Wir und andere Musikanten
Jeder Mensch ist Musiker, jeder Tag unseres Lebens – ein Konzert. Die Karten werden umsonst verteilt, der Eintritt ist frei. Vom Geburtshaus bis zum Friedhof wird man von der Musik begleitet, Tag und Nacht, bei der Arbeit und zu Hause. Selbst wenn man den kassenärztlichen Notdienst anruft, muss man sich zuerst eine halbe Stunde lang Mozarts »Kleine Nachtmusik« anhören –»daaa, da, daaa, da, da, da, da, da, daaa... bitte legen Sie nicht auf... daaa, da, daaa... Sie werden gleich verbunden...«
Auch meine Familie ist eine ganz normale Kelly Family: alles Musikanten, ohne Ausnahme. Meine Frau hat zehn Jahre lang Klavier studiert, ich spiele oft abends in der Küche Gitarre. Unser Sohn Sebastian hat zu seinem ersten Geburtstag von einem netten Nachbarn eine Trommel geschenkt gekommen, und unsere Tochter Nicole besitzt eine Blockflöte, die sie im Kindergarten bei einer Schlacht erobert hat. Aber viel lieber trommelt sie auf den Kopf ihres Bruders, wenn der ihre Flöte unserer Katze Martha in den Hintern zu schieben versucht. Die Katze spielt auch gern Musik, indem sie auf meiner Gitarre rumspringt.
Doch wir sind nur Hobbymusiker, deswegen herrscht bei uns in der Wohnung nach 23.00 Uhr absolute Stille. Dann kann man nur noch die Nachbarn hören, wie sie sich mit ihrer Musik abquälen. Der Junge aus dem dritten Stock versucht seit einem halben Jahr auf seinem Saxofon »El Condor Pasa« zu intonieren. Die dicke Dame aus dem Seitenflügel, deren Küchenfenster unserem direkt gegenüber liegt, schreit jeden Abend auf Italienisch. Ich toleriere inzwischen ihr merkwürdig lautes Verhalten und kann ohne nicht mehr einschlafen. Anfangs dachte ich, es ginge ihr nicht gut, wenn ich sie so schreien hörte. Jetzt weiß ich aber, sie arbeitet in der Oper, es geht ihr gut – sie übt.
Doch die wahren Lautkünstler sind für mich die Straßenmusiker. Es gibt sie in jeder Stadt der Welt. In Berlin, Moskau und Paris beglücken sie im Stehen, Sitzen oder Liegen das herumlaufende Volk mit ihrer Musik. Unter den Straßenmusikanten gibt es verschiedene Gattungen. Besonders faszinieren mich die so genannten »Kratzer«, das sind Musiker, die nur eine einzige Melodie können, dafür aber in- und auswendig. Diese seltene Gattung sieht man heutzutage nicht mehr oft, die Straßen werden zunehmend von Absolventen des Konservatoriums und arbeitslosen Orchestermusikern erobert. Umso mehr weiß ich die Kratzer zu schätzen. In Moskau war es ein kahlköpfiger alter Mann, der jede Woche vor dem Eingang der einzigen öffentlichen Toilette in der Nähe des Roten Platzes stand und auf einer vibrierenden Handsäge den »Donauwalzer« spielte. Ganze Touristengruppen blieben ergriffen stehen.
In Berlin ist es der verlorene Anden-Indianerstamm vom Alexanderplatz mit dem Hit »Guantanamera«, den sie dort vor dem Kaufhof seit Jahren einüben. Die Indianer haben im Laufe der Zeit eine seltene Perfektion erreicht, sie können das Lied auf allen Instrumenten, mit Händen und Füßen spielen, sie können es pfeifen, furzen, rülpsen und klatschen, immer und immer wieder. Der Alexanderplatz ist inzwischen ohne diesen verlorenen Stamm undenkbar. Sollten die Indianer irgendwann einmal weiterziehen, dann wird auch der »Kaufhof« schließen und weiterziehen müssen.
Zu den Anhängern der »One-Song-Music« gehört auch der afrodeutsche Schlagzeuger vor dem Zoo, den dort alle »Kraftwerk« nennen, wahrscheinlich wegen der auffallenden Kraft seines Intellektes. Er veranstaltet regelmäßig Konzerte vor dem Erotikmuseum. Dann sitzt »Kraftwerk« mit geschlossenen Augen auf einem Hocker und haut voller Energie auf zahlreiche leere und halb leere Büchsen und Flaschen ein. Doch anders als die anderen verrät er seine Lebensmelodie nicht, er hält sie geheim. Mit etwas Anstrengung kann jeder seine eigene Lieblingsmelodie in dieser Musik erkennen. Letztens, als ich diesen Musiker wieder bei der Arbeit sah, schien mir, als spielte er »Die Apfelblüte«, unser Armeelied. Doch mein Freund Juri behauptete, er spiele »Satisfaction«, es wäre schon immer »Satisfaction« gewesen, ich hätte es nur einfach nicht erkannt.