Bücher aus dem Mülleimer
Je größer eine Familie ist, desto mehr Abfall produziert sie. Als meine Frau Olga unser zweites Kind zur Welt brachte, mussten wir von den haushaltsüblichen 20-Liter-Müllsäcken auf die riesengroßen 50-Liter-Monster umsteigen. Doch selbst die bekamen wir immer schnell mit allem möglichen Zeug voll.
Gewöhnlich renne ich abends, wenn es dunkel wird, fünf Treppen runter auf den Hof, wo unsere Müllcontainer stehen. Oft komme ich zu spät: Alle Container sind bereits voll. Alle Großstädter sind mehr oder weniger professionelle Müller. Es gehört einfach dazu. Letztens war der Container mit lauter Büchern überfüllt. Eine halbe Hausbibliothek lag da drin. Bestimmt ist wieder einer aus dem Haus weggezogen, dachte ich. Aus Neugier kippte ich den Container um. Ich wollte erforschen, von welchem Kulturgut sich der zeitgenössische Leser zu Beginn des neuen Jahrtausends verabschiedete. Die so genannte Politliteratur, die zirka ein Drittel des Bestands der Mülleimerbibliothek ausmachte, packte ich gleich wieder in den Container zurück. Beiträge zur marxistischen Literaturtheorie in der DDR vom Leipziger Reclam Verlag, Lenins Staat und Revolution, Stilistische Grundtendenzen zu Lenins Sprache aus dem Verlag Volk und Welt, Berlin 1970. Zu frisch sind noch die Erinnerungen an die Zeiten, die mit solchen Werken verbunden waren. Es müssen erst noch ein paar Generationswechsel stattfinden, ehe man ohne Verdruss und Vorurteile eines dieser Bücher wieder in die Hand nehmen kann. Die heute nicht mehr aktuellen, plump wirkenden Sach- und Aufklärungsbücher, wie Hans Grottes Woher die kleinen Kinder kommen, ein Ullstein-Ratgeber mit vielen Skizzen und Zeichnungen, erweckten auch keine Habgier in mir. Diese Problematik gehörte der Vergangenheit an. Für mich als Vater war es viel interessanter zu erfahren, wo die kleinen Kinder hingehen, wenn sie größer geworden sind und sich womöglich nächtelang herumtreiben. Doch davon hatte der Ullstein-Ratgeber keine Ahnung. Die restlichen Bücher nahm ich mit nach Hause.
Dort untersuchte ich in Ruhe meine Mülleimerbibliothek weiter: Zwei Romane von Peter de Lorent: Die Hexenjagd: Ein Berufsverbotsroman und Bin ich Verfassungsfeind?. Der Autor und gleichzeitige Herausgeber war Redakteur der Hamburger Lehrerzeitung HLZ, hatte Berufsverbot bekommen und es auch sonst nicht leicht gehabt. Man merkt, dass damals in Hamburg tierisch was los gewesen sein muss. Dann Die Blechtrommel von Günter Grass, ein Sammelband mit Gedichten von Wolf Biermann, und von Fritz Rudolf Fries Leipzig am Herzen und die Welt dazu. Eine Weltreise. »Wir stehen am Alex und schauen nach links«, so fängt Fries' Buch an. Und es beginnt eine Weltreise zwischen Berlin-Lichtenberg und Leipzig Hauptbahnhof. Der Autor ist ein in Bilbao geborener Leipziger. Eine gemütliche kleine Welt tut sich da auf. Das Rattern der S-Bahn, der Geruch von Braunkohle und Rotkohl: Fritz aus Bilbao, wo steckst du heute?
Schach bei Vollmond von Wolfgang Ecke, 20 spannende Kriminalfälle zum Selberlösen, Band Nummer 7 einer ganzen »Ecke-Serie«. Wolfgang Ecke war der erste Jugendbuchautor, der mit dem »Goldenen Taschenbuch« ausgezeichnet wurde. Über eine Million verkaufte Exemplare. Wer kennt nicht seine Fernsehsendungen »Aufgepasst – Mitgemacht!« und »Wer knackt die Nuss?«. Das waren noch Zeiten, da hat er wirklich was bewegt. Nun liegt er im Mülleimer und riecht nach Spinat.
Das Nein in der Liebe – Abgrenzung und Hingabe in der erotischen Beziehung. Muss jeder unbedingt mal lesen. Kapitel 1: »Liebe ohne Sexualität: Verschmelzung und Widerstand«. Kapitel 2: »Das versteckte Nein zerstört die Liebe«. Ganz vorne steht eine Widmung: »Liebe Heike zum Geburtstag Herzliche Grüße Dein Jörg.« Heike, das ist bestimmt die Frau, die die Bücher weggeschmissen hat. Ich habe das Gefühl, ich kenne sie. Sie hat wahrscheinlich Literaturwissenschaft oder etwas Ähnliches in Leipzig studiert. Die ganze Zeit die Jungs angemacht und in Kneipen gesessen. Höchstwahrscheinlich haben wir sogar gemeinsame Bekannte: Sabine, die Ex-Frau von Horn, oder Gudrun, die jetzt Theater spielt. Wieso wirfst du jetzt alle Bücher weg, sogar das von Jörg? Wo willst du hin? So schnell kann man doch seine Vergangenheit nicht entsorgen. Die steckt in einem drin. Egal, wo man landet, muss man sich mit Abgrenzung und Hingabe beschäftigen.
Dann mein Landsmann Alexander Twardowski, auch von Reclam Leipzig und schon ein wenig zerfleddert. Mit dem Kriegspoem »Wassili Tjorkin«. Guter Soldat. Hübsche Strophen. Alles gereimt. Was hast du, Heike, gegen Wassili Tjorkin? Aus irgendeinem Grund hast du ihn dir doch angeschafft. Falls du deine scheinbare Erleichterung doch noch bereust, werde ich ihn für dich aufbewahren.
Im Übrigen, wenn du das hier liest: Hast du noch Das Schloss der roten Affen von Wolfgang Ecke? Den würde ich auch noch gerne haben. Und sei nicht so voreilig. Schmeiß nicht alles auf einmal über Bord.