen aus einem Regal, in dem hunderte russischer Bücher nebeneinander standen? Auf diese Weise lernt das Kind Deutsch, vermute ich. Intuitiv fühlt der kleine Mann, was ihm für seine Zukunft nützlich sein wird. Auch meine dreijährige Tochter Nicole trainiert ständig ihre Aussprache. Sie kann bisher nur einen Satz auf Deutsch, den aber perfekt: »Wie heißt du?« Jedes Mal, wenn mein Kollege Helmut Höge zu uns kommt, rennt sie zur Tür, um ihn »Wie heißt du, Helmut?« zu fragen.
Für viele Phänomene, die in Berlin zu unserem Alltag gehören, gibt es auf Russisch schlicht keine Begriffe. Deswegen haben sich inzwischen solche deutschen Wörter wie »Gerichtsvollzieher«, »Terminkalender« und »Überweisungsauftrag« fest in unserem Russisch etabliert.
Meine Frau lernte Deutsch in einer brasilianischen Kneipe in der Sredzkistraße, wo sie als Tresenkraft ihre erste Anstellung bekommen hatte. Die ersten Wörter, die sie dort lernte, waren »Wichser« und »Alles Banane«. Mit einem Wort: typische Kneipenausdrücke. Inzwischen beherrscht sie sogar die feinen Nuancen der Sprache und sagt niemals wie früher »Haarbrüste« sondern richtig »Haarbürste«. Auch ich arbeite ständig an der Verbesserung meiner Sprachkenntnisse. Ich esse keine Wörterbücher, das habe ich nicht nötig, aber ich versuche immer wieder, den so genannten Wortmüll aus meiner Sprache zu streichen. Ich habe Deutsch auch nicht an der Uni, sondern mehr auf der Straße und vor dem Fernseher gelernt und muss deswegen tierisch aufpassen. Damals hatte ich noch keinen Kabelanschluss und konnte nur die seriösen Programme empfangen, in denen oft politische Diskussionen übertragen wurden. Das hat in gewisser Weise meine Sprachkenntnisse geprägt. Doch langsam befreie ich meine Sprache von diesem Müll. »Von der Sache her«, ist schon längst weg, ebenso »ich persönlich bin der Meinung«. Mit »sozusagen« werde ich auch noch fertig, weil meine Frau das Wort entsetzlich findet und mich immer wieder darauf aufmerksam macht.
Ich persönlich halte den Ausdruck »Ich muss nicht erst betonen« für den schlimmsten. Erst einmal finde ich das Wort »betonen« ekelhaft. Zweitens ist diese Redewendung sehr widersprüchlich. Wenn man etwas »betonen« muss, dann betont man es eben, oder man lässt ganz einfach die Finger davon. Aber irgendetwas zu beschreiben, was man mit Absicht nicht tun würde, weil man es überflüssig findet, ist grober Unsinn. Ich muss nicht betonen, wie oft ich diese blöde Redewendung schon im Fernsehen gehört habe. Und irgendwann hat es mich angesteckt. Das ist wie mit dem Rauchen – anzufangen ist ganz leicht, aufhören kostet Mühe. Ich muss nicht betonen, wie stark solche Sprüche meine Integration beeinflussen. Aber von der Sache her sind in der letzten Zeit in unserer Kleinfamilie große Fortschritte auf diesem Gebiet nicht zu übersehen, und einen Kabelanschluss haben wir, wie erwähnt, auch bereits. Ich muss also nicht extra betonen, dass Integration für uns kein Wortmüll ist.