Das Wetter auf der Schönhauser Allee

In Moskau lebte ich auf der Akademiker-Pawlow-Straße, benannt nach dem berühmten Verhaltensforscher und Hundeliebhaber. Es war nach Moskauer Standard eine relativ kleine Straße – ungefähr zehn Kilometer lang. Es gab dort eine grüne und eine weiße Grundschule, ein gelbes Irrenhaus, ein Studentenwohnheim des Medizinischen Instituts, einen mittelgroßen Wald, ein Kino namens »Brest«, ein Krankenhaus, ein Krematorium und den Parkplatz einer Kooperative mit einem einzigen Auto darauf; dem alten Wolga unseres Nachbarn Onkel Andrej. Außerdem befanden sich noch drei Einkaufsläden in unserer Straße: ein riesengroßes Geschäft namens »Fäden«, dann die stinkenden »Gaben des Meeres« und der Pavillon »Getränke«, vor dem sich schon morgens um halb acht eine Menge durstiger Männer und Frauen drängelte. Damals fand ich das Geschäft »Fäden« total abgefahren, weil es dort außer lauter verschiedenen Fäden nichts gab. Ich war sogar ein wenig stolz, in der Nähe eines solchen Unsinns zu wohnen und erzählte immer gerne davon – bis ich Jahre später in Wolgograd ein drei Stockwerke hohes Kaufhaus namens »Streichhölzer« entdeckte.

Als Kind ging ich zur grünen Schule. Ich musste acht Jahre lang täglich am »Getränke«-Pavillon vorbei, und dann noch durch den Wald, den die »Getränke«-Stammgäste zu ihrer Kneipe gemacht hatten. Auf dem Weg zur Schule habe ich damals mehr gelernt als in der Schule selbst. Die Akademiker-Pawlow-Straße war eine relativ ruhige Gegend, die Kinder spielten immer draußen. Die Eltern brauchten keine Angst zu haben, dass ihre Brut unter die Räder kam. Für den Autoverkehr war die Straße ungeeignet; es konnte nämlich immer nur ein Wagen den Akademiker-Pawlow entlangfahren – kam ihm ein zweiter entgegen, krachte es. Weit und breit gab es keine bissigen Hunde, dafür aber eine Unmenge hungriger Katzen, die sich vor den »Gaben des Meeres« versammelten. Im Wald konnte man für dreißig Kopeken ein Glas Portwein unter den Bäumen erwerben. Egal, ob Winter oder Sommer, die Akademiker-Pawlow-Straße sah immer gleich aus, man hatte das Gefühl, die Zeit sei hier stehen geblieben. Die jammernden Katzen, die Waldsäufer, der alte kaputte Wolga auf dem Parkplatz, so ist sie in meiner Erinnerung geblieben.

Ganz anders meine jetzige Wahlheimat nun, die Schönhauser Allee. Sie verändert sich alle zwei Stunden, und ist total von der Außentemperatur abhängig. Steigt die Temperatur, geht sofort ein Hollywoodfilm los: Rote Kabrios mit stolzen Strafzetteln an den Windschutzscheiben rollen aus ihren geheimen Verstecken an, halb angezogene langbeinige Models zeigen dem Publikum die neuesten Trends der Saison. Die jungen Skateboarder durchbohren in bunten T-Shirts die Menschenmassen. Freundliche Außendienstler verteilen vor den »Schönhauser Arcaden« lustige Luftballons, frische Zeitungen und manchmal sogar Zigaretten – alles umsonst. Das Minimumprogramm fürs Paradies, das mein Freund Juri einmal entwickelt hat – jedem Kind ein Eis, jeder Frau eine Blume, jedem Mann ein Bier –, scheint hier endlich zu funktionieren.

Doch diese feierliche Stimmung ist nicht von Dauer. Kaum ziehen Wolken auf, verändert sich die Allee. Die roten Kabrios verschwinden von der Bildfläche, die schönen Models lösen sich in Luft auf, die Außendienstler und die Skateboardfahrer flüchten.

Blitzschnell verwandelt sich die ausgelassene Menschenmenge auf der Schönhauser Allee in einen Haufen frustrierter Langzeitarbeitsloser mit »Plus«-Tüten in der Hand. In nassen Jeans hocken die Obdachlosen unter den Markisen der Läden. Die Straßenkids hängen an einer überfüllten Mülltonne herum. Sie haben nicht genug Geld fürs Kino und wissen nicht, wohin mit sich. Sie wirken niedergeschlagen. Der Regen wischt die bunten Farben von den Fassaden, die Häuser werden wieder grau, die Wände faltig und alt. Die Straße leert sich, selbst die Autos fahren auf einmal schneller. Nur der gelbe Lieferwagen mit der Aufschrift »Kurier Express«, der seit über einem Jahr an der Ecke Schönhauser Allee und Kuglerstraße steht, rührt sich auch weiterhin nicht von der Stelle.

»Was denkst du, wo all die roten Kabrios von der Schönhauser Allee sind, wenn es hier kalt und regnerisch wird?«, fragte ich einmal meinen Nachbarn, Peter, der als Taxifahrer sein Geld verdient und sich im Verkehr gut auskennt.

»Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen?«, murmelte er und ging weiter.